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SCHLOSS PICHELSDORF

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"Hier bleiben wir aber für immer wohnen!“ hatte Mama dem Papa erklärt. "Bei den Hypothekenzahlungen wird uns Gott sei Dank auch gar nichts anderes übrig bleiben!"

Und Oma hatte zu Püppi gesagt: "Da kommt fließend Warmwasser aus dem Hahn in der Wand - wir sind jetzt im Westen". Das geht Püppi überprüfen. Jeden Tag warmes Wasser, das wäre was! Sie dreht im Bad beide Hähne auf: Aus dem einen kommt kaltes Wasser, aus dem anderen abgestandenes, ebenfalls kaltes. ’Das ist also warmes Wasser aus dem Hahn’ grübelt sie. Dann springt unten, in der Küche, mit einem Wumm der Gasboiler an und Papa ruft nach oben, dass sie Gas sparen müssten und heute nicht Sonnabend sei. Da könne sie dann in warmem Wasser baden. Es hatte sich also doch nichts geändert. Gebadet wurde schon in Hennigsdorf nur am Sonnabend.

Ihr Haus steht in einer kleinen Straße mit Kopfsteinpflaster. Diesmal hat es ein richtiges Ziegeldach. Der Garten ist winzig, aber dafür stehen riesengroße Tannen am Haus. Man steigt ein paar Stufen hoch und geht durch eine gewölbte Tür hinein. Gegen die Kälte schützt von innen ein dicker, grüner Filzvorhang. Vom Korridor links gehen das Esszimmer und das Wohnzimmer ab, beide durch einen Vorhang getrennt. Das Esszimmer hat grüne Seidentapete, und der Vorhang ist auf dieser Seite ebenfalls im gleichen grünen Muster. "Biedermeier" seufzt Mama selig und Püppi merkt sich diese Güteklasse. Das Wohnzimmer hat rotgemusterte Seidentapeten, und links vom Erkerfenster geht es raus auf eine kleine Terrasse. Am Ende des Korridors, gegenüber der Eingangstür, liegt die Küche mit einem Tisch in der Mitte und Einbauschränken an den Wänden und einer Speisekammer. Ihre alte Küche war viel größer. Dann gibt es noch eine Gästetoilette, den Treppenaufgang und die Kellertür.

Am Fuße der Kellertreppe ist ein fensterloser Raum mit einer Lattentür, in dem Oma Äpfel und Kartoffeln lagert. Man riecht die Äpfel schon wenn man im Flur die Kellertür öffnet. Im Laufe des Winters müssen sie immer mal wieder gedreht werden, damit sie keine Liegestellen bekommen, und trotzdem schleicht sich nach einigen Monaten zu dem Apfelduft ein Hauch Modergeruch ein. Püppi erinnert sich dann an den Geruch der eingekochten Zuckerrüben im Keller in Hennigsdorf.

Nur in der Waschküche riecht es nicht nach Äpfeln, sondern nach Waschlauge: In einem riesigen Kupferbottich wird die Wäsche gekocht, direkt über dem offenen Feuer. Von der Waschküche aus geht es hinaus in den Garten, damit die Wäsche im Freien trocknen kann.

Neben der Waschküche ist der Kohlenkeller. Oma ist die erste, die im Winter aufsteht, und jeden Morgen kann man sie beim Heizen und Kohlenschaufeln erleben, ein Tuch um den Kopf, damit sie nicht für den Rest des Tages nach Kohlenstaub riecht. Und hinterher zieht sie sich weitestgehend aus und wirft ihre Wäsche in den Bottich. Sie mag es nicht, wenn sie jemand dabei sieht, aber natürlich haben die Kinder dieses Spektakel mitbekommen. So konnten Püppi und Hans-Peter ihre Wissenslücken über Körperlichkeiten erwachsener Frauen schließen. Dabei standen sie Apfelduft umweht im Vorratsraum und spähten durch die Lattentür zur Waschküche.

Niemand muss mehr im Keller schlafen, denn es gibt im ersten Stock drei Schlafzimmer und das Bad. Im größten Zimmer schlafen Mama und Püppi, dann Hans-Peter und Oma nebenan, durch eine Tür miteinander verbunden. Papa schläft allein im kleinsten Zimmer. Es ist nur Platz für sein Bett - ein großes Eichenbett mit hohem Kopf- und Fußende, auf dem tagsüber eine Häkeldecke aus braun-orangefarbener Wolle liegt.

Die Decke war Tante Lilos Geschenk, als Papa heiratete und es Püppi noch nicht gab. Quer vor das Fenster hat er einen kahlen Baumstamm geklemmt, auf den er seine Pflanzen wachsen lässt. Mit all den Rankpflanzen sieht es aus, als wenn der Stamm noch lebte. Auf der Fensterbank stehen seine Setzlinge und auf dem Fußboden Töpfe mit eingeweichten Eierschalen zum Düngen. Die Eierschalen stinken. In Püppis und Mamas Zimmer steht ein Bücherregal quer zwischen den Betten, so dass beide ihr eigenes Reich haben. Dann gibt es noch einen großen dreigeteilten Kleiderschrank mit Spiegeltüren. Das Glas der Spiegel ist geschliffen, und wenn die Sonne scheint, bricht sich das Licht in tausend Farben.

Das schönste aber ist der Balkon vor ihrem Zimmer. Von dort aus schaut man zur Havel, und Püppi hört nachts durch die geöffneten Balkontüren das Tuten der Dampfer und Schleppkähne, wenn sie unter der Freybrücke durch an Pichelsdorf vorbeifahren. Sie kann dort früh im Sonnenschein mit ihrem Ball die "Zehnerprobe" spielen: Ball an die Hauswand, einmal in die Hände klatschen, bevor man ihn auffängt, zweimal in die Hände klatschen, dreimal klatschen und unter dem Bein durch an die Wand, in die Hände klatschen – zehn Aufgaben, die sie meist nicht alle schafft.

An den Tannen im Garten dürfen Hans-Peter und Püppi nicht mit dem Taschenmesser rumschnitzen, weil die sonst bluten, wie Papa ihnen erklärt. Die größte ist eine Douglasie mit weichen Nadeln und zwei sind Blautannen. Mama und Papa sind jetzt jede Nacht zu Hause, weil der Weg zu ihrem Geschäft am Kaiserdamm in Charlottenburg nicht mehr so weit ist.

Püppi ist schon einmal da gewesen und hat sich die Werkstatt und das Lederlager angeschaut. Onkel Rudolf arbeitet auch dort. "Dein Papa macht hier Einlagen für Leute, die schlecht laufen können". Das verstand sie, denn ihr Papa konnte ja auch schlecht laufen.

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Sie sitzen zu ihrer ersten gemeinsamen Mahlzeit im Esszimmer, an einem großen Tisch mit schweren Eichenstühlen, mit denen man nicht so gut kippeln kann. Papa und Mama jeweils am Kopfende und Oma und die beiden Kinder an den Längsseiten. Es hatte Krautklöße gegeben, Unmengen davon. Püppi hatte die Weißkohlrippen diskret beiseite geschoben. Kohl hatte sie schon in Hennigsdorf nicht gemocht. Alles Gemüse aus dem Garten war ihr zuwider gewesen. Nun gab es keinen Gemüsegarten mehr, und das Gemüse wurde in Geschäften gekauft. Aber es gab kein Entrinnen vom Kohl in allen Varianten, auch im Westen nicht.

Als Nachspeise gibt es nun Bananen. Länglich gebogene, gelbe Dinger, und Püppi hat einfach in die Schale gebissen.

Papa belehrt die Kinder über Südfrüchte: "Erst schälen, dann reinbeißen. Die Innenseite der Schale isst man auch. Auch bei Apfelsinen! Sie sind teuer genug, wir wollen nichts verschwenden."

Mama verzieht bei dem Gehörten das Gesicht, stapelt lautstark die benutzen Teller und trägt sie in die Küche. Püppi starrt die geschälte Banane an: "Und diese braune Stelle hier? Die ist ganz matschig!"

"Von matschigen Bananen bekommt man Lepra" weiß der große Bruder.

Dann folgt eine angeregte Unterhaltung über abfallende Finger und Zehen, alles wohl durch matschige Bananen verursacht. Mama kommt wieder zurück, beladen mit einem großen Tablett, auf dem eine Kaffeekanne, das Kaffeegeschirr und Milch und Zucker stehen. "Gibt es kein schöneres Thema?"

"Papa, erzähl uns eine Geschichte!" ruft Püppi, die genug von der Insel der Leprakranken hat.

"Ja, also dieses Haus war das Sommerhaus von Frau Hessler", beginnt Papa und nimmt einen großen Schluck Kaffee. „Ein Sommerhaus!“ ruft Püppi begeistert. „Und wo war das Winterhaus?“

„Eigentlich wohnte sie im Schloss am Ende der Halbinsel. Ob es früher ein wirkliches Schloss war, weiß ich nicht, jedenfalls haben die Nachbarn es uns so erzählt. Frau Hessler war die Geliebte des dänischen Kronprinzen, und sie hatte drei Söhne mit ihm. Aber sie durfte ihn nicht heiraten, weil sie eine Bürgerliche war. So hat sie einen Antiquitätenhändler geheiratet, aber sie stand trotzdem immer unter dem Schutz der dänischen Krone.“ Püppi seufzt tief und sagt „Weiter, Papa!“

„Als die Russen kamen, durfte sie das Schloss mit ihrem Wagen verlassen, weil die dänische Standarte an ihrem Auto wehte. Jetzt ist das Schloss nur noch eine Ruine. Es wurde im Krieg bombardiert. Die Seidentapeten und die Biedermeiervorhänge und die Antiquitäten hier im Haus sind von ihr.“

"Wo sind denn ihre drei Söhne? Wollten die nicht hier wohnen?" fragt Hans-Peter.

"Alle drei Söhne sind in einer Winternacht ertrunken, als sie im Schlitten über die Scharfe Lanke fuhren. Und weil sie betrunken waren, fielen sie in ein Anglerloch, und Frau Hessler hat zu ihrem Gedenken die drei großen Tannen gepflanzt."

"Sie ist eine feine Frau, eine richtige Dame", ergänzt Mama. "Sie trägt lange Röcke und hat einen Gehstock mit einem silbernem Knauf. Wenn ich siebzig bin, werde ich auch so einen Gehstock haben." Püppi ist begeistert. Sie streicht über die glatte Seidentapete, befühlt den etwas wurmstichigen Marienaltar, der im Treppenhaus an der Wand hängt, guckt in die Vasen, die dem Zaren gehört haben sollen und darf sich ein kleines Gemälde mit einer Heidelandschaft über ihr Bett hängen. Nun muss sie nicht mehr das Bild vom schmalen und breiten Weg zum Himmel und in die Hölle angucken. ’Das sind also Antiquitäten, denkt sie und übt das schwierige Wort.

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„Was bedeutet eigentlich der Spruch im Korridor?“ hatte sie Mama gefragt. Auf einer Birkenholzscheibe neben dem Marienaltar prangt ihr täglich entgegen: "Wie klein das ist, was einer ist, wenn man’s an seinem Dünkel misst." Da sie noch nicht lesen konnte, hatte Mama es ihr vorgelesen.

"Je größer der Dünkel bei einem Menschen, umso kleiner ist er in Wahrheit, das musst du dir merken!“

"Aber was ist Dünkel?“

"Dünkel ist Hochmut. Nur wer bescheiden ist und demütig, der ist als Mensch wirklich groß.“

Mama stand nun auf halber Treppe und goss mit einer kleinen Gießkanne die Zimmerlilien und den Weihnachtskaktus auf der Fensterbank. Trug eine geblümte Kittelschürze, und die Sonne schien durch das Treppenhausfenster auf ihre lackschwarzen Haare. Püppi schaute zu ihr hoch: "Bist du demütig und bescheiden, Mama?“

"Ich bemühe mich so zu sein.“

Püppi fiel dazu nur wieder der schmale und mühevolle Weg in den Himmel ein und sie überlegte, ob der Dünkel auf der linken oder rechten Seite des Bildes einzuordnen wäre.

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Hans-Peter und Püppi ziehen los, um die Schlossruine zu finden. Sie laufen die Straße am Pichelssee entlang, kommen am Paddlerweg und am Schwimmerweg vorbei, es sind alles Privatstraßen. Das gefällt ihnen: "Hier dürfen nur wir in die Straße!" Dann stehen sie vor einer hohen Mauer.

"Dahinter ist das Schloss" sagt Hans-Peter und schon ist er mit seinen langen Beinen über ein schmiedeeisernes Tor geklettert. Püppi schafft das nicht. Sie steckt ihren Kopf durch die Gitterstäbe und sieht wie Hänschen im Park verschwindet, auf Unkraut überwucherten Wegen. Und muss lange warten, bis er wiederkommt:

"Tiere gibt es da, das glaubst du nicht" und "Der Park geht bis ans Wasser, bis an die Havel.“

„Du gibst bloß an! Was denn für Tiere?“ Aber er klärt sie nicht auf, und der Park bleibt Püppi unerschlossen.

Aber nicht das Wasser! Die Scharfe Lanke zieht sie magisch an. Alle drei Straßen führen dort hin. Halbmondförmig fließen sie am Lankestrand zusammen, dort wo die Anwohner ihre Bootsstege haben.

Im Frühjahr treiben dicke Eisschollen im Wasser. Püppi zieht sie raus, hackt sie klein und baut sich funkelnde Glitzerburgen aus Eis, steckt den Kopf hinein, mitten in die explodierenden Lichtstrahlen der Sonne auf den Eisbrocken - spürt die Kälte nicht, lebt ganz im Licht. Der Sommer kommt. Sie kann noch nicht schwimmen und darf nicht auf den Bootssteg gehen. Aber sie tut es doch und rutscht auf den nassen Planken aus, fällt ins Wasser. Steht auf dem morastigen Grund, schaut hoch. Über ihr das schillernde Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche. Ist ganz ohne Angst, wie in ihren Träumen, in denen sie unter Wasser atmen kann. Bis durch das Sonnenlicht zwei Arme kommen und sie hochreißen und retten. Hans-Peter hat sie herausgezogen, und beide schleichen pudelnass nach Hause. Mama ist außer sich! Wie sie es wagen konnten... strengstens verboten! Die Ohrfeigen fliegen ihnen um die Köpfe.

Dann zieht Mama im Flur einen Stuhl in die Mitte, und Hans-Peter muss sich drüberlegen, damit er eine anständige Tracht Prügel erhalten kann. Sie schlägt und schlägt: "Das ihr mir so etwas antun könnt! An meinem Grab wird euch das noch mal Leid tun! Wirst du jetzt endlich sagen, dass es dir Leid tut, wirst du nun endlich!" Püppi steht daneben, von Oma festgehalten und muss zugucken und warten, bis sie an der Reihe ist. "Oma, Oma, wenn ich dran bin, dann hilf mir!" schreit sie. Dann liegt sie selbst auf dem Bauch quer über den Stuhl, während die Prügel auf sie niedergeht und sie sieht, wie Hänschen zur Haustür kriecht, sie öffnet und laut um Hilfe ruft, bevor er aus dem Haus und dem Garten flüchtet.

Am Abend muss Püppi als erste ins Bett und weint sich dort aus. Eine Wolldecke zum Rupfen gibt es nicht mehr, sie liegt unter einem Federbett. Lutscht an ihrem Daumen, rupft sich ein langes Haar aus, wickelt es um den Zeigefinger über der Nase, damit die selbst gebastelte Lutschvorrichtung schön fest gebunden bleibt und schläft ein.

Nachts wird sie wach. Papa steht im Türrahmen, hinter ihm das helle Korridorlicht. Er trägt ein kurzes Nachthemd, unter dem sein gelähmtes, kurzes Bein zu sehen ist und hat sich auf seine Krücken gestützt. "Anny, ich habe Kopfschmerzen, bring mir eine Tablette!" verlangt er. Mama steht auf, geht hinaus, schließt die Tür und bleibt zu lange fort, als dass Püppi auf sie warten könnte.

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Taube in der Tanne

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