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Buchstabenblut

Draußen tanzten Frostblumen an den Fensterscheiben, drängten sich aneinander, flüsterten. Erschrocken sah Arjuna auf, rieb sich die müden Augen und drehte den Kopf leicht schüttelnd wieder nach vorne. Wenn es nur endlich warm würde. Ihre Schreibfeder kratzte übers Papier, hinterließ bräunliche Tintenflecke. Wärme, dachte Arjuna. Die Sommersonne brannte erbarmungslos auf die Kreaturen der Erde, schrieb sie versuchsweise und lächelte. Wenn der Winter ihre Welt fest in seinem Griff hielt, bitte sehr, ihr standen viel mehr Welten zur Verfügung, als die, in der ihr Körper lebte. Sie hob das Blatt mit der frisch aufgetragenen braunen Tinte an die Nase und schnupperte, spürte die Hitze, die es versprühte.

Als sie das Papier senkte, ritzte es sie in den Finger. Mühsam unterdrückte sie einen Schrei gefolgt von einer Flut an Worten. Ein Tropfen Blut fiel auf das helle Holz des Tisches unter ihr. Sie kniff die Augen zusammen und sah noch einmal hin. Normales rotes Blut, beruhigte sie sich. Für einen winzigen Augenblick, keine Sekunde lang, hatte sie statt des roten Lebenssaftes Buchstaben zu sehen geglaubt. Mit zitternder Hand legte sie Papier und Feder zur Seite und stand auf. Sie hatte lange nichts gegessen. Von der Anrichte in ihrer sehr dürftig eingerichteten Küche nahm sie sich einen kleinen, in ein Handtuch geschlagenen Kanten Brot. Trocken, wie er war, hätte er sich besser als Entenfutter geeignet, doch sie hatte nichts anderes mehr. Sie stellte sich weiches, frisches Brot vor und biss gierig hinein.

Den Kanten noch nicht ganz verschlungen, setzte sie sich wieder an den Tisch, nahm die Feder in die Hand und tauchte sie ins Tintenfass. Sorgsam las sie den letzten Satz, dann tanzte die Feder elegant übers Papier.

Ein Tropfen, der sich auf dem Papier sammelte und die Tinte leicht verwischte, ließ Arjuna hochfahren. Verwundert rieb sie sich mit dem Ärmel über die Stirn, es war ihr warm geworden. Mit kraus gezogener Stirn schrieb sie die Worte, die durch den Schweißfleck nicht mehr lesbar waren, neu und widmete sich dann eine lange Zeit ihrer Arbeit, wobei die Hitze aus ihrer Geschichte auf sie überzugehen schien.

Nachts schreckte Arjuna plötzlich hoch. Spät ins Bett gegangen, war sie in einen unruhigen Schlaf gefallen und schließlich mit ausgetrockneter Kehle aufgewacht. Zitternd und benommen stand sie auf, um sich ein Glas Wasser zu holen. Das Schlucken tat weh, als hätte sie lange nichts mehr getrunken, und nach den ersten, gierigen Schlucken wurde ihr übel. Nur mit Mühe unterdrückte sie das Begehren ihres Magens, alles hoch zu würgen. Vielleicht war das Brot nicht mehr gut gewesen. Morgen würde sie sich etwas Neues zu Essen besorgen. Ihr Blick fiel auf ihren Schreibtisch. „Und du musst einen Tag warten“, zischte sie ihn an und legte sich erschöpft in ihr Bett. Ihre Wohnung kam ihr schrecklich kalt vor, obwohl ihre Bettdecke nass von ihrem eigenen Schweiß war. Arjuna drehte sie um und zog sie bis zu ihrer Nase hoch. Gut, dass sie so klein war, dass sie komplett ausgestreckt unter der Decke verschwinden konnte. Ihre Lider fielen zu.

Der nächste Tag brachte die gleiche Eiseskälte wie der Tag zuvor und Arjunas Nase lief, als sie aufstand. Sorgsam packte sie sich in mehrere Schichten ihrer Kleidung, fast alles, was sie überhaupt besaß, und legte sich zum Schluss eines ihrer wertvollsten Besitztümer um, einen dicken, braunen Wollmantel. Sie zog die Schublade auf, in der sie ihr Geld verwahrte, und starrte finster auf die wenigen Münzen, die vor ihr lagen. Es war zu lange her, dass sie eines ihrer Bücher verkauft hatte. Sie warf ihrem Schreibtisch einen sehnsüchtigen und zugleich vorwurfsvollen Blick zu und verließ die Wohnung, die Kapuze des Mantels tief ins Gesicht gezogen. Draußen wimmelte es trotz der Kälte bereits von Menschen. Zuerst erschreckte es Arjuna, wie es das immer tat, aber dann beruhigte sie sich damit, dass es nicht anders war als in einer ihrer Geschichten und einmal tief durchatmend passte sie sich dem Strom der Menschen an. Ihr Ziel war die nahe gelegene Bäckerei des Viertels. Als sie den Laden betrat, blickte die Verkäuferin, aufmerksam geworden durch die Ladenglocke, zur Tür und ein seltsamer Gesichtsausdruck huschte über ihr Gesicht. Ein wenig Erstaunen vermischt mit Freude, Besorgnis; mehr, als Arjuna glaubte verdient zu haben.

„Arjuna, ich hab dich lange nicht gesehen, alles in Ordnung?“

Arjuna streifte ihre Kapuze zurück und nickte. „Aber es ist mal wieder nichts mehr da“, gab sie mit vor Kälte belegter Stimme und leicht tropfender Nase zurück.

„Nichts mehr verkauft?“ Miris Stimme war weich und verständnisvoll. Sie erinnerte Arjuna immer an ein warmes, frisch aus dem Ofen kommendes, süßes Brot. „Nein. Berek hat sich lange nicht mehr blicken lassen.“

Miri nickte. Berek war Arjunas Verleger, der jedoch immer nur ankam, wenn er eine neue Geschichte wollte, und sich zurückhielt, wenn es darum ging, ihr den verdienten Lohn zu geben. „Dann komm nach hinten, Schatz“, forderte Miri sie auf und Arjuna schlüpfte dankbar nach hinten zur Backstube durch, wo sie den Mantel ablegte, sich die Hände gründlich wusch und sich dann gemeinsam mit dem taubstummen Georg, Miris Mann, ans Werk machte. Er nickte ihr freundlich zu, kümmerte sich aber ansonsten nicht weiter um sie, da er es gewohnt war, dass Arjuna aushalf, wenn ihre Schreibarbeit wieder einmal nicht zum Leben reichte.

Den ganzen Tag arbeiteten sie zusammen, kneteten Brot, formten Gebäck und Kuchen, die von deutlich besser gekleideten Menschen, als Arjuna es war, gekauft wurden. Miris Bäckerei war beliebt, zum einen wegen der guten Qualität der Backwaren, aber vor allem, weil man Miri einfach gerne begegnete. Viele kamen, um ein kleines Schwätzchen zu halten, und so hielten sich immer einige in der Bäckerei auf, die mit Tee und Kaffee versorgt wurden. Arjuna mochte das Hintergrundgeschwätz, wenn sie sich erst wieder daran gewöhnt hatte, unter Menschen zu sein. Manchmal schnappte sie ein paar interessante Gesprächsfetzen auf, die sie zu neuen Geschichten inspirierten. Obwohl es Arjuna wirklich nicht an neuen Ideen mangelte. Eher an genügend Lebenszeit, alles aufzuschreiben. Die Geschichten flossen durch ihr Blut und aus ihr heraus, als würde sie mit der Tinte verbunden sein.

Auch heute lauschte sie den Stimmen. Während der kurzen Mittagspause, die Arjuna, Miri und Georg gemeinsam in der warmen Backstube verbrachten, ging ihr eine Sache nicht aus dem Kopf, die sie kurz vorher gehört hatte.

„Hast du mitbekommen, was die alte Breda vorhin erzählt hat, Miri?“, fragte Arjuna schließlich, weil es sie so sehr aufwühlte.

„Du meinst diese seltsame Sache mit ihrer Schwiegertochter? Die angeblich von einem Monster verfolgt wurde? Ich vermute eher, die liebe Schwiegertochter hat zu tief ins Glas geschaut. Wäre nicht das erste Mal und wundert mich bei der Ehe, die sie führt, auch nicht weiter.“

„Ja schon, aber …“ Arjuna biss sich auf die Zunge. „Ein Monster aus Lehm oder schlammiger Erde mit brennendem Feuer unter der Oberfläche denkt man sich doch nicht einfach so aus, oder?“

Miri lachte. „Und das sagt ausgerechnet unsere Schreiberin. Ich würde mir allerdings auch etwas mit Feuer wünschen, wenn ich nicht meine warme Backstube hätte. Iss dein Weckchen, Arjuna, und dann machen wir weiter.“

Bedrückt und gedankenvoll machte Arjuna sich wieder ans Werk. Obwohl sie an diesem Abend mit einem großen Beutel gefüllt mit Backwaren und ein paar anderen Dingen, die Miri ihr zugesteckt hatte, nach Hause ging, knabberten die Sorgen mehr an ihr als tags zuvor. Sie kannte das Monster, das die Schwiegertochter beschrieben hatte. Doch es war nicht von dieser Welt.

Sie verstaute die Lebensmittel in dem dafür vorgesehenen Schrankfach, zog sich die warmen Sachen aus und setzte sich an den Schreibtisch, wo sie hektisch in den Blättern der vergangenen Nacht suchte. Endlich fand sie es, das Papier jaulte wie Wind in Bäumen in ihrer zitternden Hand.

Eines Nachts erhob sich aus dem ausgetrockneten Flussbett ein Wesen aus Schlamm und Feuer, stand hier geschrieben in Arjunas eigener, krakeliger Handschrift.

Aufgerichtet war es größer als ein aus der Menge herausragender Mann, zwei Arme hingen bis zu den Knien hinab, mit starken, verkrusteten Händen. Sein Kopf war kahl, von hier senkten sich die Feuerlinien, die unter der obersten Schlammschicht leuchteten, über seinen gesamten Körper hinab. Die Augen loderten hungrig, viel zu lange hatte er in seinem Flussgrab geschlafen. Jetzt hatte ihn die Wärme geweckt, die Trockenheit gerufen und das verdampfte Wasser ihm die Freiheit geschenkt.

Arjuna blickte auf. Konnte es sein, dass ihr Monster hier in dieser Welt war? Nein, sie war übermüdet und erschöpft, ihr Hirn spielte ihr Streiche. Bestimmt war es, wie Miri gesagt hatte, Bredas Schwiegertochter hatte gesoffen und Dinge gesehen, die es nicht gab. Trotzdem nagte die unheimliche Tatsache, wie ähnlich sich die Monster waren, an ihr. Auch in dieser Nacht blieb ihr Schlaf unruhig.

Am nächsten Tag stand sie mit klarem Kopf auf, entschlossen, sich nicht von verrückten Gedanken beeinflussen zu lassen, und setzte sich an ihren Schreibtisch. Die erste Arbeit des Morgens quälte sie am meisten: das Durchlesen der geschriebenen Buchstaben. Teilweise konnte sie ihre eigene Schrift kaum entziffern. Wenn es sie richtig gepackt hatte, wanderten die Worte selten so schnell aufs Papier, wie ihr Verstand es verlangte. Doch das störte sie nicht. Sich die Zeit zu nehmen, ihre eigenen Geschichten wieder von vorne zu lesen, statt einfach weiterzuschreiben, das machte ihr Schwierigkeiten. Aber Arjuna wusste aus Erfahrung, dass ihre Geschichten nur dann richtig gut wurden, wenn sie es tat. So vergaß sie nichts und bemerkte Lücken im roten Faden der Geschichte, die sich eingeschlichen hatten. Als sie bei der Beschreibung des Monsters ankam, fuhr ein kalter Zug über ihren Rücken, während ihr Herz gleichzeitig aufflammte. Sie liebte ihre Kreaturen, selbst wenn sie böse waren, wie diese hier. „Dann erst recht“, flüsterte eine boshafte Stimme in ihr. Endlich nahm sie die Feder wieder in die Hand und ließ das namenlose Feuer- und Schlammmonster Gräueltaten ausführen, bis ihr eigenes Herz bis zum Hals pochte. Mit ihrem Tagwerk zufrieden fiel sie ins Bett, doch obwohl sie diesmal schnell und fest einschlief, sollte ihr keine ruhige Nacht gegönnt sein.

Ein lautes Hämmern schreckte sie aus dem Schlaf und mit noch halb verklebten Augen stand sie auf, zog sich einen Umhang über und öffnete. Sofort strahlte ihr Hitze entgegen und abwehrend hob sie die Hände vor das Gesicht. Wie konnte das sein, obwohl draußen der Winter regierte? Abgelenkt bemerkte sie das Stimmchen, das sie rief, zunächst gar nicht. Erst, als jemand an ihrem Umhang zog, blickte sie hinunter. Dort stand Kalle, der achtjährige Sohn aus der Wohnung nebenan. Sein Gesicht zeigte das blanke Entsetzen, mehr Horror, als sie je auf einem Antlitz gesehen hatte, mehr, als sie jemals für einen Charakter geschrieben hatte. Für einen kurzen Moment faszinierte es sie und Arjuna prägte sich sein Aussehen ein. Die bleichen Wangen, die weit aufgerissenen Augen und etwas, das sie noch nicht fassen konnte. Dann ging ihr auf, dass sie sich in der Wirklichkeit befand, und sie fragte rasch: „Kalle! Was ist los?“

Kalle, der froh war, dass sie ihn endlich wahrnahm, versuchte zu sprechen, doch die Furcht hatte seine Stimmbänder gelähmt. Mit Tränen in den Augen stampfte er plötzlich auf, dann zog er Arjuna mit sich. Sie folgte ihm durch den immer heißer werdenden Flur, trat über die Türschwelle und der Schweiß brach aus ihr heraus wie Wasser aus einem gebrochenen Staudamm. Sie musste nicht mehr weitergehen, um den Grund von Kalles Entsetzen zu finden: Inmitten der Wohnung stand über seinen Vater gebeugt das Schlamm- und Feuermonster. Widersprüchliche Gedanken durchfuhren sie. Wie konnte das sein? Doch wie genial hatte sie es erschaffen! Das Grauen, das es verströmte, die Feuerlinien schlangen sich nach unten, pulsierten wie Adern. Ein Hochgefühl durchzog sie bei seinem Anblick. Es war ihr Wesen.

Verdammt! Wie kam ihr Wesen hierher? Es war unmöglich. Eine verkrustete, braune Hand legte sich um den Hals von Kalles Vater und Arjuna vergaß alles, machte einen Satz auf das Monster zu. Von der Bewegung gestört blickte das Monster auf, sah Arjuna und ließ los. Sie sah steif zu, wie es sich an Kalle vorbei aus der Wohnung quetschte und im Dunkel der Nacht verschwand. Kalle rannte auf seinen Vater zu, und erst jetzt bemerkte Arjuna die Mutter, die wimmernd in einer Ecke lag. Sie eilte hinüber, betrachtete entsetzt die Verbrennungen. Für einen Moment schloss sie die Augen. Was hatte sie getan?

Verstört saß Arjuna später an ihrem Schreibtisch. Sie war da geblieben und hatte auf Kalle aufgepasst, nachdem sie sichergestellt hatten, dass Kalles Mutter genug zu trinken hatte und die Wunden grob bedeckt waren. Kalles Vater war Hilfe holen gegangen. Dr. Ferem war zum Glück zu Hause gewesen und sofort mitgekommen. Arjuna hatte Kalles Bericht bestätigt und war geflohen.

Sie kaute auf ihrer Feder herum und spuckte danach aus, da die Bitterkeit, die heraustrat, zu eklig war. Sie begriff es immer noch nicht. Wie hatte es das Monster in diese Welt geschafft? Oder war es womöglich ganz anders? Vielleicht hatte Arjuna irgendwann in ihrem Leben das Monster gesehen und deshalb war es ihr eingefallen. Ja, das musste es sein! Sie hatte das Monster gar nicht erfunden. Doch was machte ein Hitzemonster im tiefsten Winter? Wie kam ein Flammenwesen durch Eis und Schnee?

Sie musste sichergehen. Es blieb ihr nur eines zu tun. Mit Händen wie Blei hob sie die beschriebenen Seiten hoch und zerriss sie. In ihr drin spürte sie einen scharfen Schmerz und Tränen strömten über ihr Gesicht. Doch welche Wahl hatte sie denn schon?

An diesem Tag konnte sie sich nicht überwinden zu schreiben. Stattdessen floh sie in die Wärme und Geborgenheit von Miris Backstube. Ihre Freundin war zwar verwundert, in so kurzer Zeit die Schreiberin wiederzusehen, doch nach einem Blick in Arjunas Gesicht schwieg sie. Immer wieder schlich sich eine Träne auf Arjunas Gesicht. Schließlich legte Georg ihr eine Hand auf die Schulter. Er wies auf den Teig, den sie mit solcher Härte bearbeitet hatte, und schüttelte den Kopf. Arjuna kannte Georg schon lange, verstand seine Gesten und Zeichen besser, als sie viele sprechende Menschen verstand. Beschämt nickte sie und überließ ihm den Teig. Mit liebevoller Hand formte er den Teig zu Laiben. Sie zog sich zurück. Plötzlich ertönten Schreie aus dem Verkaufsraum. Entsetzt und an die letzte Nacht erinnert fuhr Arjuna hoch, lief nach vorne, wo ihr sengende Hitze entgegenschlug. Die Stube brannte lichterloh. „Miri!“, schrie Arjuna. Georg tauchte an ihrer Seite auf und stürzte sich ins Feuer. Sekunden später, die quälenden Ewigkeiten glichen, tauchte er mit seiner Frau wieder auf. Sie rannten durch die Hintertür nach draußen und flohen die Straße hinunter. Nicht einen Moment zu früh, denn kurz darauf explodierte die Bäckerei.

Trotz der Entfernung spürte Arjuna die Druckwelle, doch was sie mit wirklichem Entsetzen erfüllte, war das flammende Monster, das aus dem Rauch auf sie zu kam. Vor ihr blieb es stehen und riss den Schlund weit auf. „Arjuna“, dröhnte es. „Mutter!“

Als sie nachts aufschreckte, wünschte Arjuna sich, es wäre alles nur ein Traum gewesen. Doch Verbrennungen zierten ihren Arm, mit dem sie das Monster abgewehrt hatte. Das Entsetzen saß ihr so tief in den Knochen, wie es von keinem Traum kommen konnte. Sie blickte auf ihren Schreibtisch, auf dem die zerfetzten Blätter lagen. Obwohl sie das alles nicht genau verstand, hatte ihr der Schlaf eine Idee gebracht. Einen verzweifelten, letzten Ausweg. Schwerfällig setzte Arjuna sich an den Schreibtisch, rief sich Kalle und Miri ins Gedächtnis und nickte, wie um sich selbst zu bestätigen. Dann nahm sie die Feder in die Hand und schrieb sich selber in die vom Sommer geplagte Welt hinein. Nur dort, so hatte sie sich das erklärt, konnte sie alles wieder rückgängig machen. Mit einer Gewissheit, die ihr das Leben als Schreiberin gebracht hatte, wusste sie, dass es der einzige Weg war. Sie spürte, wie ihr heiß wurde, und betrachtete die schimmernden Buchstaben vor sich. Dann stand sie auf, riss die Tür auf und warme Sonnenstrahlen kamen ihr entgegen. Sie trat hinaus und schaute nach oben, wo die Sonne schnell von einer immer weiter anwachsenden Wolke abgelöst wurde, die sie gerade eben erst in die Geschichte hineingeschrieben hatte. Leise verschloss sie die Tür zu ihrer Wohnung, besiegte die letzten inneren Zweifel. Selbstsicher lief sie die Straße hinunter, an deren Ende eine Mauer stehen musste, die es in ihrer alten Welt nicht gab. Sie sah die Steinmauer hinauf und begann spinnengleich den Aufstieg, vollführte, was sie in Wirklichkeit nie gekonnt hätte. Sie sah nach oben, in das drohende Schwarze hinein, während ihre Finger sich wie Krallen in den Stein schlugen, um sie weit hinaufzubringen. Wenn es jetzt nicht endet, hört es niemals auf, dachte sie. Ihr Herz hämmerte hart, ob vor Anstrengung oder Angst war ihr nicht klar. Ihr Atem rasselte. Höher. Schneller.

Ihre Hände waren blutüberströmt, weil sich der Stein in sie hineinfraß, wie sie in ihn. Er zerfetzte ihre Haut. Endlich sah sie nach unten, tausend Fuß über der Erde. Alle Angst, alle Sorge fiel von ihr ab, als sie sich abstieß und in die Tiefe stürzte. Sie war frei. Als ihr Körper auf dem Asphalt endete, zerschlug, verspritzte, zermatschte es sie. Doch statt rotem Blut flossen Buchstaben die Straße hinab.

Tage später brach Kalles Vater die Tür auf, da keiner von ihnen mehr etwas von Arjuna gehört hatte. Die Wohnung war leer. Unter dem Schreibtisch hatte sich eine große Pfütze gebildet. Es sah aus wie Blut, doch als er näher trat, sah er statt der roten Farbe des Lebenssaftes Buchstaben.

Buchstabenblut

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