Читать книгу Singende Eidechsen - Evadeen Brickwood - Страница 10
Kapitel 1
ОглавлениеWarum musste ich ausgerechnet jetzt an Botswana denken? Nur einen kurzen Moment lang hatte ich durch das große Fenster auf meinen dampfenden Johannesburger Garten hinausgesehen. Auf dem Avocadobaum und den pinken Proteabüschen glitzerten noch Regentropfen vom Sommergewitter letzte Nacht. Ich sollte mich lieber auf die dringende Übersetzung vor mir auf dem Schreibtisch konzentrieren. Ein Scheidungsurteil.
Das Telefon klingelte. “Ja, Hallo.”
“Kann ich bitte mit Bokkie sprechen?”
“Ehem, es gibt hier keinen Bokkie.”
“Aber das ist doch Bokkies Nummer.”
“Tut mir leid, aber Sie haben die falsche Nummer gewählt.”
“Oh – sorry.”
“Kein Prob —“ Der Mann hatte schon aufgelegt.
Ich kannte mal einen Bokkie in Botswana… ein unangenehmer Bursche. Da war er wieder - der Gedanke an Botswana hatte sich einfach so angeschlichen.
Als meine Schwester Claire beschloss dort zu arbeiten, wusste ich noch nicht mal, dass es das afrikanische Land Botswana gab. Mir wurde allein beim Gedanken an Afrika schon mulmig. Vor allem das südliche Afrika, mit seinen riesigen Flächen durstiger Wüste, erschien mir nicht sehr einladend. Claire hatte das nicht gestört. Es war genau was sie wollte. Dann verschwand sie in Afrika am 16. Juli 1988.
Vermisst - was für ein hässliches Wort. Oh, wie sehr ich Claire vermisste! Ich musste wohl vorübergehend den Verstand verloren haben. Warum sonst hätte ich einfach so die Zelte in England abgebrochen und wäre Halsüberkopf nach Afrika gegangen? Ich nahm damals meinen ganzen Mut zusammen; musste mich selbst davon überzeugen was passiert war. Anfangs beunruhigte mich vor allem die Stille. Der westliche Rhythmus vibrierte noch tief in mir, und ich brauchte eine Weile bis ich gelernt hatte der Stille zuzuhören.
Das Telefon klingelte wieder. Warum klingelte das Telefon immer dann, wenn man keine Lust zum Reden hatte?
“Hallo?”
“Kann ich mit Bokkie sprechen?”
“Falsche Nummer.”
Diesmal legte ich auf. Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch beim Fenster und blickte in den Garten hinaus. Ein gelber Webervogel zog grüne Streifen von einem Palmblatt ab, um sein Nest an der Spitze eines wippenden Zweigs zu flechten. Meine Gedanken schweiften.
Ganze zwei Wochen hatte es damals gedauert bis wir von Claires Verschwinden erfahren hatten. Zwei lange Wochen!
In ihrer neuen Firma hatte man doch tatsächlich geglaubt, dass Claire einfach noch ein paar Tage an ihre Kurzreise ins Okavango Delta dran gehängt hatte. Angeblich machten das alle so. Es war auch ganz normal in Afrika dauernd zu spät zu kommen.
Ich wusste es damals noch nicht - dass die Zeit in einem Land wie Botswana langsamer vergeht. Ein paar Tage hier und da machten keinen Unterschied. ‘African time’ nannte man das. Deshalb war niemand wirklich beunruhigt gewesen. Es verstrichen Tage, bis endlich die Polizei in Botswana eingeschaltet wurde. Dann Scotland Yard. Hätte es einen Unterschied gemacht - die Zeit?
Die Erinnerung an das Jahr vor Botswana war bittersüß Wir nannten uns gegenseitig liebevoll Fumpy. Sogar noch im Alter von 22 Jahren. Wahrscheinlich haben alle Zwillinge so komische Ausdrücke, die nur sie selbst verstehen können.
Ich bin Bridget und um ganze zwei Minuten die ältere Schwester. Wir haben zwar dieselben blau-grünen Augen, aber Claire ist blond und zierlich (genau wie Mom). Ich schlage mehr nach der Familie meines Vaters, bin größer und brünett. Mein Gesicht ist rundlicher, meine Haut rosiger.
Wir waren wandelnde Gegensätze und Claire hatte mir einiges voraus. Sie lächelte immer und war überall beliebt. Ich war ernst und zurückhaltend. Um Claire scharten sich die Jungs, was sie mit selbstbewusster Gleichgültigkeit hinnahm. Sie hatte ja meist einen festen Freund. Ich war eher schüchtern, schätzte eine kleine Gruppe von Freundinnen und ließ mich auf halbherzige Affären ein.
Sie wollte reisen. Nach Kalifornien, Dänemark und Peru. Wir waren gerade mit unserer Freundin Liz in Peru gewesen. Für ganze drei Wochen! Ich hatte danach eine Zeit lang genug vom Reisen, aber Claire wollte mehr.
Ich war zufrieden mit meinem ruhigen Leben in England. Claire war Bauzeichnerin und ich hatte meine Arbeit als freiberufliche Übersetzerin.
Jeden Winkel unserer Kleinstadt kannte ich, weit entfernt vom Gedränge der Großstadt. Mir gefiel alles an Cambridge. Die moosbewachsenen Dächer und die mittelalterliche Atmosphäre, der Weihnachtschor bei Kerzenschein im King’s College; die Bootsleute, die auf dem Fluss unter den Brücken herum gondelten.
Warum sollte ich woanders hinwollen? Die Welt war groß und angsteinflößend und voll unverständlicher Dinge.
Nach der Peru-Reise machte Claire ernsthafte Pläne Cambridge zu verlassen. Claire hatte es sich in den Kopf gesetzt, einen zweijährigen Vertrag mit einer internationalen Baufirma zu unterschreiben und nach Botswana zu ziehen. Botswana war ganz unten in Afrika! Ein Ozean und ein Kontinent würden zwischen uns liegen. Ich konnte es mir kaum vorstellen. Und überhaupt - was war mit mir?
Pierre Boucher war daran schuld gewesen! Wenn er ihr nicht den ganzen Schmu vom verlockenden südlichen Afrika erzählt hätte, wäre Claire nie auf die Idee gekommen dort hinzuziehen. Claire und Pierre Boucher waren zusammen in London aufs College gegangen. Er hatte dann seine Tswana-Freundin geheiratet, und die beiden waren nach Botswana gezogen.
Claire hatte sich vor kurzem mit Pierre und Karabo in London wiedergetroffen. Sie erfuhr bei dieser Gelegenheit von dem großen Haus in Francistown. Mit Swimmingpool, Hausmädchen und Gärtner und allem pi pa po. Von der einmaligen Landschaft und der Stille mal ganz zu schweigen.
Auf einmal musste Claire einfach dorthin, in dieses fabelhafte Land. Sie wollte den lässigen Lebensstil genießen, die Freiheit, die weite Steppe sehen, die Tierwelt, den unendlichen Himmel.
Claire machte keine halben Sachen, sie bewarb sie sich bei einer Auslandsvermittlung um einen Job in Botswana - und wurde sofort angenommen.
Ein Traum wurde für sie wahr. Ein Albtraum für mich.
Es nutzte alles nichts, weder Klagen, noch Vorwürfe, noch Drohungen. Claire ließ sich nicht von ihrer Entscheidung abbringen. Ich versuchte tapfer, sie zu unterstützen. So sehr ich unter ihrer Entscheidung litt, so sehr ich selbst mit ihr stritt, ich duldete es nicht, dass andere meine Schwester kritisierten. Die meisten wussten das.
David offenbar nicht. Mein Freund David und ich hatten deswegen einen Mordsstreit als wir in unserer Lieblingskneipe in der Norfolk Street saßen. Wir sprachen eigentlich nie über Gefühle. Meine Nerven waren nicht in bestem Zustand und ehrlich gesagt hatte sich unsere Beziehung schon wieder etwas abgekühlt.
Er mochte es nicht, dass meine Schwester mich in den Ferien in der Weltgeschichte herumschleppte. Was denn an den Midlands oder an Cornwall auszusetzen sei, hatte er mich neulich gefragt. Kurz und gut, David kritisierte Claire.
Als wir so beim Essen saßen und Cricketspiele diskutierten, fing er auf einmal aus dem Blauen heraus damit an.
“Deine Schwester ist schon komisch. Wieso will sie ausgerechnet in Afrika leben? Sowas würde mir nie einfallen! Komisch.”
Was? Ich hätte mich beinahe verschluckt.
“Ach wirklich, und warum ist das so komisch?” fragte ich ihn irritiert.
Er nahm einen Schluck aus der Bierflasche. Grolsch war sein Lieblingsgetränk.
“Weiß doch jeder, wie unsicher es da ist. Afrikaner betrinken sich dauernd und so —” Er hatte wohl kein besseres Argument parat.
Was David nicht auffiel war, dass er sich in der letzten halben Stunde selbst zwei Biere gegönnt hatte.
“…und dauernd ist dort Krieg. Außerdem gibt es gefährlichen Dschungel in Afrika und es ist schmutzig und heiß …und so unzivilisiert.”
Er beeilte sich, seinen großartigen Standpunkt zu bekräftigen. Als er meinen Blick sah, nahm er noch einen stärkenden Schluck aus der Bierflasche. Er meint es nicht so, versuchte ich mich zu beruhigen.
Ein paar Studenten kam herein und schaute sich nach einem freien Tisch um. Zwei der Mädchen starrten in unsere Richtung, als wollten sie sagen ‘steht endlich auf und geht, jetzt sind wir dran’. Das irritierte mich noch mehr.
“So, jeder weiß das also, wie das so ist in Afrika. Botswana liegt bei Südafrika, nicht auf’m Mars. Meilenweit von Angola und Eritrea entfernt. Es gibt keinen Krieg dort und keinen gefährlichen Dschungel.” Zumindest soweit ich das wusste…
“Klar, weiß ich. Trotzdem… Südafrika ist auch nicht gerade friedlich, oder?... Apartheid und das alles.”
Genau ins Schwarze. Im Jahr 1988 steckte Südafrika nämlich noch mitten im Befreiungskampf. Das war mir auch zu unsicher, aber Claire war es egal.
“Weißt du was, David? Du bist komisch!” fuhr ich ihn an, um meinen Kummer zu verbergen. “Verdammt, Claire will doch nur ihren Traum verwirklichen und sie hat einen Freund, der mit ihr geht. Ich frage mich, ob du das auch für mich machen würdest. Wohl kaum!”
Ich weiß, das war unfair, aber ich ärgerte mich über David und ich ärgerte mich über Claire. Warum musste sie sich unbedingt in Gefahr bringen? David hatte einfach nur so dahergeredet, unsensibel wie immer. Aber was wusste er denn schon? England war seine Welt.
Ob es mir gefiel oder nicht, Claire hatte mich dazu gezwungen mich mit dem Rest der Welt zu beschäftigen. Auch mit Afrika.
Tony Stratton war seit 18 Monaten Claires Freund. Lehrer für Mathe und Wirtschaftslehre war er, und hatte sich auch gleich einen Job an einer Privatschule in Gaborone gesucht. Eigentlich ganz nett, dieser Tony. Wäre sie auch ohne ihn gegangen? Ganz bestimmt.
David strich sich nervös das dichte braune Haar aus der Stirn. Er blickte sich in der Kneipe um. Starrten uns die Leute schon an? Wo blieben nur seine Freunde?
“Das habe ich nicht kommen sehen!” David lachte und tat so als hätte ich etwas Lustiges gesagt. “Ach komm schon Bridsch, was ist denn so schlimmes daran, dass ich lieber in England bin? Alles was ich brauche ist hier. Afrika ist so…so anders. Vielleicht mal in den Ferien. Obwohl, dann vielleicht eher Mallorca. Aber wie man gleich nach Afrika ziehen kann - das verstehe ich nicht.” Er schüttelte sich.
Das war zuviel.
“Du kannst einfach nicht aufhören damit! Ich will nicht mehr darüber reden,” rief ich impulsiv, öffnete meine Tasche und bezahlte die Tagliatelle Alfredo.
Für einen kurzen Moment hätte ich David schütteln mögen. Stattdessen benutzte ich eine Notlüge. Kopfschmerzen. Soviel Leidenschaft hätte ihn nur noch mehr erschreckt.
Wir waren nicht gerade das, was man ein leidenschaftliches Paar nennen konnte. Ich ging zu Fuß nach Hause. Beim Gedanken an das gemütliche Haus in der Tenison Avenue wurden meine Schritte schneller.
Im Sommer umrahmten rote Malven und blauer Vergissmeinnicht den grünen Rasen. Mitten drauf standen weiße Gartenstühle und ein runder Tisch. Hinny, unsere verwöhnte graue Katze, sah uns hier an warmen Sommertagen vom Balkon aus beim Teetrinken zu. Hier fühlte ich mich geborgen.
Mein Zorn verrauchte schnell, aber Gedanken, denen ich bisher so erfolgreich ausgewichen war, überfielen mich hinterrücks. Claire ging fort und ließ mich zurück. Das tat weh. Mein Zwilling zog nach Afrika und ich steckte in meinem eintönigen Leben fest.
Kino am Mittwoch, Abendessen in der Kneipe am Donnerstag, Sport am Freitag. Immer das gleiche und meist mit David. Würde das immer so weitergehen, während Claire sich ins Ungewisse stürzte. Das hatte ich mir noch nie so genau überlegt.
Plötzlich war ich unzufrieden. Claire war die Würze in meinem Leben. War ich etwa egoistisch? Ich beschloss, Claire bald zu besuchen, und schritt nun etwas kräftiger aus. Selbst in der Dunkelheit zog mich die Wärme unseres Hauses an.
Ich bog in die Sturton Street ein, dann in die Tenison Avenue. Ich sollte einfach mit Claire sprechen, dachte ich als ich die Tür aufschloss. Aber Claire war nicht zuhause.
In den nächsten Tagen wimmelte mein Vater David am Telefon ab. Ich war zu feige, um mit ihm selbst zu sprechen. Wir sprachen nie über Gefühle und ich war voll verwirrender Gefühle. Dann hörten Davids Anrufe einfach auf. Die Trennung war kurz und schmerzlos. Auch gut. Meine Gefühle für Claire waren dafür umso schmerzlicher.
“Lass mich doch nicht allein hier,” bettelte ich. “Ich will nicht dass du weggehst.”
Ich war mir darüber im Klaren, wie erbärmlich das klang.
“Das ist nicht fair Fumpy. Und außerdem…bist du ja nicht allein.” Claire sprach mit mir wie mit einem Kleinkind. “Da sind Mom und Dad und David und Sahida, Liz und Diane… und du bist doch gerne hier.”
Nicht ohne dich, Claire, dachte ich trotzig, nicht ohne dich! Sie saß im Korbstuhl und lehnte sich an die Wand. Die Blätter draußen warfen hüpfende Schatten auf das David Bowie-Poster hinter ihr. Ich hatte Claire noch nicht erzählt, dass ich mich von meinem David getrennt hatte. Es war im Moment auch nicht so wichtig.
“Und wenn dir was passiert?” grollte ich und drehte mich auf den Bauch. Ich lag quer über dem Quilt, mein Kinn in beide Hände gestützt.
“Was soll mir denn schon zustoßen? Ich wohne doch in einem Firmenhaus mit einem Haufen Kollegen um mich. Ich werde wohl nie allein sein. Und dann ist da natürlich Tony. Er wird sich schon um mich kümmern,” versuchte Claire mich zu beruhigen, während sie auf einem leeren Umschlag herumkritzelte. Sie schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. Wahrscheinlich bei Tony.
Eine halbe Sekunde lang stieg Eifersucht in mir auf. Es war kurz von Heirat die Rede gewesen, aber soweit ich das beurteilen konnte, läuteten noch keine Hochzeitsglocken.
“Wirst du mich den nicht auch ein wenig vermissen?” schmollte ich.
“Natürlich werde ich dich vermissen! Überhaupt - du kommst mich ja bald in Gaborone besuchen, oder? Dann erforschen wir gemeinsam die Kalahari.”
“Oh wie schön,” sagte ich unterkühlt, nur um Claire zu sticheln.
“Ach komm’ schon, schau’ nicht so böse drein, Fumpy!” Sie schnitt eine Grimasse und ich musste lachen.
Nur Claire hatte Unrecht gehabt. Ihr war etwas zugestoßen - ein paar Wochen später war Claire verschwunden.
Als die Nachricht kam, war ich benommen vor Trauer und Sorge. Nichts machte mehr Sinn. So etwas konnte, durfte nicht passieren!
Ich schlich mich auf Claires Zimmer, schmiss mich auf ihr Bett und schrie ins Kopfkissen bis ich keine Stimme mehr zum Schreien hatte. Dann kamen die Tränen.
Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen, dachte ich nur immer wieder, ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen. Der nadelscharfe Gedanke stieß jede Logik beiseite. Als hätte ich die Macht dazu gehabt, meine starrsinnige Schwester von irgend etwas abzuhalten. Was sollte ich bloß tun?
Die Nachricht schlug wie eine Bombe in unsere Kleinstadt ein. Zeitungen waren voll von Artikeln über Claire und ihr mysteriöses Verschwinden. War es Mord oder Entführung? Die Meinungen überschlugen sich. Man hatte es gleich gewusst: Afrika war ein gefährlicher Ort.
Mir wurde schlecht, wenn ich die Schlagzeilen nur sah und kaufte keine Zeitungen mehr. Eine Woche später hatten Sportnachrichten Claire’s Verschwinden eingeholt.
Ihr alter roter Mazda war von der Polizei in einem Feld in der Nähe von Motschudi gefunden worden. Der Name Motschudi sagte mir damals absolut gar nichts. Die Polizei verhörte die Einwohner, aber die hatten nichts gehört oder gesehen. Natürlich, was auch sonst!
Die Fingerabdrücke waren alles andere als aufschlussreich, weil Kinder in dem Auto gespielt hatten. Sogar Mitglieder der britischen Spezialeinheit MI 5, die sich zufällig zu einer Art Training in Botswana aufhielten, konnten angeblich nichts Brauchbares herausfinden. Wir sollten uns auf alles gefasst machen!
Claire war allein gefahren. Warum auch nicht? Tony konnte nicht mitkommen, weil er Zensuren ausrechnen musste. Wie hätte er auch wissen sollen was geschehen würde? Aber ich gab ihm trotzdem die Schuld. Am Anfang - für eine Minute oder so. Sie wollte bei Pierre und Karabo in Francistown vorbeischauen und hatte in einem abgelegenen Nationalpark, der sich Tuli Block nannte, eine Hütte gemietet, um dort ungestört Elefanten zu beobachten. Claire kam nie dort an.
Wir warteten umsonst auf einen Anruf von Tony. Vielleicht hat er unsere Nummer nicht, dachte ich und schickte ihm einen Brief. Ich wartete auf eine Antwort. Und wartete. Ich glaube, dass ich wegen der ganzen Warterei plötzlich anfing mir zu überlegen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
‘Die Internationale Vermisstenstelle’ schaltete sich ein. Mein Vater wollte von den Behörden wissen, ob er denn irgendwie bei den Nachforschungen helfen könne. Die Antwort war ein gestrenges ‘Nein’. Man unternahm schon alles Menschenmögliche und die Anwesenheit der Familie würde nur stören.
Das war schon ein starkes Stück. Wieso sagten die uns, dass sie keine Spur von Claire finden konnten bei der ganzen Detektivarbeit - und wir sollten einfach nur herumsitzen und abwarten, und uns auf alles gefasst machen? Immer nur warten!
Um diesen Zeitpunkt herum begannen die Albträume. Ich sah Claire hinter einem nebeligen Schleier sprechen und lachen. Ich verstand nicht was sie sagte, wollte rufen, und brachte keinen Ton heraus. Dann verschwand sie langsam wieder. Ich wollte sie festhalten und wachte jedes Mal auf einem tränennassem Kissen auf.
Es gab aber auch Hoffnung. Claire lebte noch, ich konnte es spüren. Nur wo war sie? Ich erzählte niemandem von meinen Träumen, denn zuhause war die Atmosphäre schier unerträglich geworden. Das Haus in der Tenison Avenue hatte für mich seine Wärme verloren.
Mom konnte die ganze Zeit nur heulen und Grandpa war aus London gekommen, um sie zu trösten. Dad zog sich meist in sein Arbeitszimmer zurück. Meine Eltern hatten die ideale Ehe gelebt, aber ich war mir nicht sicher, ob das so bleiben würde.
Dad, ein gutaussehender, stiller Ingenieur aus Deutschland, war meiner Mutter nach England gefolgt, kurz nachdem sie sich in einem Zug in Frankreich kennengelernt hatten. Beide waren Anfang zwanzig und das Mutigste was Dad je getan hatte, war nach England zu ziehen, um das schönste Mädchen der Welt zu heiraten. Es muss wahnsinnig romantisch gewesen sein.
Mom unterrichtete Kunstgeschichte und Dad hatte sich zur Ruhe gesetzt, kurz bevor die Sache mit Claire passierte. Ihr Leben war bilderbuchhaft gewesen - bis jetzt.
Ich fühlte mich einfach machtlos und schwach. Dann änderte sich meine Stimmung schlagartig. Ich weinte keine Tränen mehr und war nur noch wütend. Auf alle. Mir schien es so, als hätten sie alle aufgegeben.
Aber Claire lebte doch noch! Ganz bestimmt.
Als ich Dad in der Küche begegnete, beschloss ich das Thema anzusprechen. “Wir müssen etwas unternehmen,” tastete ich mich vor.
“Etwas unternehmen?”
“Du solltest einfach hinfahren…”
“Nach Botswana? Was soll ich denn dort? Mom braucht mich hier und die Polizei tut schon alles was sie kann. Sie wollen mich nicht dort, in Afrika,” fuhr Dad gereizt auf, nur um sich Sekunden später dafür zu entschuldigen. “Tut mir leid, Kleines, meine Nerven…”
Ich hätte ihn anschreien mögen. Die Polizei tut alles was sie kann? Wirklich?! Mach was, Dad, tu’ endlich was! Aber ich schwieg nur.
Es tat weh über Claire zu reden. Mom nahm Beruhigungspillen und wollte nur mit ihrem Psychotherapeuten sprechen. Ich hatte das unerklärliche Gefühl, dass sie mich irgendwie verantwortlich machte. Der Gedanke, dass ich selbst nach Botswana gehen sollte, um Claire dort zu finden, reifte in mir.
Als sich die Wogen geglättet hatten und keine Artikel mehr in der Zeitung erschienen, traf ich mich mit meinen Freundinnen zum Tee. Die reh-äugige Sahida war gerade bei der Hochzeit ihrer Schwester in Manchester. Ich fragte mich, ob sie mich verstanden hätte; meinen Plan nach Afrika zu gehen, um Claire zu finden und all das.
“Was willst du denn da, Bridget – in Botswana?”
Liz sprach das Wort aus, als ob es sich um ein scheußliches Insekt handelte.
“Ich wusste ja gleich, dass was passieren würde als Claire wegging.” Ihre Nasenspitze zitterte.
“Ach so’n Quatsch, Liz, wie kannst du sowas vor Bridget sagen,” schimpfte Diane ungewohnt heftig. “Das wusstest du überhaupt nicht. Niemand konnte das wissen. Claire ist doch schon so viel gereist und kennt sich aus in der Welt.”
Wir starrten sie an. Diane war sonst immer so sanftmütig.
Liz ließ nicht locker. “Ja OK, aber das hat ihr jetzt auch nicht geholfen. Warum ist Claire denn nicht nach Italien oder Spanien gegangen? Oder nach Amerika? Dann wäre sie wenigstens in einem zivilisierten Land gewesen.” Sie nahm kein Blatt vor den Mund. Liz meinte es gut, auf ihre Art.
“Vielleicht war es ja Schicksal. Ich meine, dass Claire nach Botswana gezogen ist und ich sie jetzt dort finden muss.”
Das machte eigentlich keinen Sinn, aber ich suchte selbst noch nach einer logischen Erklärung.
“Oh Bridsch, natürlich denkst du so…” meinte Diane besänftigend, als wollte sie eine Verrückte ganz vorm Durchdrehen abhalten.
Beide warfen mir mitleidige Blicke zu. Ich konnte ja schließlich nichts dafür, dass ich solche dummen Sachen von mir gab.
“Oh hört schon auf, mich so anzustarren! Claire braucht mich. Sie ist irgendwo da draußen und es geht ihr gut, verstanden? Ich kann es spüren.”
“Ja sicher, kannst du es spüren —” Liz wechselte schnell das Thema. “Was ist eigentlich mit David? Ich habe euch schon eine Weile nicht mehr zusammen gesehen.”
“Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir uns getrennt haben.”
“Wahrscheinlich?” rief Liz. Sie hatte uns einander vorgestellt.
Ich zuckte nur mit den Schultern. “Wir haben uns Anfang Mai gestritten und reden seitdem nicht mehr miteinander.”
“Wirklich?” Liz konnte es nicht glauben.
“Ja, wirklich.”
“Hmm, das hat ja nicht lange gehalten. Waren das ganze zwei Monate?” Liz spielte auf meine üblicherweise kurzen Beziehungskisten an.
“Drei Monate. Er weiß auch noch nichts davon, dass ich nach Botswana fliegen will. Es sei denn jemand hat es ihm erzählt.”
“Du hast ihm noch nichts davon gesagt?”
“Nein, wozu denn?”
“Willst du darüber reden - über David?” Diane sah traurig drein. Sie fühlte mit.
“Nein, eigentlich nicht. Vielleicht sollte ich ihn aber anrufen. Es ist wohl an der Zeit uns mal auszusprechen.” Hmm, warum auch nicht?
“Gute Idee —”
“Will noch jemand Tee?” fragte Diane sanft.
Ich machte mich bald auf den Weg und fühlte mich unverstanden.
Am Nachmittag hatte ich mich dann mit David zur Aussprache im ‘Jesus Green’ getroffen. Reinen Tisch machen.
Der Park war voller Sonnenanbeter, die das schöne Wetter genossen. Ich erzählte David von Claires Verschwinden und er warf mir einen Hab’s-ja-gleich-gewusst Blick zu. Seufz.
“Ich zähle dann anscheinend überhaupt nicht mehr?” Er warf einen flachen Kieselstein in den See. Der Kiesel hüpfte ein paarmal übers Wasser, bevor er unterging.
“David, nimm’s mir bitte nicht übel. Du musst das doch verstehen.”
“Ich dachte wir könnten’s nochmal miteinander versuchen.”
“Wozu?”
Hatte er nicht mitbekommen, wie lauwarm unsere Gefühle waren? Hüpf, hüpf, hüpf. Noch ein Kiesel sprang übers Wasser und versank.
“Verdiene ich nicht noch eine Chance?”
“David, ich glaube wir verschwenden unsere Zeit miteinander.”
“Puh, vielen Dank auch.” Er kniff die Augen zusammen und sah seinem Kiesel hinterher.
“So hatte ich das nicht gemeint.”
“Doch, hast du.”
Wir stritten uns noch eine Weile auf diese sinnlose, wiederkäuende Art so vieler Paare, die einfach nicht zusammenpassen. Zum Schluss einigten wir uns immerhin, dass wir uns nicht einigen konnten. Mehr gab es nicht zu sagen.
Tonys recht kurzer Brief kam dann kurz vor der Veranstaltung in Heffer’s Buchladen an (oh, hätten wir damals doch schon E-Mail gehabt!).
Tony machte sich schreckliche Vorwürfe. Er meinte, er hätte Claire nie allein fahren lassen dürfen; dachte, sie wäre sicher. Darüber war ich schon lange weg. Er wollte, dass ich ihn im Hotel in Palapye anrief. Das Dorf, in dem er jetzt als Lehrer arbeitete. Wie sprach man das eigentlich aus? Palapye.
Tony hatte kein eigenes Telefon. Anscheinend hatte niemand in Palapye ein eigenes Telefon. Er hatte den Anruf für 19:00 Uhr am Freitag vorgebucht. Man musste Anrufe vorbuchen!
Zum Glück war der Brief noch vor Freitag angekommen. Tony würde mich sicher verstehen. Ich konnte es kaum abwarten mit ihm zu sprechen.
Wir sprachen wie verabredet am Freitag und danach ging ich zu Heffer’s Buchladen. Meine Eltern waren schon da. Der neue Roman ‘Talk to the Wind’ von Frederick Humphrey wurde vorgestellt. Frederick Humphrey war ein berühmter Schriftsteller - und er war mein Großvater.
Der Text auf dem Umschlag versprach einen aufregenden Kriminalroman vor dem Hintergrund Kenias der zwanziger Jahren. ‘Furcht verbreitet sich in der dekadenten Kolonialgesellschaft Nairobis, als...’
Gewöhnlich war der Umschlag alles was ich von Grandpas Büchern las. Ich wollte seine Gefühle nicht verletzen. Vielleicht mochte ich sein Buch ja nicht. Grandpas Foto lächelte mich an. Er hatte klassische Züge, volles, graues Haar und sah gut aus für 72. Im Moment saß Grandpa im Laden drinnen hinter einem Tisch und signierte Bücher.
Ich stand mit meinen Eltern draußen auf dem Gehweg und hielt ein Weinglas in der Hand. “Ich werde Claire in Botswana finden,” verkündete ich. Musik und Gelächter drangen aus dem Buchladen zu uns hinaus.
“Wie bitte?” fragte mein Vater verstört. “Bist du verrückt geworden?” Mir fiel auf, wie grau Dads Haare geworden waren.
“Ich gehe nach Botswana,” wiederholte ich trotzig und ertrug die schmerzverzerrten Blicke. Es ging nicht anders, ich musste endlich mit ihnen darüber sprechen.
“Oh nein, das wirst du nicht. Ganz bestimmt nicht.”
Dads deutscher Akzent kam immer durch, wenn er sich aufregte. Ein einsamer Lastwagen knatterte über das Kopfsteinpflaster. Freds Büromöbel.
Mom hatte wieder Tränen in den Augen.
“Du kannst uns doch jetzt nicht allein lassen,” flehte sie und zitterte so sehr, dass sie etwas von ihrem Weißwein verschüttete.
“Es tut mir so leid Mom. Ich will euch wirklich nicht wehtun, aber Claire ist da draußen ganz allein und ich muss sie finden. Das geht nicht von hier aus. Ich möchte ja hierbleiben, aber gleichzeitig will ich auch Claire wiederfinden. Ich kann nicht länger abwarten. Ich muss jetzt einfach was tun!”
Mein Herz sank beim bloßen Gedanken daran wegzugehen, aber meine Eltern brauchten das ja nicht zu wissen. Durch das große Schaufenster sah ich Grandpa mit bewundernden Fans schwatzen.
“Warum lässt du das nicht die Polizei machen? Uns wurde doch gesagt, dass wir bei den Untersuchungen nur stören... nicht auszudenken, wenn dir auch noch was passieren sollte… was dann?” stieß mein Vater verzweifelt hervor.
Ich hatte Claire so ziemlich das gleiche gefragt. Jetzt war ich mit dem Beruhigen an der Reihe, genau wie Claire es damals mit mir gemacht hatte. Ein anderes Auto tuckerte an uns vorbei. Ich schloss die Augen, bis der Lärm verklungen war.
“Mir wird schon nichts passieren,” behauptete ich. “Ganz bestimmt nicht. Ich habe schon mit Tony gesprochen. Er sagte, ich kann erstmal bei ihm in Palapye unterkommen.”
Palapye. Palaapié. Der fremde Name prickelte auf meiner Zunge.
“Wann war das denn?”
“Gerade eben. Wir werden Claire schon finden. Mit vereinten Kräften.”
Eigentlich hatte Tony sich nicht so ausgedrückt; nur dass er mir behilflich sein wollte, was immer das bedeutete. Er war ganz schön erstaunt gewesen, als ich mich über die zittrige Telefonleitung des Hotels ankündigte. Aber mit meinen Eltern jetzt über irgendwelche Zweifel zu reden war ausgeschlossen. Im Moment brauchte ich ihren Segen für mein gewagtes Unternehmen.
“Oh Kind…” Moms Augen nahmen einen rötlichen Schimmer an.
Sie kämpfte tapfer mit den Tränen, unfähig die richtigen Worte zu finden und ich war schuld daran. Ich fühlte ein Kitzeln in der Nase und musste mich räuspern.
Ich war mir auf einmal gar nicht mehr so sicher. Wie konnte ich Mom das bloß antun? Sie hatte sich doch gerade erst wieder gefangen.
“Mir gefällt das überhaupt nicht.” Dads Gesicht sah eingefallen aus.”Nein, überhaupt nicht.”
“Ich will euch bestimmt nicht wehtun,” sagte ich wieder. “Aber Claire ist meine zweite Hälfte und ich kann jetzt einfach nicht länger warten.” Ich war nahe daran meinen Mut zu verlieren.
“Ich muss da jetzt hin. Nach Afrika,” stieß ich verzweifelt hervor. Wir sagten ein paar schmerzhafte Augenblicke lang nichts. Grandpa winkte mir lächelnd durchs Schaufenster zu. Ich winkte zurück.
“Ja, wenn du meinst, Kind…” schluchzte Mom und warf meinem Vater einen verwundeten Blick zu. “Mike…”
Dad sah strafend zu einem geschnitzten Holztor auf der anderen Straßenseite hinüber. Gaben sie etwa nach?
“Wir können dich nicht aufhalten,” begann er, “wenn du dort unbedingt hinmusst. Aber wir werden regelmäßig telefonieren, verstanden? Und…” Dad atmete tief durch und trug mir eine Liste auf, an die ich mich zu halten hatte.
Die Liste wuchs über die nächsten zwei Tage zusehends an, obwohl er genau wusste, dass ich mich nicht daran halten würde. Immerhin war ich schon 22.
Der Freigeist meiner Eltern hatte die Überhand gewonnen! Da wusste ich mit einem Mal, dass sie in Ordnung sein würden.
Meine Mutter versprach widerstrebend, Mitteilungen an meine wichtigsten Kunden weiterzuleiten. Ich würde für einige Zeit im Ausland arbeiten und sie sollten sich solange mit Diane Langer in Verbindung setzen. Am Abend vor meiner Abreise hörte ich dann zufällig ein Gespräch zwischen Grandpa und meinen Eltern.
“Was ist mit dem Bürgerkrieg in Südafrika?” fragte mein Vater besorgt. Ich hielt den Atem an.
“Sprich bitte leiser, Mike,” sagte Mom erschrocken. “Sonst hört sie dich noch.”
“Ich kann mich mit der Britischen High Commission in Gaborone in Verbindung setzen, wenn du möchtest. Die werden schon ein Auge auf sie haben.” Ich wusste, dass Grandpa Beziehungen aus seiner Zeit in Afrika hatte
“Es ist ständig in den Nachrichten. Überall gehen Bomben hoch. In Geschäften und Nachtclubs. Botswana liegt doch gleich nebenan. Was soll Bridget machen, wenn sie auf der Straße ist und in eine Schießerei gerät?”
“Oh Mike, wir haben das damals schon Claire gesagt und es hat nichts genützt,” schniefte Mom.
“Schaut, der letzte Bombenanschlag in Gaborone ist zwei Jahre her und von Schießereien ist nie die Rede. Die Armee hat scharfe Kontrollen,” erklärte Grandpa. “Außerdem ändern sich die Dinge langsam aber sicher in Südafrika. Du machst dich nur bange mit dem ganzen Gerede über Bomben.”
Eine kurze Pause, dann hörte ich schluchzende Geräusche. “Meine beiden Kleinen!”
“Komm Sarah, es wird schon alles gutgehen. Man kann nie wissen, vielleicht findet Bridget ja tatsächlich unsere Claire und bringt sie nach Hause zurück.” Hatte das wirklich mein Vater gesagt?
“Man kann nie wissen,” stimmte Grandpa zu.
Schlurfende Geräusche. Alle drei gingen ins Wohnzimmer.
Ich weinte ein bisschen und faltete das letzte T-Shirt. Mein treuer Rucksack, der mir schon von Machu Picchu bis nach Los Angeles gefolgt war, platzte schon aus allen Nähten.
Am nächsten Tag umarmte ich meine Eltern und fuhr mit Grandpa nach London. Ich ließ mein unbeschwertes Leben in Cambridge zurück, um meine Schwester wiederzufinden.
Ich musste noch mindestens zwei Wochen in London bleiben, um alles notwendige zu erledigen. Visa beantragen und mich im Tropeninstitut impfen lassen. Zwei Wochen, um meinen ganzen Mut zusammenzunehmen. Zwei Wochen - das hörte sich mit einem Mal so schrecklich kurz an.
Bald saß ich in Grandpas eleganter Eigentumswohnung in der Arlington Road in Camden, und starrte auf eine Liste mit den vorgeschriebenen Impfungen.
Mir wurde ganz anders. Cholera, Typhus, Gelbfieber, Immunglobulin. Was um Himmels willen war Immunglobulin? Auf dem Flugblatt stand, dass es etwas mit Hepatitis zu tun hatte. Die Injektion war sicher notwendig, aber ich hasste Nadeln. Würde ich gleich tot umfallen wenn ich nicht alles machte, was auf der Liste stand? Ich hatte keine Wahl, es gehörte zu den Einreisebedingungen.
Der Wind drehte sich wieder und Regen schlug sanft gegen die Fensterscheiben. Unten im Handtuch-großen Hintergarten bogen sich die schmalen Cordyline-Palmen. Komisch, dass das Klima in London mild genug war für Palmen.
Mir wurde die Enormität meines Planes bewusst. Was war, wenn ich mit meiner Mission scheiterte? Was dann? Warum musste es ein so ungesundes Land sein, für das man tausende von Impfungen brauchte? Nur nicht paniken…tief durchatmen… Ich lehnte mich auf der Ledercouch zurück und beäugte vorwurfsvoll das Ölbild an der Wand gegenüber. Eine afrikanische Landschaft, und noch dazu in einem breiten Goldrahmen.
Es war schön, das Gemälde. Eindrucksvolle Baobab Bäume vor einem strahlend blauen Himmel mit einer Elefantenherde im Hintergrund, und einem Leoparden, der sich an grasende Gazellen heranschlich.
“Soll das heißen, dass ich diese ganzen scheußlichen Impfungen wirklich brauche?” fragte ich das Bild.
Die afrikanische Landschaft antwortete nicht. Wenn man genauer hinsah, schienen sich die Elefanten ein klein wenig zu bewegen und links war der Leopard nun ganz aus dem Unterholz hervorgekommen. Schlich er sich näher an die Gazellen heran?
“Weißt du Bild, am besten bringen wir das Ganze schnell hinter uns. Schluss mit dem blöden Selbstmitleid.” Bridget du hast nicht alle Tassen im Schrank. Reiß’ dich gefälligst zusammen, schalt ich mich, du redest mit einem Bild!
Das letzte Mal als ich mit Claire in London gewesen war, hatten wir unbeschwert auf einem David Bowie Konzert gerockt. Mein Herz tat weh bei der bloßen Erinnerung daran. Claire und ich. Sie hatte zum Schluss auf der Bühne mitgetanzt, aber ich war wie immer zu schüchtern für sowas. Es war sogar aufregend gewesen, mit der U-Bahn zu fahren und die Oxford Road mit den vielen kleinen Boutiquen unsicher zu machen.
Ich holte Claires Briefe hervor. Davon gab es genau fünf. Sie hatte mir jede Woche einen auf hauchdünnes, blaues Luftpostpapier geschrieben. Die letzte Verbindung zwischen uns. Sie hatte von der Landschaft geschrieben, dem Wetter, ihren Kollegen, ihrem Job und dass sie sich darauf freute, das Okavango Delta zu sehen, wenn auch nur für ein paar Tage.
Ich schloss die Augen und versuchte mir Afrika vorzustellen: Märkte, die von lachende Menschen nur so wimmelten. Da war ein Trommeln und Tanzen in den Straßen und es gab Restaurants, wo man verlockende Gerichte aus Kokosnüssen und frischem Fisch bestellen konnte, die dann in Kürbisschalen serviert wurden. Stickige Hitze, Tropenhelme, Löwen und Elefanten, Wasserfälle und…Tarzan, der an Lianen herumschwirrte. Blödes Klischee, ich weiß, aber so stellte ich mir Afrika nun mal vor.
Was wusste ich damals schon von Schamanen, Tokoloschen und der Welt der Vorfahren…
Im schäbigen Videoladen um die Ecke fand ich fast alle Episoden einer südafrikanischen Fernsehserie. Es ging um Shaka Zulu, dem berühmten, grausamen Zulu Häuptling aus dem 19 Jahrhundert. Nicht gerade modern, aber nicht schlecht für den Anfang. Bald konnte ich die Titelmusik mitsummen: “Bayete, kosi, bayete, kosi…we are growing, growing high and higher…”.
Ich weiß nicht, ob es an Shaka Zulu lag, aber auf einmal sah ich Afrikanisches um mich herum. Kleidung und Körbe in Schaufenstern; Trommel-Musik, die aus einer Wohnung drang. Dunkelhäutige Menschen auf der Straße oder in der U-Bahn schienen mir öfter zuzulächeln.
Vielleicht merkten sie ja irgendwie, dass ich bald ihren geheimnisvollen Erdteil besuchen würde. Vielleicht waren sie aber auch einfach nur Briten vierter Generation aus Hackney, die mit einem Cockney Akzent sprachen.
Claire hätte sich bestimmt über mich lustig gemacht. Claire…
Während der zwei Wochen in London wartete ich auf Neuigkeiten aus Botswana. Einmal stellte ich mir vor, dass Claire plötzlich in einem Dorf im Tuli Block aufgetaucht sei und in der Küche einer netten Farmersfrau heiße Schokolade schlürfte. ‘Es gibt ja soviel zu erzählen, Fumpy, du glaubst ja gar nicht was mir alles passiert ist.’ Ich konnte mir ihre glucksende Stimme vorstellen.
Kein Wunder, dass ich anfing mit Gemälden zu reden und solche Sachen. Ich fühlte mich wie eine Sprungfeder, ständig in einem Zustand nervöser Spannung.
Es wurde Zeit für die Impfungen. Ich nahm den C2 Bus zur Great Portland Street und dann die U-Bahn zum Tropeninstitut in Bloomsbury. Die Spritzen waren genauso scheußlich, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Für ein paar Tage danach, litt ich an Fieber und einem geschwollenen Arm. Wenigstens lenkte mich das für eine Weile von meiner Traurigkeit ab.
Grandpa war beschäftigt und wir hatten uns kaum gesehen. Dann, ein paar Tage vor meinem Abflug verspürte er wohl auf einmal den Drang zum Kochen.
Als ich aus dem Videoladen nach Hause kam, stand ein einfaches Abendessen auf dem feinen Buchenholztisch und klassische Musik spielte im Hintergrund. Debussy, Claire de Lune.
“Hallo Grandpa!” Ich schluckte gerührt.
“Hallo Kleine, hast du Hunger?”
“Und wie.”
“Setz’ dich und nimm’ dir was. Da ist Salat in der Schüssel.”
“Grandpa, musstest du dich eigentlich auch impfen lassen als du damals nach Kenia gegangen bist?” fragte ich ihn und zog grüne Pesto-Spaghetti durch die Zähne.
Als junger Journalist hatte Grandpa viel im Ausland gelebt. Wahrscheinlich hatte er seine Reiselust an Claire weitervererbt.
“Ehrlich gesagt kann ich mich nicht so genau daran erinnern. Bestimmt brauchte ich damals auch die ein oder andere Injektion. Wie geht’s denn deinem Arm?”
Er zeigte mit seinem Kinn auf meinen linken Oberarm. Der war immer noch ein wenig geschwollen.
“Schon viel besser. Das Fieber ist ‘runtergegangen und das Schmerzmittel scheint zu wirken.” Ich wickelte grüne Spaghetti auf die Silbergabel.
“Hast du heute schon mit deiner Mutter gesprochen?” fragte Grandpa auf einmal.
“Ja, heute Morgen. Sie möchte, dass ich mir das nochmal überlege mit der Reise,” seufzte ich.
“Aha, aber du bist immer noch fest entschlossen?”
War da etwa ein Unterton? Falls Grandpa nicht wollte, dass ich nach Botswana ging, hatte er sich bisher nichts anmerken lassen.
“Ja sicher! Ich würde niemals so viele Impfungen über mich ergehen lassen und dann nicht nach Afrika fahren,” sagte ich. “Mom meinte, dass sie am Wochenende kommen wollen, um sich… na ja, um sich zu verabschieden. Nur für ein paar Stunden. Sie muss am Montagmorgen wieder im College sein.”
“Schade. Ich bin froh, dass sie überhaupt kommen. Du fliegst ja schon am Dienstag.”
“Mhm,” meinte ich und schluckte die Spaghetti hinunter. Wir würden uns mit Sicherheit alle die Augen ausheulen. “Muss morgen früh nur noch Anrufe wegen der Visa machen.”
“Gut. Dann hast du ja fast alles geschafft.”
“Grandpa, ist es in Afrika wirklich so gefährlich wie alle sagen?” fragte ich impulsiv. “Einer meinte, dass ich verrückt sein muss in ein Land wie Botswana zu fahren.”
“Wer sagt denn sowas?” Grandpa sah erstaunt von seinem Teller auf.
“Ein Geschäftsmann, den ich am Tropeninstitut getroffen habe. Er saß neben mir im Wartezimmer. Angeblich gibt es dort nur Medizinmänner. Er konnte mir aber nicht sagen, was Medizinmänner eigentlich genau sind.”
“Die Leute sollen sich um ihren eigenen Kram kümmern,” knurrte Grandpa. “Natürlich gibt es dort richtige Krankenhäuser und Ärzte. Sei nicht albern. Wahrscheinlich war der noch nie in Botswana.”
“Wahrscheinlich nicht. Er sagte, er fliegt immer nach Südamerika.”
“Für viele Europäer ist Afrika nichts weiter als ein riesiger Dschungel. Ein einziges Land und nicht ein Kontinent mit vielen verschiedenen Kulturen. Egal worum es geht, alles ist einfach nur ‘afrikanisch’: Aussehen, Essen, Kleidung...
Afrikanische Länder sind aber genauso verschieden wie die in Europa. Kenia ist vollkommen anders als Togo oder der Sudan - oder Botswana eben. Sogar Simbabwe und Namibia sind völlig anders als Botswana, und die sind direkte Nachbarn.”
Zu meiner Schande musste ich mir eingestehen, dass ich einer dieser Europäer war. Ich schämte mich aber das Grandpa gegenüber zuzugeben. Theoretisch wusste ich, dass nicht alles Dschungel war, aber sonst nichts Genaues.
Also, Simbabwe und Namibia lagen direkt neben Botswana? Vielleicht sollte ich mal in die Bibliothek gehen. Die ‘Shaka Zulu’-Serie reichte offenbar nicht ganz zur Bildung aus.
Am Wochenende kamen meine Eltern nach London und versuchten mir - wie erwartet - die Sache mit Afrika noch in letzter Sekunde auszureden.
“Kleine, was ist, wenn du Hilfe brauchst und hast niemanden um dich?” meinte Dad. Wir warteten an der Victoria Station auf ihren Bus nach Cambridge.
“Oder was ist wenn du krank wirst?”
“Ich hatte gerade alle Injektionen, die ein Mensch verkraften kann. Krankheitserreger werden sich nicht in meine Nähe trauen, wenn sie wissen was gut für sie ist!”
“Oh Bridget, du hast dich so sehr verändert,” beklagte sich meine Mutter.
“Klar habe ich mich verändert. Claire ist irgendwo da draußen. Wie soll ich mich da nicht verändern? Ich muss sie ja schließlich wiederfinden.”
“Falls du es dir doch noch anders überlegen solltest…”
“Nein Mom, ich werde es mir nicht noch anders überlegen. Das ist etwas das ich einfach tun muss! Und ich bin ja nicht aus der Welt. Du kannst mich dort erreichen.
Tony sagt, man kann im Botsalo Hotel in Palapye Telefonanrufe vorbuchen. Du kannst dort auch Nachrichten für mich hinterlassen. Ich habe die Nummer hier unter die Postadresse geschrieben. Er hat schon für Freitagabend 8 Uhr vorgebucht. Das ist 6 Uhr hier in England. Warte, ich schreib’s dir auf.”
Ich nahm den Zettel mit allen wichtigen Adressen und Telefonnummern, einschließlich die der Britischen High Commission in Gaborone, und schrieb darunter ‘BOTSALO Hotel in Palapye, Anruf 6:00 Freitagabend’.
“Es tut mir leid, dass wir dich am Dienstag nicht zum Flughafen bringen können, Bridget. Du weißt ja, Mom muss wieder unterrichten…” entschuldigte sich mein Vater.
“Ich weiß, es ist in Ordnung”
“Ruf uns bitte sofort an, wenn du gelandet bist, damit wir uns keine Sorgen machen. Botswana ist so weit weg! Du weißt ja sicher, was mit diesem Flugzeug letzte Woche passiert ist.”
Ja, davon hatte ich gehört. Wo man hinsah, gab es Berichte über den Flugzeugabsturz. 169 Tote. Es war nicht zu übersehen.
“Sehr ermutigend, danke Dad. Ich werde mein bestes tun, um sicher in Gaborone anzukommen.”
“Oh Bridget…” Mom hielt sich an mir fest und weinte wieder. Mir war auch zum Heulen zumute Mein Herz schmerzte beim Anblick meiner tapferen Eltern. Wann würde ich sie wiedersehen? So durfte ich nicht denken! Ich riss mich zusammen und umarmte sie ein letztes Mal, bevor sie in den Bus stiegen.
Zwei Tage später verabschiedete ich mich von Grandpa.
“Pass’ gut auf dich auf, Kleine.” Er sah traurig aus. “Bis bald.”
“Keine Sorge, Grandpa. Ich komme sicher mit Claire zurück,” versprach ich ohne zu wissen, ob ich dieses Versprechen auch halten konnte.
Er winkte, bis ich hinter der Gepäckkontrolle verschwand.
Unsere Maschine setzte am 15. September auf dem kleinen Flugplatz in Gaborone auf. Nach 14 Stunden Flug mit Zwischenlandung in Kinshasa und einem holprigen Transfer von Johannesburgs Jan Smuts Airport nach Gaborone, stieg ich mit weichen Knien das Treppchen hinunter.
Von diesem Tag an wurde ich eine der Lekgoas. Ausländer, die in Botswana meist nicht länger als ein paar Jahre verweilen, bevor sie weiterziehen. Ein paar Jahre sind ein Augenzwinkern in der Existenz der grandiosen Kalahari. Ich hatte viel dazuzulernen.
Zum Beispiel, dass die Zeit hier langsamer verging; dass die Tswanas alles so gelassen angehen, dass es einen manchmal fast zum Wahnsinn treiben könnte; dass sie mit ihren Ahnen kommunizieren und sie überhaupt nicht verstehen können, warum wir das nicht tun; und dass nicht alle Schamanen es gut mit einem meinen.
Vielleicht wäre es ja besser gewesen, wenn sich meine eigenen Vorfahren eingeschaltet hätten - oder vielleicht auch nicht. Vielleicht mussten sich die Dinge einfach genau so entfalten wie sie es dann auch taten…
Das Schrillen des Telefons ließ mich auffahren. Ich ging nicht ran, wollte allein sein mit meinen Gedanken — meinem Leben in Botswana. Von Arbeiten konnte keine Rede mehr sein. Als das Klingeln aufhörte, holte ich mir eine Tasse Tee aus der Küche, legte den Hörer neben das Telefon und machte es mir im Sessel am Fenster bequem.