Читать книгу Die wahre Geschichte der Weihnachtshexe Befana - Eva Walitzek - Страница 6

Begrüßung

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Father Christmas holte noch einmal tief Luft, bevor er die Tür öffnete. Um zu verhindern, dass Befana und die Heiligen Drei Könige direkt bei ihrem ersten Zusammentreffen aneinandergerieten, hatte er zwei Weihnachtstrolle aus Island, gebeten, nach Befana und den drei Weisen aus dem Morgenland Ausschau zu halten. Fensterglotzer und Türschlitzschnüffler hatten scharfe Augen und sie waren sofort bereit gewesen zu helfen.

Sie hatten ihre Aufgabe ordentlich erledigt. Fast gleichzeitig waren sie ins Zimmer gestürmt, um die Ankunft der vier zu melden. Natürlich wollte keiner dem anderen den Vortritt lassen und so steckten beide in der Tür fest, schlugen um sich und traten aufeinander ein. Aber Knecht Ruprecht war dazwischengegangen, bevor aus der Rangelei eine handfeste Prügelei wurde. Er hatte beide am Kragen gepackt und gedroht, sie in den Sack zu stecken. Kris Kringle, der Kollege aus Amerika, hatte wegen der Drohung protestiert, aber Father Christmas war über Ruprechts Eingreifen heilfroh gewesen.

Die Jungs aus Island brauchten eine klare Ansage, davon war Father Christmas überzeugt. Kuschelpädagogik half hier nicht weiter: Einzeln waren sie ja ganz nett, aber zusammen waren sie eine Plage und machten nichts als Ärger. In der vergangenen Nacht waren einige von ihnen in den Vorratsraum des Hotels eingedrungen und hatten fast alle Speisen für das abendliche Bankett aufgegessen. Der Koch war außer sich gewesen, zu Recht, wie Father Christmas fand. Er ärgerte sich, dass er sich hatte breitschlagen lassen, alle 13 Weihnachtskerle einzuladen. Aber die beiden vernünftigsten der Brüder, Stekkjarstaur (Schafschreck) und Stúfur (Knirps), hatten ihn bekniet und ihn gebeten, ihren Brüdern eine Chance zu geben. Und sie hatten ihm hoch und heilig versprochen, dafür zu sorgen, dass sie keinen Unsinn anstellten. Ob ihnen das gelingen würde? Bisher sah es nicht so aus. Er würde Knecht Ruprecht und seinen holländischen Kollegen, den Zwarten Piet, bitten, die Jungs im Auge zu behalten. Doch jetzt musste er sich zuerst um Befana und die drei Könige kümmern.

Zu dumm, dass sie fast gleichzeitig ankamen. So, als ob sie sich abgesprochen hätten. Oder als ob eine höhere Macht ihre Hände im Spiel hätte. Father Christmas schaute vorwurfsvoll nach oben. „Das hätte nun wirklich nicht sein müssen“, seufzte er. Nun ja, jetzt war er ja hier – und wild entschlossen zu verhindern, dass es direkt wieder Krach gab wie beim ersten Gabenbringer-Treffen vor vielen Jahren. Damals war Befana wutentbrannt abgereist und hatte jahrelang den Kontakt zu ihm und seinen Kollegen abgebrochen.

Die Ursache für den Streit lag angeblich mehr als 2000 Jahre zurück. Was damals vorgefallen war, wusste niemand so genau. Von ihnen war ja niemand dabei gewesen, ja, es hatte sie noch gar nicht gegeben. Selbst Nikolaus, der älteste der übrigen Gabenbringer, war erst 300 Jahre später geboren worden.

„Herzlich willkommen zu unserem Weihnachts-Gabenbringer-Treffen.“ Father Christmas ging Befana und den Heiligen Drei Königen mit ausgebreiteten Armen am Eingang des Hotels entgegen.

„Schön, dass ihr es doch rechtzeitig geschafft habt. Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Reise“, begrüßte er die vier. „Ich weiß, für euch ist der Termin eigentlich nicht optimal, direkt nach eurem letzten Arbeitstag. Wir haben ja auch extra einen Tagungsort in Italien ausgesucht, damit ihr es nicht ganz so weit habt. Aber es war die einzige Möglichkeit, bevor alle in den verdienten Urlaub fahren. Und danach beginnt ja fast schon wieder die Vorbereitung auf die neue Saison. Ihr wisst ja: Nach Weihnachten ist vor Weihnachten.“

„Kein Problem“, sagte Caspar großzügig und seine beiden Kollegen nickten zustimmend.

„Für euch vielleicht nicht“, sagte Befana. „Ihr habt Personal, das hinter euch herräumt. Ich musste nach der Bescherung alles stehen und liegen lassen, um pünktlich hier zu sein. Wenn ich nach Hause komme, muss ich im Lager erst mal Ordnung schaffen.“

„Immer noch der gleiche Putzfimmel. Und ich dachte, du hättest in den letzten 2000 Jahren etwas dazugelernt“, sagte Melchior mit einem boshaften Lächeln.

Befana packte den Stiel ihres Besens so fest, dass ihre Knöchel ganz weiß wurden. Und einen Moment fürchtete Father Christmas, sie würde auf Melchior losgehen und ihm mit dem Besen eins überziehen. Er trat neben sie und berührte sie leicht am Arm.

„Befana, ich habe für dich ein Zimmer auf der Seeseite reserviert. Es ist zwar nicht besonders groß und es gibt auch keinen Aufzug bis in die oberste Etage. Aber dafür kommst du von deinem Zimmer direkt auf die Dachterrasse“, sagte er und lächelte sie an. „Und ihr wohnt natürlich in der Königssuite. Außerdem könnt ihr die Juniorsuite direkt daneben benutzen, weil es zu dritt in der Königssuite vielleicht doch etwas eng wird.“

„Vielen Dank, eine gute Idee“, sagte Caspar und nickte Father Christmas huldvoll zu. „Balthasar schnarcht immer so laut. Da ist es gut, wenn mein Schlafzimmer ein wenig abseits liegt.“ Dann sah er sich suchend um. „Wo sind denn die Diener, die unser Gepäck entgegennehmen?“, erkundigte er sich.

Befana verdrehte die Augen. Father Christmas räusperte sich. „Ich fürchte, das müsst ihr selbst tun. Wir haben das ganze Hotel gebucht – eigentlich sind hier Betriebsferien. Aus Kostengründen haben wir nur wenig Personal engagiert: ein paar Reinigungskräfte und natürlich die Leute vom Küchenteam. Ihr wisst, wir müssen mit den Mitgliedsbeiträgen sparsam haushalten.“

Caspar und Melchior wollten protestieren, aber Balthasar kam ihnen zuvor. „Kein Problem, wir kommen schon zurecht“, sagte er – und seinen königlichen Kollegen raunte er zu: „Nun stellt euch nicht an, es fällt euch schon kein Zacken aus der Krone, wenn ihr mal selbst anpackt.“

Befana grinste. Balthasar war offenbar immer noch der Vernünftigste – und das Verhältnis zu seinen Kollegen scheinbar immer noch nicht das Beste.

„Wahrscheinlich möchtet ihr zuerst auspacken und euch nach der langen Reise etwas ausruhen.“ Father Christmas‘ tiefe Stimme rief Befana in die Gegenwart zurück. „Wir treffen uns um 7 Uhr zum Abendessen. Die Auftaktveranstaltung findet im Anschluss daran statt. Nur eine kurze Begrüßung und ein zwangloses Zusammensein, morgen Vormittag geht es dann richtig los.“

Befana nickte. „Sind denn schon alle da?“, erkundigte sie sich.

Father Christmas schüttelte den Kopf.

„Fast alle. Nur das kleine Kamel aus Syrien fehlt noch. Aber es hat ja auch einen weiten Weg. Und in seiner Heimat sind die Straßen zurzeit sehr unsicher. An vielen Stellen wird noch gekämpft. Ich hoffe, es kommt gesund hier an“, sagte Father Christmas und sah besorgt auf die Uhr. „Eigentlich wollte es schon lange hier sein.“

Melchior drehte sich noch einmal um, bevor er ins Hotel ging. „Mach dir keine Sorgen. Das Kamel ist wie Befana. Es kommt immer zu spät.“

Befanas wurde bleich. Ihr Arm zuckte so, als wolle sie ihren Besen nach Melchior werfen. Oder noch schlimmer, ihm einen Fluch entgegenschleudern. Father Christmas trat schnell zwischen die Weihnachtshexe und die drei Könige – und er hoffte inständig, dass sie sich zurückhalten würde, um ihn nicht zu treffen.

Nikolaus hatte ihn vor Befanas Flüchen gewarnt. Der Heilige kannte sie schon von früher, aus einer Zeit, als es Father Christmas und seine Weihnachtsmannkollegen noch gar nicht gegeben hatte. Nikolaus schien sich ein wenig vor Befana zu fürchten, sie aber gleichzeitig zu bewundern. „Sie ist eine sehr begabte Hexe. Und sehr temperamentvoll.“ Und dann hatte Nikolaus ihm erzählt, wie sie einmal einem Mann, der ihre Freundin beleidigt hatte, ein Schloss an den Mund gehext hatte.

Inzwischen war Befana ruhiger geworden – oder vorsichtiger. Zwar gab es Gerüchte, dass sie zuweilen rigoros gegen Leute vorging, die ihre Kinder misshandelten. Doch offiziell hatte sich noch niemand beschwert. Zum Glück, denn die drei Könige hätten die Gelegenheit sicher genutzt, um ein Ausschlussverfahren gegen die Weihnachtshexe zu beantragen.

Zwischen ihnen und Befana hatte es einen heftigen Streit gegeben. Befana behauptete, dass die Geschichte vom Besuch der drei Könige im Stall bei Bethlehem so, wie sie erzählt wurde und in den Büchern stand, nicht stimmte. Es sei die Version von Caspar, Balthasar und Melchior – und die drei hatten dafür gesorgt, dass sie als offizielle Version in die Geschichtsbücher einging. Alle Jahre wieder wärmten die Medien die alte Geschichte auf. Vor allem in Italien, wo Befana lebte und als Weihnachtshexe arbeitete. Verständlicherweise. Denn in der Weihnachtszeit interessierten sich die Menschen natürlich für die, die den Kindern die Geschenke brachten. Aber über Befana gab es nur wenig Neues zu berichten: Sie lebte sehr zurückgezogen und mied die Öffentlichkeit, wenn es möglich war. Das war bei Caspar, Balthasar und Melchior anders.

Die drei hatten zwar ihre Länder verloren und lebten schon lange im Exil in Spanien. Aber es war Caspar und Melchior gelungen, einen Großteil ihres Vermögens ins Ausland zu schaffen. Balthasar war im Vergleich zu den beiden ein armer Schlucker. Doch er hatte den Stern über dem Stall von Bethlehem entdeckt, seine Kollegen zu Jesus geführt und ihnen zu ihrem Ruhm verholfen. Deshalb unterstützten sie ihn und ließen ihn bei sich wohnen – auch wenn sie manchmal über den König-ohne-Land lästerten. Dass sie selbst nichts anderes waren, hatten sie offenbar völlig vergessen.

Die drei lebten immer noch auf großem Fuß – in einem riesigen Palast, in dem er sich fast verlaufen hatte, als er einmal bei ihnen eingeladen gewesen war. Und sie kannten viele Reiche und Mächtige, die sich gerne mit dem alten Adel und ehemaligen Königen schmückten. So gehörte auch der ehemalige italienische Präsident zu ihrem illustren Bekanntenkreis. Es gab Fotos von gemeinsamen feuchtfröhlichen Feiern und Berlusconi war seinen berühmten Freunden gewiss gerne behilflich, wenn es darum ging, ihre Version der Weihnachtsgeschichte alle Jahre wieder über sein Medienimperium zu verbreiten.

Befana hatte beim letzten Treffen beantragt, einen historischen Arbeitskreis einzusetzen, der die Geschichte der Gabenbringer aufarbeiten sollte. Aber die Delegierten hatten es abgelehnt, sich damit zu beschäftigen. Wer dagegen gestimmt hatte, wusste niemand so genau, die Abstimmung war geheim gewesen und Befana hatte behauptet, es sei dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen. Niemand hatte ihr geglaubt oder zumindest hatte niemand sie unterstützt, als sie forderte, die Abstimmung zu wiederholen. Auch er nicht. Ihm waren erst im Nachhinein Zweifel gekommen, als einige Kollegen ein paar Monate später mit neuen, hypermodernen Schlitten durch die Gegend fuhren, ihre Häuser modernisieren oder sich gar ganz neue Häuser und Werkstätten bauen ließen. Ein afrikanischer Kollege, der bislang in einer kleinen Hütte ohne Strom und fließendes Wasser gelebt hatte, empfing ihn bei seinem nächsten Besuch in einer prächtigen Villa, die offensichtlich vom gleichen Architekten entworfen worden war wie der Palast der drei Könige. Er ließ sich von gut einem Dutzend Hausangestellte bedienen und auch die Geschenke fertigte er nicht mehr selbst. Als er nachgefragt hatte, hatte der Kollege etwas von staatlicher Förderung und dringend notwendigen Investitionen erzählt – und dann ganz schnell das Thema gewechselt.

Father Christmas strich mit der Hand durch seinen langen weißen Bart. Wahrscheinlich hatte er beim letzten Treffen einen Fehler gemacht. Er hätte Befana unterstützen sollen. Seit Jahren plagte ihn das schlechte Gewissen; weil er es nicht getan hatte. Es war auch seine Schuld, dass sie jahrelang jeden Kontakt zu den anderen Gabenbringern abgelehnt hatte. Immerhin war sie nicht aus dem Verband ausgetreten. Als sie zugesagt hatte, an diesem Treffen teilzunehmen, war er sehr erleichtert gewesen. Schließlich waren Befana und die Heiligen Drei Könige die ältesten Gabenbringer. Und Befana war eine der wenigen Frauen, die in diesem Beruf arbeiteten. Es hätte in der Öffentlichkeit keinen guten Eindruck gemacht, wenn ausgerechnet sie nicht dabei gewesen wäre. Oder wenn der Streit eskalieren würde. Das Treffen war zwar geheim, aber man wusste nie, ob nicht doch etwas an die Öffentlichkeit dringen würde. Einige seiner Kollegen pflegten ein sehr enges Verhältnis zu den Medien. Und andere posteten hemmungslos Fotos von sich auf Facebook oder Instagram. Vor allem die Weihnachtskerle aus Island machten mit ihren Smartphones ständig Selfies. Es war wirklich nervig.

Father Christmas seufzte. Er zweifelte, dass sie sich an das Veröffentlichungsverbot halten würden. Es würde nicht leicht sein, den Kongress ohne Streit über die Bühne zu bringen. Deshalb war er froh, dass die vier jetzt in verschiedene Richtungen davonmarschierten; die drei Könige in ihre Zimmer, Befana in Richtung See, um sich nach dem langen Flug die Beine ein bisschen zu vertreten oder wahrscheinlich eher, um den dreien aus dem Weg zu gehen.

Befana stapfte durch den Schnee und sah sich um. Das Orga-Team hatte wirklich ein schönes Hotel ausgesucht. Es lag mitten im Wald, direkt an einem kleinen See. Und es hatte einen guten Ruf. Oder gehabt. Es war ein bisschen in die Jahre gekommen; die Zeit, in der es schick war, im Seehotel seinen Winterurlaub zu verbringen, war wohl vorbei. Die Bewertungen auf den Portalen waren unterschiedlich. Ein bisschen altmodisch, aber gemütlich, urteilten die einen, verstaubt und antiquiert nannten es andere weniger freundlich. Gelobt wurden besonders das gute Essen und der freundliche Service. Sie freute sich auf beides, wollte sich nach all dem Stress der letzten Wochen einfach mal bedienen lassen. Vielleicht war es ja auch möglich, dem Koch zuzusehen. Sie kochte leidenschaftlich gerne und wenn sie Zeit hatte, sah sie sich die Kochsendungen nachmittags im Fernsehen an. Wenn sie Zeit hatte. Befana seufzte. Ihr letzter entspannter Fernsehnachmittag lag schon Wochen zurück. Und mit ihren Freundinnen gekocht hatte sie schon ewig nicht mehr. „Das hole ich nach, sobald ich zu Hause bin“, sagte sie zu sich selbst. Vielleicht würde sie ihnen ja dann ein neues Gericht servieren können.

Befana blieb am Zaun stehen. Die Kamele standen um die Tränke herum, kauten und soffen abwechselnd, die Pferde und Rentiere schauten ihnen zu und stießen sich gelegentlich an, offenbar beeindruckt von der Wassermenge, die die großen Tiere schluckten. Nur den Esel des deutschen Nikolaus schienen die neuen Weidegenossen nicht zu interessieren. Er stand allein direkt am Zaun.

„Iaaah, iaaaah.“ Das laute Geschrei des alten Esels riss Befana aus ihren Gedanken. Es war wirklich noch der alte Graue von damals. Sie freute sich, ihn wiederzusehen. Aber er tat ihr auch ein bisschen leid. Eigentlich hatte der Esel schon beim letzten Treffen vor vielen Jahren sein Gnadenbrot verdient. Es war für die Tiere wirklich harte Arbeit, all die Geschenke auszuliefern – vor allem, wenn sie wie der arme Nikolaus-Esel alles auf dem Rücken tragen mussten. Die Rentiere der Weihnachtsmänner und auch die Schimmel von Sinterklaas hatten es leichter. Sie zogen die Last auf Schlitten hinter sich her, außerdem waren es immer mehrere, die sich die Arbeit teilten.

Sie hätte es sich denken können: Nikolaus konnte sich schon früher nicht von alten Sachen trennen – und er hatte sich im Alter gewiss nicht geändert. Meist trug er seine Stiefel und Kleider, bis sie ganz verschlissen waren, und das Geschirr in seinem Schrank war ein Sammelsurium von Tassen und Tellern, von denen kein Stück zum anderen passte. Einmal hatte Holle eine uralte Mütze von Nikolaus in den Altkleidersack gesteckt – aber Nikolaus hatte sie entdeckt, bevor der Sack abgeholt wurde und es hatte einen Riesenkrach gegeben. Dabei lagen schon damals in seinem Schrank mindestens 30 Mützen, wohlsortiert und nach Farben geordnet. Seine Mutter schickte ihm alle paar Jahre eine neue. „Wahrscheinlich hat Nikolaus inzwischen einen ganzen Schrank voller Mützen“, dachte Befana – und schlug sich erschrocken die Hand auf den Mund, als sie ihre eigene Stimme laut und deutlich vernahm. Rasch sah sie sich um: Hoffentlich hatte sie niemand gehört. Ihre Gabenbringer-Kollegen behandelten sie ohnehin von oben herab, sie wollte ihnen keine Gelegenheit geben, sich über „die schrullige Alte“ lustig zu machen. Aber zum Glück war niemand in der Nähe. Die Könige waren sicher immer noch damit beschäftigt, ihre Koffer auszupacken. Und die anderen saßen wahrscheinlich schon zusammen und tauschten Neuigkeiten aus. Sie hatte eigentlich weder Lust auf gemütliches Zusammensein noch auf die endlosen Reden der Weihnachtsmänner. Aber ihre Freundinnen hatten ihr gut zugeredet: „Es wird höchste Zeit, dass du mal wieder rauskommst. Du vergräbst dich zu sehr“, hatten sie gesagt.

Sie hatten Recht, sie war zu viel allein. Ihr Häuschen lag abseits in einem Wald, selbst im Sommer verirrten sich nur selten Wanderer dorthin. Und auch mit ihren Hexenschwestern traf sie sich nur noch selten. Sie waren mit den Jahren bequem geworden. Statt sich wie früher zu besuchen, tauschten sie jetzt per Messenger oder Whatsapp Nachrichten und Fotos aus oder sie skypten miteinander. Die jungen Hexen kannten es gar nicht mehr anders. Das Internat war im letzten Jahr geschlossen worden. Die meisten Eltern ließen ihre Kinder jetzt online unterrichten und meldeten sie nur noch zu den Seminaren mit praktischen Übungen an. Befana seufzte. Eigentlich schade.

Daran, dass immer weniger Hexen ins Internat wollten, hatten auch die Bücher über die Hexenschule in Hogwarts nichts geändert. Im Gegenteil. Vielleicht hatten sie den Niedergang des richtigen Hexeninternats sogar noch beschleunigt. Die Harry-Potter-Bücher waren nämlich nicht nur bei Menschenkindern sehr beliebt, sondern auch bei jungen Hexen. Immer, wenn sie ihre Weihnachtsbestellung aufgab, musste Befana einige Exemplare für ihre Freundinnen oder deren Kinder mitbestellen. Die Nachwuchshexen waren ganz begeistert von Harry Potter und Co – und dann enttäuscht darüber, wie langweilig es im richtigen Internat zuging. Auch Jungs gab es da keine. Hexerei war Frauensache – die wenigen männlichen Hexen hatten sich nie für die Schule interessiert. Den Hexenschülerinnen war es im Internat nicht abenteuerlich genug, ihre Eltern hatten dagegen Angst, dass ihren Kindern dort ähnliche Gefahren drohten wie Harry Potter und seinen Freunden in Hogwarts. Vor allem Mütter, die selbst keine Hexen waren, befürchteten das Schlimmste. Sie hatten sich fast immer für den Online-Unterricht entschieden, auch weil ihre Töchter dann ganz normale Schulen besuchen konnten und sich später meist für ein ganz normales Leben entscheiden würden.

„Iaahh.“ Der Esel hob den Kopf und sah Befana entgegen. Ob er sich wohl noch daran erinnerte, dass sie seine Wunde geheilt hatte? Beim letzten Gabenbringer-Treffen hatte einer der Schimmel, mit denen Sinterklaas und sein Gefolge reisten, den alten Esel in den Hals gebissen. Die Wunde hatte stark geblutet und Befana hatte Kräuter auf die Wunde gelegt, damit sie sich nicht entzündete.

„Na Grauer, wollen die anderen immer noch nichts mit dir zu tun haben?“, fragte sie ihn und kraulte ihn hinter seinen langen Ohren. „Erkennst du mich noch, ich bin‘s, Befana.“ Beim letzten Treffen hatte sie den alten Esel oft besucht und ihm ihr Leid geklagt. Er hatte zugehört, stumm und, wie ihr schien, verständnisvoll. Denn er war genauso allein wie sie. Die Pferde und Kamele hatten Abstand gehalten. Sie hatten hochmütig auf den Esel herabgeblickt und sich über ihn lustig gemacht. Wenn er versuchte, sich ihnen zu nähern, traten sie aus oder galoppierten einfach davon. Der alte Esel schien einen Moment nachzudenken. „Iaah“, antwortete er dann. Er machte einen Schritt auf sie zu, stupste sie mit seiner Nase vorsichtig an und hielt ihr seinen Hals hin. Der Biss hatte eine Narbe hinterlassen. Das Fell war an dieser Stelle nicht mehr nachgewachsen. Befana streichelte sanft über die Stelle. Der Graue hielt einen Moment still, dann versuchte er, seine Nase in die Tasche ihrer Jacke zu stecken. Befana lächelte.

„Daran erinnerst du dich also auch noch. Aber ich habe jetzt keine Mohrrübe dabei, ich bin gerade erst gelandet, weißt du. Aber ich komme morgen wieder und bringe dir was mit, versprochen.“ Der alte Esel nickte verständnisvoll und blies ihr seinen warmen Atem ins Gesicht.

Die wahre Geschichte der Weihnachtshexe Befana

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