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Der Puzzler

Bregar stieß einen Schrei aus. Es klang wie der Todesschrei einer Eule und er fühlte sich so, als würde sein Herz in jedem Moment aufhören zu schlagen, obwohl es fest in seiner Brust hämmerte. Es war auch nicht sein Herz, merkte er wenige Sekunden später. Es war die Luft, die immer dünner wurde. Er hob den Kopf und richtete seine Augen auf den vertrauten Berg vor ihm. Riesengroß, schneebedeckt und kalt-bläulich stand er da wie sonst auch. Bis auf ein winziges Detail: Seine Spitze schien zu brennen. Bregars Atem wurde schneller, sein Schrei echote durch das Gebirge. Gekreische erwiderte seine Schreie, es wurden immer mehr Rufe. Die Angst vor dem sicheren Tod jagte durch die steinernen Riesen, wurde zurückgeworfen und hallte, bis die ganze Luft von den Schreien erfüllt war.

In einem sonnendurchfluteten Atelier saß ein alter Mann. Sein gekrümmter, buckliger Oberkörper beugte sich über einen großen Tisch aus hellem Eichenholz, dessen massive Beine sich im Boden fest verwurzelt hatten. Ein langer Mantel hing am Rücken des Mannes hinab, die dunkelblaue Farbe lugte nur noch an wenigen Stellen hervor. Der Stoff trug sein Alter mit Fassung und war mittlerweile ebenso grau wie sein Besitzer. Doch obwohl er dünner und verschlissener geworden war, wärmte er noch gut genug. Solange die Sonne schien, war es behaglich im Atelier des alten Mannes. Lediglich nachts zog die Kälte durch den Raum. Dem Mann machte dies nichts aus. Er wusste nicht mehr, seit wie vielen Jahrhunderten er hier schon saß. Nachts schlief er für einige Stunden, doch, noch bevor die Sonne den Tag verkündete, saß er wieder an seiner Arbeit.

Auch jetzt drehte er ein kleines Puzzleteil in seiner Hand hin und her, schnitzte die Formen an den Rändern des Holzstückchens hinein, damit es in das große Gemälde passte, das die lange, gebogene Wand hinter seinem Rücken zierte. Es war ein gewaltiges Puzzle, das weder links noch rechts, noch oben oder unten endete. Man hätte es bis in alle Zeiten betrachten können und wäre doch niemals seiner überdrüssig geworden, denn es fehlten nicht nur Anfang und Ende, es veränderte sich auch stetig. Der alte Mann tauschte immer wieder Puzzleteile aus, ersetzte alte durch neue, die er gerade erst gefertigt hatte.

Kunstvoll glitt der Pinsel über das frisch geformte Teil, verteilte Farben und Linien, ließ die wundersamsten Bilder entstehen. Doch solange man nur dieses einzelne Teilchen besah, hätte niemand erraten können, was es zeigte.

Nach einiger Zeit, mit einem zufriedenen Brummen in der Brust drehte sich der alte Mann um, erhob sich von seinem Stuhl, der ebenso wie der Tisch aus Eichenholz war, und schlurfte zur Wand. Suchend tasteten seine langen, knochigen Finger über das Puzzle, bis sie plötzlich zuckten. Mit sicherem Griff entnahm er ein Teil und legte das neue Puzzleteil hinein. Das Gemälde schien kurz zu zittern und veränderte sich dann von dem kleinen Fleck ausgehend, den der Künstler mit dem neuesten Teil ergänzt hatte.

Zufrieden setzte der alte Mann sich wieder auf seinen knarzenden Stuhl, nahm sich ein Stück von dem dicken, hellen Holz und begann ein neues Puzzleteil zu schnitzen.

Konzentriert und wissend arbeiteten seine Finger ganz von alleine, nahmen sich das kleine schwarze Messer aus dem Sammelsurium an feinsten Werkzeugen, das die Arbeit fast wie von selbst erledigte. Mit endloser Präzision feilte er an jeder noch so zarten Ecke und Kante, bis er zufrieden war. Er hielt das winzige Teil gegen die Sonne und begann leise dabei zu summen. Es war eine seltsame Melodie. Die Töne gehörten nicht zusammen und dann wieder doch. Die Sonne wanderte die lange gebogene Fensterwand entlang, die sich rechts und links an die Gemäldewand anschloss. Stück für Stück rückte sie vor, während der alte Mann seiner Arbeit nachging.

Er aß nicht und trank nicht, stand nicht auf, verharrte nicht einen Augenblick. Sein Gesicht war über seine Hände gebeugt, nur sporadisch sah er auf, wenn seine Finger ein Puzzleteil hochhoben, um es gegen das Licht der Sonne zu halten. Seine Augen schreckten nicht zurück vor der Helligkeit. Sie waren vollkommen weiß, trüber Nebel gegen das strahlende Sonnenlicht.

Wieder beendete er das Werk, stand auf und setzte das neue Teilchen ein. Seine Finger fanden den Weg wie zuvor. Es war schon sehr, sehr lange her, zu einem Zeitpunkt, als noch keine Falten sein Gesicht geziert hatten, noch kein weißes Haar auf seinem Haupt zu finden gewesen war und der Mantel noch nicht seine Jugend vergessen hatte, dass der alte Mann sich gewünscht hatte, er könne sehen, was er malte.

„Warum bist du blind, Meister?“, hatte er seinen Vorgänger gefragt, als er bei ihm in die Lehre gegangen war.

„Nur das innere Auge kann so viel sehen, dass es eine Welt erschaffen kann“, lautete die seltsame Antwort.

Es kam nicht oft vor, dass ein neuer Puzzler den Alten ablöste. Sein Meister war dreitausendeinhundertvierunddreißig Jahre alt gewesen, bevor er geschwunden war. Eines Morgens war er nicht mehr da, und als sein Lehrling die Augen öffnete, wurden diese von weißem Nebel überschattet, der seitdem seine Sehkraft nahm. Überrascht war er gewesen, dass er tatsächlich auf eine ganz andere Art sehen konnte. Es war nicht mehr schwierig, die Puzzleteile richtig zu malen und zu formen, sodass sie in das Gemälde hinein passten, das die immerwährende Welt veränderte und entwickelte. Er konnte das Gebirge, an dem er arbeitete, ohne Probleme sehen. Er spürte die Kälte, die von den eisig blauen Bergriesen ausging, fühlte die Hoffnungen der Menschen und anderen Geschöpfe, die im Gebirge und zu seinen Füßen lebten. Manchmal hatte er sogar das Gefühl, als könne er sie hören, ihre feinen Stimmen, die in den unterschiedlichsten Schattierungen sprachen. Fast lebte er mit ihnen, horchte auf ihre Träume und Fantasien, und hin und wieder rollte eine Träne die Wange des alten Mannes hinab, wenn er ihre Trauer und Verzweiflung teilte. Er selbst saß hoch oben auf genau jenem Berg, den er dort malte. Jenem Gipfel, der die Welt, die er durch sein Puzzle erschuf, krönte.

Die Sonne ging unter und wieder auf und schon arbeitete der alte Mann fleißig weiter, feilte und stach, malte und zeichnete, passte das neueste Teilchen ein. Es war wie an jedem anderen Tag und sein zerschlissener Mantel gähnte, weil es so früh war und er gerne noch ein Weilchen geruht hätte. Als der alte Mann seinen Stuhl drehte und nach hinten schob, um aufzustehen, verfing sich sein Mantel in den Wurzeln des Stuhls und ruckte am alten Mann. Er stolperte und das Puzzleteil fiel ihm aus der Hand. Nie zuvor war dergleichen geschehen und der alte Mann fürchtete sich. Es war noch nicht an der Zeit für ihn zu schwinden, denn kein Lehrling hatte sich bei ihm eingefunden. Sein Meister hatte ihm versichert, dass der Neue von alleine kommen würde, wenn seine Zeit herannahte.

„Es war nur der Mantel“, sprach er zu sich selbst und schob die finsteren Gedanken von sich fort, krümmte seinen buckligen Rücken noch etwas mehr, beugte die dürren Beine und tastete mit den knochigen Fingern nach dem Teilchen. Er fand es und hob es behutsam auf. Seine Fingerspitzen glitten über die Ränder, streichelten es und beruhigt trat er an die Wand heran, begann nach dem Ort zu suchen, an den das Puzzlestück gehörte. Es dauerte. Lange Zeit hielt er sich damit auf, viel länger, als er sonst benötigte. Wo sollte es nur hin? Oben oder unten? Nichts fühlte sich richtig an. Ungeduldig entnahm er schließlich ein altes Teil, entriss es der Welt und drückte und presste das neue in das Loch. Hier, alles war gut, hier musste es hinein. Doch das neue Fragment bewegte sich störrisch und widerwillig. Noch nie hatte er ein Stück dermaßen überreden müssen, sich in die Wand zu setzen.

Er rieb sich den schmerzenden, pochenden Kopf und nahm das Teil noch einmal in die Hand. Vor ihm prangte nun die winzige Lücke. Er konnte es exakt vor seinem inneren Auge sehen und war sich sicher, dass alles stimmte. Müde schloss er die nebligen Augen, atmete ein paar Mal tief durch und ließ seine Finger das Loch erneut ertasten. Seufzend setzte er das Fragment noch einmal an, drückte es fest, überredete es mit leiser Zunge in fremd klingenden Silben, es möge sich hineinpassen lassen. Dann endlich gab das Teil seinen Widerstand auf. Zufrieden setzte sich der alte Mann wieder an seinen schweren Tisch und die Finger holten selbstständig ihr Arbeitszeug heran. Es ging von vorne los.

Bevor er jedoch die Möglichkeit hatte, ein neues Teil auch nur auszuschneiden, erklang ein eulenhafter Schrei in seinen Ohren. Immer lauter und lauter wurde er, gefolgt von vielen anderen Stimmen. Selbst sein Mantel hörte die Hilfe suchenden Rufe, das entsetzte Gekreische, und er rollte sich von unten her auf, bis dem Mann eisig kalt wurde, weil der zerschlissene Stoff sich nicht mehr seinen Rücken hinunter wagte. Sein Kopf pochte noch stärker als zuvor. Er versuchte, sich zu erklären, was geschehen war, versuchte zu verstehen.

„Das Teil! Das Puzzleteil!“, brüllte er plötzlich. Es stimmte nicht, es hatte einen kleinen roten Punkt statt der eisblauen Kälte der Berge getragen. Er hatte einen Fehler gemacht. So schnell, wie er sich seit Jahrhunderten nicht mehr bewegt hatte, stand er an der Wand und seine Finger suchten nach dem störrischen Teil. Er fand es und jaulte auf, weil seine knochigen Glieder, so stark sie sonst auch waren, nun nicht mehr gegen das Fragment ankamen. Er hatte es derart hineingepresst, dass sich die Puzzlestücke rundherum mit ihm verzahnt und verkeilt hatten. Der kleine rote Fleck auf dem Teil war angewachsen und brannte lichterloh auf der ganzen Umgebung. Der alte Mann schloss seine nebligen Augen und zog und zerrte an dem Stück, doch es gab nicht nach. Noch unwilliger als zuvor ließ es sich gar nicht mehr bewegen. Er sprach, bettelte, flehte in den seltsamen Silben, nichts vermochte das Feuer auf dem Gemälde aufzuhalten. Als er die Augen öffnete, konnte er wieder sehen. Der Nebel hatte sich verzogen und mit klarem Blick starrte er auf den mächtigen Berg, auf dessen Gipfel er selbst sich befand, und sah, wie das Feuer sich ausbreitete. Er beobachtete auf der großen Wand, wie es sich durch den Boden seines Ateliers fraß, spürte, wie sich die Flammen an den Tischbeinen hoch hangelten und kurz darauf auch seine ausgezehrten Beine erfassten. Völlig verstört besah er die Wand vor sich, die er all die vielen Jahrhunderte bearbeitet hatte. Plötzlich fiel ein Teil hinab, das fehlerhafte Teil, das erste Teil, das er falsch bemalt hatte, ohne zu wissen, warum. Es brannte in weißen und roten Farben, doch, noch bevor es am Boden angekommen war, zerfiel es zu Asche. Dann krachte die gesamte Wand herunter, die Teile fielen polternd auseinander und der Berg unter ihm stürzte ein. Die Welt, die der Puzzler und seine Vorgänger erschaffen und geformt hatten, verschwand gleichzeitig mit ihm, löste sich auf und war für immer verloren.

Buchstabenblut

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