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Kapitel 1 Ein Seltsamer Ausflug
ОглавлениеEin blasser Halbmond betrachtete gelassen das bunte Treiben an der Gaststätte im Carter-Tal. Es war kühl für einen Frühlingsmorgen, aber das konnte sich schnell ändern. Auf dem Parkplatz wimmelte es nur so von ungeduldigen Schülern. Viele hörten der Rede Dr. Broadbents nur mit halbem Ohr zu. Einige gähnten. Wann ging’s denn endlich los?
“Meine Damen und Herren, ich hoffe doch sehr, wir verstehen uns. Bitte denken Sie daran - auf keinen Fall in die Nähe des Abgrunds gehen. Immer schön auf dem Fußweg bleiben. Ich erwarte jeden von Ihnen zur Mittagszeit gesund und munter oben auf dem Hügel wiederzusehen.”
Der Direktor der ‘Pemberton Akademie für Fortschrittliches Lernen’, einer bekannten Schule für begabte Kinder, wollte sichergehen, dass seine Anweisungen auch befolgt wurden.
“Also, bleiben Sie auf dem Fußweg... auch Sie da drüben!” Ein erschrockener Schüler sprang schnell wieder auf den steinigen Pfad zurück. “Denken Sie daran, was dem armen Tom Fraser passiert war...”
Allgemeines Gemurmel. Alle wussten natürlich, dass Tom Fraser hier vor drei Jahren von einer Felsenkante abgestürzt war. Zum Glück war dem armen Tropf nicht viel passiert.
“Na bitte,” sagte Dr. Broadbent mit einem zufriedenen Ausdruck. “Die unteren Klassen gehen mit Dr. Naidoo und Herrn Van Straten. Die Oberstufe bitte hier zu meiner Linken aufstellen. Sie wandern mit Frau Meyer und Dr. Wilkins.”
Dr. Naidoo war so kurz gewachsen, dass sie im allgemeinen Durcheinander fast unterging. Sie versuchte sich mit schriller Stimme bemerkbar zu machen, “Victor und Brandon, kommt sofort wieder zurück.”
Dr. Broadbent strich sich die spärlichen Haarsträhnen aus der glänzenden Stirn und teilte die Schüler in ihre Gruppen ein. Bald bewegten sich mehrere ordentliche Kolonnen den Hügel hinauf. Nur drei Siebtklässler bummelten hinterher.
Chryséis Cromwell schien sich das Fußgelenk verstaucht zu haben und setzte sich auf eine Holzbank. Ihre besten Freunde, Katherine und Trevor, setzten sich neben sie und sahen zu, wie die anderen vorbei liefen.
“Heh Faulpelze, was macht Ihr denn noch hier?” wurden sie gehänselt.
Chryséis verzog ihr Gesicht im vermeintlichen Schmerz, rieb sich den Fußknöchel und klagte, “Autsch, das tut vielleicht weh!”
Chryséis Cromwell war elf und hatte verschmitzte Sommersprossen auf der Stupsnase. Ihre sonst so kecken hellblauen Augen nahmen einen leidenden Ausdruck an und der blonde Pferdeschwanz wippte zitternd, wenn jemand zu ihr hinsah.
Katherine MacDougal war zwölf und recht hübsch mit ihren langen dunklen Haaren. Sie kam aus England und war, wie Chryséis meinte, viel zu schüchtern. Dagegen war die jüngere Chryséis enorm selbstbewusst und hatte zu absolut allem eine Meinung.
Der dritte im Bunde war der stille Trevor Huxley. Er war zwölf, genau wie Katherine, und hatte ein Stipendium für Pemberton.
Es war schwierig an eine so exklusive Schule aufgenommen zu werden, aber es half, dass Trevor ziemlich schlau war. Seine Eltern hatten ihren begabten Sohn nie so recht verstanden. Es war nur ein großer Vorteil kein teures Schulgeld bezahlen zu müssen. Und seit der Scheidung war es für alle das Beste, wenn er auf ein Internat ging.
Trevor war ein Träumer. In seiner bunten Gedankenwelt konnte er machen was er wollte. Mal schnell auf Sonnenstrahlen aus dem grauen Chicago in den afrikanischen Dschungel hinüberfliegen, zum Beispiel, oder sich eine Alternative zu Waschmaschinen ausdenken, oder im blauen Mittelmeer herumsegeln. Und wenn ihm danach war, ging er schon mal in Gedanken auf Zeitreise ins alte Rom. Sowas wie heute hatten die drei aber noch nie gemacht. Dafür gab es einen guten Grund. Und so saßen sie eine Weile auf der Holzbank und warteten.
Es dauerte nicht lange, bis einer der Lehrer mit ernster Miene vor ihnen stand, um nach dem Rechten zu sehen. Darauf waren die Freunde natürlich längst vorbereitet. Trotzdem begann Katherine so nervös herumzurutschen, dass Trevor sie zweimal mit dem Fuß anstoßen musste. Würde Dr. Wilkins ihnen den verstauchten Knöchel abkaufen oder merkte er, was sie im Schilde führten?
“Und was ist das?” fragte der Lehrer. “Chry-se-is Cromwell, solltest du nicht bei deiner Gruppe sein?“
“Ich bin grade über den Stein da gestolpert,” klagte Chryséis.”Es tut weh.”
Sie zeigte auf einen Stein am Boden. Der Lehrer blickte nicht mehr ganz so strafend drein und starrte auf die Stelle, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken.
“Aha,” sagte Dr. Wilkins und kratzte sich an der langen Nase. Zum Glück mochte er Chryséis. Ausgezeichnete Schülerin, und ihre Mutter, Professor Cromwell, schrieb immer so interessante Artikel für eine wissenschaftliche Zeitschrift, die er schon mal gern als leichte Bettlektüre las.
Er beschloss Chryséis die Geschichte zu glauben und warf dem armen Mädchen einen aufmunternden Blick zu. Sie sollte in der kleinen Gaststätte bis zum Nachmittag auf die Rückkehr der anderen Schüler warten.
“Ihr beiden —” er winkte Katherine und Trevor zu sich. “Ihr kommt jetzt mit mir mit.”
Oh nein, sie mussten unbedingt zusammen bleiben!
Laut Plan durften sie sich auch nicht in der Nähe von Gebäuden und Autos oder Menschen aufhalten. Elektromagnetische Störungen war so ziemlich das Letzte, was sie bei ihrem Experiment brauchten. Je schneller der Lehrer ging, desto besser.
“Emm, Dr. Wilkins,” sagte Chryséis mit tapferer Stimme. “Ich wäre ja so gerne beim Picknick auf dem Hügel dabei. Vielleicht sollten wir einfach langsam weitergehen. Meine Freunde werden mir schon helfen. Es tut auch nicht mehr so sehr weh.” Sie stellt sich auf wackelige Beine und lächelte. Es funktionierte!
Dr. Wilkins gab ihnen die Erlaubnis, hinter den anderen herzulaufen. “Na gut,“ sagte er und schärfte Trevor und Katherine ein, gut auf Chryséis aufzupassen. Dann lief er schnell seiner Gruppe hinterher, um Frau Meyer dabei zu helfen ein paar Schüler auf den Pfad zurückzuscheuchen.
Dr. Wilkins drehte sich kurz um und sah, wie Chryséis sich auf Trevors Arm stützte und erwartungsgemäß humpelte. Dann ging er an die Spitze seiner Gruppe und war bald hinter einer Felswand verschwunden.
“Puh, na endlich!” sagte Katherine erleichtert.
Chryséis bückte sich und massierte ihr Fußgelenk. Sie erholte sich in Rekordzeit. “Ich werde wirklich noch ganz lahm, wenn das noch lange so weitergeht... was machen wir jetzt?”
Trevor blieb stehen und besah sich den Hügel. Er zeigte auf ein paar Felsen. “Seht ihr da drüben auf der rechten Seite, wo sich der Weg gabelt?”
“Ja... und?!”
Trevor hatte den richtigen Ort schon vorausgeplant. Ideal für ihre Zwecke. Leider auch genau am Abgrund, aber das ließ sich eben nicht ändern.
“Wir sollen doch nicht so nahe an den Abgrund gehen,” sagte Katherine sofort. Ihr Magen schmerzte vor Aufregung. “Was ist, wenn wir erwischt werden? Und was ist mit Tom Fraser?”
“Was soll mit dem sein? Der ist doch immer über seine eigenen Füße gestolpert,” sagte Chryséis.
“Ja aber…”
“Mann Katie, wenn wir noch länger warten, können wir das Ganze vergessen.”
“Wir passen schon auf,” sagte Trevor einfach und begann loszulaufen. “Die anderen können uns hier nicht sehen. Zumindest nicht bis sie ganz oben auf’m Hügel sind. Und bis dahin sind wir längst wieder auf’m Fußweg.”
“Weiß ich doch,” meinte Katherine und beeilte sich, die beiden einzuholen. “Aber was machen wir, wenn sich da oben kein Portal öffnen will?”
Sie war immer noch skeptisch, obwohl sie sich wochenlang vorbereitet hatten.
“Ach hör’ schon auf.” Trevor wollte endlich zur Sache kommen und zwar heute noch! „Irgendwo muss sich hier doch eine Zeitschleife finden lassen!“
“Ja, wahrscheinlich,” murmelte Katherine und trottete hinterher.
“Immerhin hab’ ich letzte Woche schon eine Zeitschleife im Schulgarten gefunden, oder?” sagte Trevor.
Klar, das hatte sie nicht vergessen. Schließlich hatte Trevor es ihnen haarklein erzählt. Mehrmals. Es war seine Aufgabe gewesen, den Zeitportalsucher nachts im Schulgarten zu testen - und was für ein Test das gewesen war!
Erst erschien ein schimmernder, holoöafischer Vorhang, die immer größer wurde. Besser konnte Trevor die Krümmung im Zeit-Raum Kontinuum nicht beschreiben. Und dann hatte sich bei diesem ‘Vorhang’ eine Vortex aufgetan. Die soll sich gedreht haben wie ‘ne Waschmaschine im Schleudergang - und dann war Trevor reingesprungen. Einfach so!
Auf der anderen Seite wollte er ein großes ‘Ding’ gesehen haben, mit glänzenden Schuppen und dampfendem Atem. Es lag ausgestreckt vor ihm. Unheimlich!
Trevor hatte einen Mordsschrecken bekommen, als das ‘Ding’ sich auf einmal wellenförmig bewegte. Er drückte sofort auf den ‘Zurück’-Knopf und war, genau wie erwartet, zum gleichen Zeitpunkt zurückgekehrt an dem er losgereist war. Das vermeintliche Ungetüm konnte die drei nicht davor abschrecken, es nochmal zu versuchen. Immerhin war ‘ne richtige Zeitreise gewesen, egal wie kurz. Im Labor hatten sie sich dann ein paar Sicherheitsvorkehrungen ausgedacht. Und heute war’s Zeit für das erste gemeinsame Experiment. DAS Experiment.
Sie kletterten querbeet über Stock und Stein, bis sie vor einer steinernen Plattform standen. Sie war auf drei Seiten von Felsen geschützt und vom Weg aus völlig unsichtbar. Die vierte Seite war zum Tal hin offen. Genau was sie brauchten.
“OK, wir sind da,” verkündete Trevor.
“Denn mal los!” Chryséis holte tief Luft und sprang leichtfüßig auf die Felsplatte. Trevor und Katherine machten es ihr nach. Trevor ließ seinen Rucksack zu Boden gleiten und nahm gleich ein unscheinbares Objekt heraus. Es sah aus wie eine flache Metallbirne, die bequem in seine Hand passte. Chryséis hatte den Zeitportalsucher gleich ZPS getauft, und so hieß das Gerät jetzt.
Die drei waren mit Recht stolz auf ihr Werk. Es hatte einige Mühe gekostet den ZPS so gut hinzukriegen. Es hatte alles mit Katherines Physikprojekt begonnen. Genauer gesagt Quantenphysik, und zwar mit der Vakuum-Batterie. Die endlose Energiequelle. Erst war es Katherine gar nicht in den Sinn gekommen, diese Energiequelle zum Zeitreisen zu benutzen. Das war Trevors Idee gewesen und alles hatte sich dann irgendwie von selbst ergeben.
Es sollte den perfekten Beweis dafür liefern, dass die endlose Energiequelle auch funktionierte. Klar war das Projekt ungewöhnlich - aber soweit so gut. Das Experiment würde dieses Jahr bestimmt alle anderen Physikprojekte in den Schatten stellen.
Auf der rechten Seite hatte der ZPS eine Reihe schwarzer Knöpfe. Sie waren dazu da, die gewünschte Ziel-Epoche anzuwählen. Mit drei größeren, roten Knöpfen auf der linken Seite ließen sich Zeitreferenzen speichern. Als Erstes würden sie natürlich die Zeit der Abreise speichern. Eine Sicherheitsvorkehrung, die der Prototyp nicht gehabt hatte. Danach konnte ein anderer Knopf auf eine bestimmte Zeit eingestellt werden, die ihnen gefiel. Eine Art Abkürzung.
Dann war da noch ein großer weißer Knopf genau in der Mitte. Wenn man ihn drückte, wurde das Zeitportal geortet und dann aktiviert. Nach einer erfolgreichen Zeitreise zeigte ein kleiner Bildschirm oben die Anzahl der gereisten Jahre an. Im Moment war der Stand auf ‘0’.
Unter jedem der schwarzen Knöpfe befand sich ein winziger Aufkleber mit Zahlen. Die Zielepochen. Der Aufkleber unter dem obersten roten Knopf trug den Zeitpunkt der Abreise. 21. Februar 2015.
“Hier, ich hab’ für jeden ‘ne Kopie vom ZPS gemacht. Jede mit einer integrierten Vakuum-Batterie. Hier... und hier.”
Trevor gab jedem der Mädchen ihren eigenen Zeitportalsucher. Die Geräte sahen identisch aus und waren in durchsichtige Plastikfolie eingewickelt. “Hab’ sie in Sandwichtüten gepackt, damit sie nicht nass werden.”
„Ach so - hab‘ mich schon gewundert,” sagte Katherine“Das hast du gestern noch alles hingekriegt?”
“Gute Idee, Trev. Falls wir im Meer landen sollten oder so,” witzelte Chryséis und ließ den ZPS in ihre Jackentasche gleiten.
“Genau. Wenn wir einen verlieren oder der hier kaputt geht, haben wir noch die anderen als Reserve,” meinte Katherine.
“Der oberste rote Knopf ist die erste Zeitreferenz für heute. Das wisst ihr ja. Auf den müssen wir nachher alle gleichzeitig drücken, wenn’s losgeht,” fuhr Trevor mit ernsthafter Miene fort.
“Klar. Jetzt brauchen wir nur noch die VUs. Ein virtueller Unsichtbarkeitsumhang für jeden von uns.”
Chryséis öffnete ihre vordere Rucksacktasche. Schmale Haarreifen aus schwarzem Plastik kamen zum Vorschein. Mit einem winzigen Kästchen oben drauf und einem flachen Knopf an der Seite.
Die VUs waren das Beste überhaupt.
Chryséis und Katherine hatten sich das nach Trevors fast missglückter Zeitreise ausgedacht. Man wusste schließlich nie, was einen so alles erwartete. Das Prinzip war einfach und hatte etwas mit der Biegung von Lichtwellen zu tun. Falls es gefährlich wurde, drückte man einfach auf den flachen Knopf - und verschwand sofort.
Trevor hatte seinen VU morgens schon aufsetzen wollen, aber das wäre aufgefallen. Ein Junge mit 'nem Haarreifen beim Schulausflug!
Sie hatten auch beschlossen, die VUs im Zeitportal ausgeschaltet zu lassen. Das Risiko, dass was schiefgehen könnte mit den Frequenzen, war einfach zu groß.
“Verflixt nochmal.” Die Haarreifen hatten sich ineinander verfangen und Chryséis mühte sich ab, sie aus der Tasche zu bekommen. Katherine sah ihr besorgt zu.
“Mach schnell, Chris! Das dauert zu lange.”
“Ja, ja.”
Zu guter Letzt half sie ihr dabei die Plastikreifen zu entwirren. “Na bitte,” meinte Chryséis triumphierend. Jeder setzte einen Haarreifen auf. Ganz vorsichtig, um den flachen Knopf an der Seite nicht zu berühren.
“Jetzt kann’s endlich losgehen!” sagte Chryséis aufgeregt. Sie bemerkte nicht, wie blass Katherine geworden war.
‘Zeitreise’ - auf einmal klang das Wort wie ein bedrohliches Echo in Katherines Kopf. Ihr Mund war so trocken. Sie schluckte, aber der Kloß im Hals wollte nicht weggehen. Ausgerechnet jetzt bekam sie Panik!
Und zu allem Überfluss schoss ihr auch noch eine sehr beunruhigende Frage durch den Kopf: Konnte man prähistorische Luft eigentlich einfach so einatmen oder war das gefährlich? Der Gedanke war verrückt. Das ganze Experiment war verrückt. Gefährlich sogar!
Katherine schluckte verzweifelt und kämpfte gegen den unwiderstehlichen Drang an davonzulaufen. Dafür war es jetzt aber zu spät. Sie konnte ihre Freunde nicht im Stich lassen.
Trevor hatte schon den großen weißen Knopf seines ZPSs aktiviert und war dabei, eine geeignete Stelle zu finden. Mal peilte er diesen Fels an, mal jenen. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass gleich etwas passieren würde. Und tatsächlich, das graue Gestein vor ihm begann plötzlich zu schimmern. Ein Vorhang wie damals im Schulgarten. Ein Portal zum Raum-Zeit Kontinuum!
“Ich hab’s ja gewusst!” rief er.
Katherine starrte wie gebannt auf die vibrierende, schimmernde Stelle. Eine Zeitschleife, das musste eine Zeitschleife sein!
“Los, jetzt alle zusammen.” Auf Trevors Signal hin pressten sie den obersten roten Knopf durch das Plastik hindurch, um die heutige Zeitreferenz einzuloggen. Geschafft. Der erste Schritt war gelungen.
“Ich aktiviere jetzt. Macht euch fertig.”
Die Mädchen hielten sich an der Hand und Trevor drückte zum zweiten Mal auf den großen, weißen Knopf.