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Kapitel 3

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Wenn du Glück hast, hast du einen Menschen, dem du alles erzählen kannst, wirklich alles, ohne dass du dich für irgendetwas schämen musst. Einen Menschen, der dir genau das sagt, was du brauchst. Nicht das, was du hören willst (das ist etwas anderes). Er sagt dir das, was für dich in dieser Situation am besten ist, auch wenn es manchmal wehtut.

Und bei mir war dieser Mensch meine langjährige Brieffreundin Marie Thomas. In der sechsten Klasse bekam im Englisch-Unterricht jeder Schüler einen Brieffreund zugewiesen. Und ich bekam Marie. Eine bessere Wahl als das Schicksal hätten wir selbst nicht treffen können: Zwei Mädchen im selben Alter, gleich und doch verschieden. Sie ist Yin und ich bin Yang. Sie ist klein und ich bin groß, sie ist schwarzhaarig und ich bin rothaarig …. Oh, mein Gott, das hört sich an, als sähen wir aus wie - Dick und Doof?

Naja, auf jeden Fall verstanden wir uns von Anfang an super. Alle anderen Brieffreundschaften machten nach einiger Zeit den Abgang, aber wir schrieben uns gegenseitig, dass die Schwarte krachte. Englisch wurde für mich zur zweiten Muttersprache und Deutsch für Marie.

Oft kam sie mich in den Ferien besuchen, weil meine Eltern nie genug Geld hatten, um mir eine Reise nach England zu finanzieren. Im Gegensatz zu meiner Familie hatten Maries Eltern nie Geldsorgen, da ihnen eine gut florierende Restaurantkette gehörte. Und seit Marie als Eventmanagerin arbeitete, war Geld das kleinste ihrer Probleme. Sie wohnte in London, während ihre Eltern ein älteres Landhaus außerhalb der Stadt hatten.

Seit ich meine eigene Wohnung hatte, telefonierten wir regelmäßig miteinander. So war es letztendlich nur logisch, dass Marie, meine beste Freundin, auch meine Trauzeugin werden sollte.

Ehrlich, ich weiß nicht, wie oft wir uns schon am Telefon gegenseitig die Ohren voll geheult hatten, wegen irgendwelcher Deppen, die uns die Herzen gebrochen hatten. Doch ich hatte diesmal den König aller Deppen gezogen – Peter.

Ich musste Marie einfach anrufen und während des Telefonats machte sie mir den Vorschlag, der mein ganzes Leben verändern sollte.

„So ein Mistkerl! Wie kann er dir das nur antun? Und sie, dieses hinterhältige Luder. Wie ich solche Frauen hasse! Honey, wie wäre es, wenn du die Koffer packst und zu mir nach London kommst? Lass den ganzen Mist hinter dir, du hast doch sowieso bald Urlaub.“

Ja, drei Wochen Urlaub hatte ich bei meinem Chef beantragt, der übernächste Woche beginnen sollte.

Das hieß, ich würde Desiree noch eine Woche lang an meinem Arbeitsplatz über den Weg laufen. Der einzige Trost war, dass sie in einer anderen Abteilung arbeitete und uns ein Stockwerk voneinander trennte. Das war dann aber auch schon alles, was mir diesen Spießrutenlauf ein wenig angenehmer machen würde, denn schließlich müsste ich den restlichen Kollegen sagen, dass die Hochzeit flachfiel. Sonst würden sie noch vergeblich vor der Kirche warten oder mir in der Kantine vor versammelter Belegschaft ein Geschenk überreichen wollen.

Nein, nein, nein. Nur, wenn ich schon daran dachte, bekam ich Schweißausbrüche.

Wenn Desiree nicht ganz so bescheuert wäre, wie sie aussah, würde sie vielleicht für sich behalten, dass sie meinen Ex-Verlobten ehelichen wollte. Doch mir war klar, dass dieser Gedanke in das Reich der Phantasie gehörte. Nein, Desiree schämte sich nicht die kleinste Bohne dafür, einer Arbeitskollegin den Bräutigam ausgespannt zu haben.

Also nahm ich Maries Vorschlag an. Ich gab mich der Hoffnung hin, dass bis nach dem Urlaub Gras über die ganze Sache gewachsen sein und ich mein Leben wieder so führen könnte wie vor dem Reinfall namens Peter. Schließlich starb die Hoffnung immer zuletzt.

Irgendwann entdeckt jeder von uns, dass es nicht nur den Himmel auf Erden gibt, sondern auch das Gegenstück. Diese eine letzte Woche bei der Arbeit, bevor ich meinen Urlaub antreten konnte, da durchschritt ich meine persönliche Hölle auf Erden.

Mein vorrangigstes Ziel lautete, mein Büro zu erreichen und dabei nicht in Desirees Fängen zu landen. Deswegen benutzte ich nicht den Haupteingang wie gewöhnlich, wo der einzige Aufzug im ganzen Haus war, sondern den Hintereingang, wo es lediglich ein Treppenhaus gab. Also joggte ich in Höchstgeschwindigkeit die Treppen ins dritte Stockwerk hoch und den Gang entlang, bis ich vor meiner Bürotür zum Stehen kam.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich dann einen hochroten Kopf und die Schnappatmung eines an Land geworfenen, sechs Kilo schweren Karpfens, der jeden Moment vor seinen Schöpfer treten würde. Leider muss ich gestehen, dass ich sportlich eine absolute Null bin (na, was für eine Überraschung!).

Froh, unbemerkt an meinem Ziel angelangt zu sein, versteckte ich mich gleich hinter meinem Schreibtisch. Doch zwei der tratschsüchtigsten Kolleginnen watschelten direkt nach meiner Ankunft in mein Zimmer herein und drangsalierten mich mit Fragen.

„Karen, ist das wahr? Desiree erzählt unten, sie wäre die neue Verlobte von deinem … ähm, jetzt wohl Ex-Freund.“

„Hat er dich wirklich wegen Desiree verlassen? Das behauptet sie zumindest.“

Zu allem Übel kam in diesem Moment mein Chef, herein. Herr Becker verzog den Mund und grunzte abfällig, was mir zeigte, dass er das neueste Gerücht nun ebenfalls gehört hatte. Nach einem Blick auf mich, die kollabierend, mit roter Gesichtsfarbe, die einem Pavian-Hintern alle Ehre gemacht hätte, halb unter dem Schreibtisch lag, war ihm wohl sofort klar, dass er die Gerüchte, dass mein Verlobter mich sitzengelassen hatte, nicht in Frage zu stellen brauchte. Immerhin brachte das Auftauchen meines Bosses das firmeninterne Abhörkommando dazu, sich eiligst zu verdrücken, wofür ich ihm insgeheim dankbar war.

Beckers Stirn kräuselte sich unter seinen ergrauten Locken. „Wie sieht es aus, muss ich nun davon ausgehen, dass Sie Ihren Urlaub nicht antreten werden?“

Keinerlei Mitgefühl schwang in der tiefen Stimme meines Chefs mit. Mein Verdacht, dass er in Wirklichkeit ein Alien war, verhärtete sich angesichts seines Gebarens immer mehr.

„Nein, Herr Becker“, antwortete ich mit einem Räuspern. „Ich werde zwar nicht heiraten, aber meinen Urlaub werde ich trotzdem nehmen. Natürlich ohne den Heiratssonderurlaub.“ Mein Gesicht schmerzte bei dem Versuch eines falschen Grinsens.

Mit ruckartigen Bewegungen schob Herr Becker die Brille auf seiner Knollennase zu Recht. „Gut, gut. Dann wäre ja alles geklärt.“ Er nahm seinen Aktenkoffer und verschwand in seinem Büro.

Aufatmend ließ ich mich in meinen Bürostuhl zurückfallen und widmete mich meiner Arbeit.

Seltsamerweise hatten in dieser Woche viele meiner Arbeitskollegen etwas mit mir zu besprechen, was natürlich nur immer der Aufhänger war, um brühwarm etwas über die geplatzte Hochzeit in Erfahrung zu bringen.

Mit dem geschnieften Satz „Tut mir leid, ich kann noch nicht darüber reden“ konnte ich allen Gesprächen aus dem Weg gehen.

Um Desiree nicht anzutreffen, ging ich immer etwas früher, vor der eigentlichen Mittagspause, in die Kantine. Mein Plan funktionierte auch gut - bis Mittwoch.

Ich lief gerade am Lift vorbei, als sich plötzlich dessen Türen öffneten und ich Desiree gegenüber stand. Sie streckte in diesem Moment die linke Hand vor sich aus und zeigte ihren Freundinnen, die sie giggelnd umringten, den Verlobungsring. Vor Entzücken kieksten die Damen im Chor wild durcheinander:

„Oh, der ist ja wundervoll, Desi!“

„Wie schön!“

„So einen hätte ich auch gerne!“

„Du Glückspilz!“

Als sie mich entdeckten, verstummten sie jedoch abrupt, um gleich darauf leise weiter zu tuscheln und zu prusten:

„Das ist sie doch, oder?“

„Die ist ja ewig groß.“

„Schau dir mal die roten Haare an!“

Und Desi, die falsche Schnalle, grinste bösartig. So schnell wie meine Kondition es zuließ, hechtete ich zurück in mein Büro. Wütend über diese Schmach, die mir Peter und Desi zufügten, ersann ich einen teuflischen Racheakt, den ich noch vor meinem Urlaub lostreten wollte.

Am späten Mittwochnachmittag schlichen Harry (in einem beigen Trenchcoat mit Bogarthut) und ich (mit Kopftuch und großer Sonnenbrille) unbemerkt in Rossners Geschenkeladen.

Naja, wir blieben fast unbemerkt, bis Harry einen Stapel Töpfe umstieß, was zu einem Heidenspektakel führte. Ein kleiner Chihuahua, der einer Kundin gehörte, erschrak durch den Lärm dermaßen, dass er seinem Frauchen aus der Handtasche hüpfte und quer durch den Laden flitzte. Dabei zerbrach er vermutlich mehr Geschirr als der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Die Verkäuferinnen und die Kundin versuchten vergeblich, das wildgewordene Pelzknäul einzufangen, was uns Pseudo-Agenten die Gelegenheit gab, ohne großes Aufsehen ins Untergeschoss zu gelangen. Dort war er, der Heilige Gral: Peters und Desis Geschenktisch.

Als ich die Tischkarte sah, auf der ihre Namen nebeneinander verewigt waren, versetzte es mir einen Schlag in die Magengrube. Nicht nur mein Name war durch Desirees ausgetauscht worden, sondern auch das Trauungsdatum. Peter hatte es wohl besonders eilig Desi zu heiraten, denn der Termin lag vor unserem geplanten Hochzeitstermin.

Bloß diese Karte mit der vom Nebentisch zu vertauschen, erschien mir zu lapidar und zu auffällig. Deswegen tauschten wir einige der Geschenke aus, nicht viele. Nein, nur ein paar, auf die Desiree, meines Erachtens, am meisten Wert legen würde. Wir beschränkten uns auf drei Dinge. Aus einem Teppanyaki-Grill wurde ein Set geschmackloser Kerzenhalter, die Zwerge darstellten, deren pralle, nackte Hintern zu den Hosen heraushingen. Der edle Rotwein-Dekanter wurde zu einem kitschigen Toilettenbürstenhalter in Form eines hässlichen Babys. Und den eleganten Ice-Crusher ersetzte Harry durch einen (und ich weiß bis heute nicht, woher er den aufgetrieben hatte) riesigen, erschreckend echt aussehenden Dildo mit Vibration und Akkufunktion. Zwar könnte Desi daran womöglich noch ihre Freude haben, aber Peter sicherlich nicht. Zumindest vermutete ich dies. Aus diesem Grund gab ich Harry für den Austausch grünes Licht.

Mit einem zufriedenstellenden Gefühl der Genugtuung verließ ich schließlich den Laden.

Am Tag vor dem Abflug setzte ich einen weiteren Teil meines diabolischen Racheplans in die Tat um. Ich fand heraus (dank des firmeninternen Abhörkommandos), wo genau Peters und Desis Hochzeitsfeier stattfinden würde. Es war dann ein Kinderspiel unter Desirees Namen eine Torte samt Stripper zu bestellen, die pünktlich am Tag ihrer Hochzeit an besagte Adresse geliefert werden würde. Als Rechnungsadresse gab ich selbstverständlich Peters Anschrift an. Alles waren nur kleine Gemeinheiten, die ich einfädelte, aber sie halfen mir, die Schmach, eine sitzengelassenen Braut zu sein, leichter zu ertragen.

Abends verabschiedete ich mich von meinen Eltern. Angesichts der verheerenden Umstände (meine Mutter war noch immer zu Tode betrübt über den Verlust von Peter als Schwiegersohn) fiel der Besuch ziemlich wortkarg und kurz aus.

Endlich war es dann Freitagmittag und ich konnte nach der Arbeit zum Flughafen fahren. Beschwingt, alles hinter mir lassen zu können, bestieg ich meinen Flieger nach London. Sogar während des Fluges versuchte ich noch immer, Antworten auf die Fragen zu finden, die mir im Kopf umherzogen.

Warum war Peter erst drei Wochen vor unserer Hochzeit eingefallen, mir zu sagen, dass er mich nicht liebte? Weshalb hatte ich seine fehlende Liebe nicht bemerkt? Spielte es für eine Beziehung wirklich eine Rolle, aus welchen gesellschaftlichen Kreisen man kam? Peters komplettes Desinteresse an der Hochzeit hätte mir eine Warnung sein müssen. Wie hatte ich das bloß übersehen können? Jede noch so kleine Entscheidung, die unsere Feier betraf, hatte er mir überlassen, weil er angeblich geschäftlich ja so sehr eingebunden war. Auch dieser nicht-vorhandene Enthusiasmus zu der Angelegenheit, dass ich bei ihm einziehen würde (was übrigens die Idee meiner Mutter war), hätte mich wachrütteln müssen. Aber … ich hatte auf rosaroten Wattebäuschchen geschwebt: Endlich ein toller Kerl, der mich heiraten wollte.

Zum Glück hatte ich die Kündigung meiner Wohnung rückgängig machen können. Der Verlobungsring würde per Post an Peter zurückgehen. Und wenn ich in zwei Wochen wieder nach Hause kam, würde alles wieder so sein wie früher. Ich, Karen, das rothaarige Schlachtschiff, allein auf hoher See.

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