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Kapitel 1

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Katharina erwacht. Sie öffnet die Augen, orientiert sich. Es ist noch dunkel im Zimmer, aber durch die kleinen Schlitze des Rollladens dringt der Schein des frühen Morgens in ihr Schlafzimmer. Sie versucht abzuschätzen, wieviel Uhr es sein könnte, so wie sie es jedes Mal macht beim Aufwachen, und tippt auf 6.15 Uhr. Sie räkelt sich behaglich, greift gemächlich mit der rechten Hand nach dem Handy, das auf ihrem Nachttisch liegt, und schaltet es ein. 6.22 Uhr steht groß leuchtend auf dem Display. Sie ist zufrieden, hat gut geschätzt und hat noch 8 Minuten, bis das Handy klingeln wird, um sie zu wecken, was ja nun nicht mehr nötig ist. Sie kann noch liegen bleiben in der warmen Höhle, in die sich ihr Bett mit der karierten Bettdecke durch den Schlaf während der langen Nacht verwandelt hat.

Langsam verblassen die Traumbilder, die sie in die Grundschule zurückversetzt hatten in ein Klassenzimmer voller lärmender Schüler, in deren Mitte sie sich unwohl gefühlt hatte. Die Schüler waren ihr nicht vertraut gewesen, und auch der Lehrer nicht, der ihnen allen eine Aufgabe gestellt hatte, mit der sie nichts anfangen konnten. Katharina schiebt den Traum bei Seite. Sie möchte jetzt an den bevorstehenden Tag denken. Sie weiß ohne zu überlegen, dass es ein Mittwoch ist, dass sie aufstehen und schnell frühstücken wird, dass sie sich um 10 nach 7 auf den Weg zur Arbeit machen muss. Die restlichen 4 Minuten bleibt sie schlaftrunken liegen, dämmert noch ein bisschen vor sich hin, bis sie dann beim ersten Ton des Handyweckers diesen ausschaltet und beherzt das Bett verlässt.

Im Badezimmer ist es warm. Das helle Licht erschreckt sie wie jeden Morgen. Sie fährt mit der täglichen Routine fort, Toilette, Schlafanzug ausziehen und an den Haken neben der Tür hängen, auf die Waage stehen, die nichts Überraschendes anzeigt, Dusche anschalten und warten, bis das Wasser eine angenehme Temperatur hat. Hinein-zusteigen kostet sie wie immer einen Moment der Überwindung, aber wenn dann das Wasser über Kopf und Körper läuft, fühlt sie sich wohl. Haare waschen, Spülung einmassieren, sich mit dem Duschgel einseifen, Spülung auswaschen. Fertig. Schnell trocknet sie sich ab und schlüpft in die Kleidung, die sie sich am Vorabend schon auf den Hocker hingerichtet hat. Katharina begibt sich nun barfuß zügig in die Küche. Auch hier Routine: Kaffee aufsetzen, Müsli, Milch und Nüsse in eine Schale kippen, im Stehen in der Küche noch schnell ein Glas Orangensaft trinken wegen der Vitamine, die man in der dunklen Jahreszeit brauchen kann, und dann mit der duftenden Kaffeetasse in der einen, dem Müsli in der anderen Hand ins Wohnzimmer gehen, wo der kleine Esstisch mit den zwei Stühlen auf sie wartet. Eben hat sie sich hingesetzt und den ersten Schluck Kaffee getrunken, als das Telefon klingelt. Seltsam um diese Zeit. Sie meldet sich mit noch eingerosteter Stimme, muss sich vorher räuspern. „Staudensee.“ Sie spricht ihren Namen mit fragender Betonung aus, eher wie „Staudensee?“.

Eine ihr fremde männliche Stimme sagt: „Guten Morgen Frau Staudensee, bitte entschuldigen Sie die frühe Störung. Hier spricht Thomas Mildenberger. Ich bin der Bruder von Erika Wacker.“

Er macht eine Pause, und in Katharinas Kopf überschlagen sich die Gedanken. Was ist los mit Frau Wacker, ihrer Chefin? Warum ruft dieser Mann an? Dass sie einen Bruder hat, wusste sie überhaupt nicht. Er fährt fort:

„Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, meine Schwester ist heute Nacht bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“

Katharina erschrickt. Im selben Augenblick fällt ihr Leben wie ein Kartenhaus zusammen. Frau Wacker, die gestern noch geschäftsmäßig und unnahbar wie immer die Boutique abgeschlossen hatte. Von der sie sich vor der Tür verabschiedet hat. Gestern war Dienstag. Mittwochs öffnet immer Katharina den Laden, Frau Wacker kommt üblicherweise etwas später. Und jetzt?

„Wie… das ist ja schrecklich… was ist denn passiert?“ stammelt Katharina. Ihr Gesprächspartner berichtet in gefasstem Ton, dass es gegen 23 Uhr einen Frontal-zusammenstoß zweier Fahrzeuge gegeben habe. Seine Schwester sei wohl auf regennasser Fahrbahn von der Spur abgekommen und auf einen entgegenkommenden Liefer-wagen geprallt. Den beiden Insassen des großen Fahrzeugs sei nichts passiert.

„Erika war auf der Stelle tot.“

Seine Stimme bebt, als er weiterspricht:

„ Wir müssen jetzt in der Familie in Ruhe klären, wie es nun weitergehen soll. Niemand aus unserem Umfeld kann die Modeboutique weiterführen. Da Sie die einzige Mit-arbeiterin sind, sollen Sie das jetzt gleich erfahren. Es wird wohl einige Zeit dauern, bis wir eine endgültige Ent-scheidung getroffen haben. Die Boutique wird aber auf alle Fälle bis auf weiteres geschlossen bleiben. Machen Sie sich bitte keine Sorgen, Ihr Gehalt bekommen Sie noch für eine Übergangszeit.“

Nach zwei, drei weiteren belanglosen Sätzen beenden sie das Telefonat. Katharina bleibt erstarrt sitzen und trinkt mechanisch, ohne den Geschmack wahrzunehmen, ihre Kaffeetasse aus. Das Müsli rührt sie nicht an. Wirre Gedanken schwirren ihr durch den Kopf. Regennasse Fahrbahn. Ja, gestern hat es geregnet. Erinnerungen an Frau Wacker, wie sie gestern im blassgelben Kostüm und mit perfekt sitzender Hochsteck-Frisur die Bestellungen für die neue Sommermode fertiggestellt hatte, wie Katharina ihr beim Abschied nachgesehen hatte, als der Wind ihre Frisur zerzauste, wie Frau Wacker letzten Sommer einmal eine von Zahncreme verschmierte Unterlippe gehabt hatte, als sie morgens den Laden betrat. Frau Wacker, die sie noch nie laut hatte lachen hören. Die zwar immer freundlich gewesen war, aber nie etwas Persönliches erzählt hatte. Nun war sie tot.

Langsam steigt in Katharina Panik auf, als ihr die Tragweite dieser Nachricht mehr und mehr bewusst wird. Was hat der Bruder von Frau Wacker gesagt? Der Laden soll geschlossen bleiben? Katharina schüttelt den Kopf, ungläubig. Wie soll es denn jetzt weitergehen? Die Mode-boutique war seit so vielen Jahren eine feste Größe in ihrem Leben. Sie steht auf, geht unruhig im Zimmer auf und ab.

Dann schaut Katharina an sich herunter. Die Kleidung, alles in den Naturtönen ocker, beige und dunkelbraun gehalten, hatte sie für den Arbeitstag gewählt. Auch die Kette und die Ohrringe waren farblich darauf abgestimmt. Nun fühlt sie sich schlagartig unwohl in diesem Outfit. Sie schlüpft aus der frisch gebügelten Bluse und tauscht sie gegen ein bequemes ausgeleiertes Sweatshirt, auch den Schmuck legt sie ab. Schick angezogen muss sie nun heute wirklich nicht mehr sein. Katharina geht in die Küche, kocht sich noch einen Kaffee, schäumt Milch auf, schaltet das Radio ein und setzt sich im Wohnzimmer in ihren bequemen Ohrensessel, um in Ruhe nachzudenken.

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