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1945.

Über dem polnischen Land liegt die starre Melancholie eines sibirisch kalten Januartages. Die Luft steht still, die Kälte hängt wie eine unsichtbare Glocke über dem Raum. Wohl scheint die Sonne, doch sie ist ohne wärmende Kraft und wandert, einer abgegriffenen Silbermünze gleichend, im farblosen Dunst des Winterhimmels.

Auf der schneeglatten Straße von Warschau nach Rawa summt ein planenüberspannter Wehrmachtsdiesel. Die Schneeketten klirren gegen die vereisten Kotflügel und wirbeln Schneestaub auf, der das ganze Hinterteil des Fahrzeuges überpudert hat. Im Fahrerhaus sitzen drei in dicke Wintermäntel eingepackte Soldaten. Der Fahrer schielt manchmal zur Seite, wo die Kameraden sitzen und schlafen. Der eine schnarcht mit offenem Mund. Der andere hat den Kopf auf die Schulter des Kameraden gelegt.

Jetzt fährt der Lkw in eine Kurve und gerät leicht ins Rutschen.

„Verdammter Mist!“, schimpft der Fahrer und weckt damit die beiden Mitfahrer auf.

„Was’n los?“, fragte der eine.

„Glatt ist’s! Miststraße, elende.“

Jetzt ist auch der andere Soldaten wach geworden und gähnt; dann wischt er an der gefrorenen Türscheibe und murmelt:

„Schätze, dass es mindestens dreißig Grad unter Null sind.“

Sie schweigen wieder.

Der Lkw summt eine Steigung hinan und rollt dann auf wieder ebener Strecke weiter.

„Los, ’ne Zigarette brauch ich“, brummt der Fahrer.

Der ganz rechts sitzende Mitfahrer wühlt in den Manteltaschen nach den Zigaretten, gibt dem Nebenmann eine und brennt sich zwei Stück an. Eine davon für den Fahrer.

„Merci“, grunzt der und steckt sich die Zigarette in den Mund.

Der enge Raum nebelt sich mit blauem Dunst ein.

„Wo kommst du her?“, fragt der in der Mitte sitzende Soldat seinen rechten Nebenmann.

„Nowe Miasto. Ich habe dort an einem Lehrgang der Armee-Pionierschule teilgenommen.“

Der Fahrer, mit der Zigarette im Mundwinkel, grinst:

„Wozu soll dat denn gut sein?“, fragt er.

Das Gespräch kommt in Gang und verscheucht Fahrmüdigkeit und Langeweile.

Willi Röttger heißt der Obergefreite, der mit Wäschebeutel, Karabiner und blaugefrorener Nase auf der Straße stand und dem aus Warschau kommenden Wagen zuwinkte, um ein Stück mitgenommen zu werden. Nach Rawa.

Dort liegt das 662. SMG-Bataillon, dessen Offiziere zum größten Teil schon den Ersten Weltkrieg mitgemacht haben. Willi gehört zum Pionierzug der fünften Kompanie. Seit einigen Monaten baut man Bunker und Panzergräben, die das Städtchen Rawa in weitem Halbkreis nach Osten hin abschirmen und der sowjetischen Dampfwalze ein energisches Halt entgegensetzen sollen.

Willi Röttger, 23 Jahre alt, von Beruf Schlosser, aus dem Sauerland stammend, gehört zu jener Sorte Soldaten, die sich auf fast allen Kriegsschauplätzen herumgetrieben haben und das Rückgrat der Armee bilden. Er gilt als stur und hat sich während seiner fünfjährigen Dienstzeit mit der sprichwörtlichen Ruhe seiner Heimat gewappnet, mit der er militärischen Schikanen und Unsinnigkeiten zu widerstehen vermag. Seine Meinung über den Krieg ist grundsätzlich negativ, aber er hütet sich, sie laut werden zu lassen.

Der dreiwöchige Lehrgang auf der Armee-Pionierschule in Nowe Miasto hat ihn mit neuen Infanteriewaffen bekannt gemacht, wobei es passierte, dass er auch zwei Mal strafexerzieren musste, weil er einem Ausbilder „pampig“ gekommen war.

Jetzt befindet sich Obergefreiter Röttger auf dem Weg zum Bataillon und freut sich auf das Wiedersehen mit Emmerich Sailer, dem alten Weg- und Streitgenossen.

„Was macht ihr denn in Rawa?“, fragt er die beiden Lkw-Fahrer.

„Marketenderwaren bringen wir euch“, sagt der Nebenmann.

„Na prima!“, freut sich Willi. „Was gibt’s diesmal?“

„Den gleichen Kram wie immer“, erwidert der Mitfahrer. „Haarwasser, Zahnpasta, Schreibste-ihr-Papier.“ Er feixt.

„Für so was haben wir in Rawa keine Verwendung“, lacht Willi.

Der Fahrer beugt sich vor und fragt grinsend:

„Wieso nich? Gibt’s keene Weiber bei euch?“

„Schon“, sagt Willi, „aber die pfeifen uns was, die sind stur.“

Jetzt sind die drei Soldaten beim unerschöpflichen Thema angelangt. Willi hört nur halb zu; er denkt an Emmes, den Freund. Seit einem Jahr sind sie zusammen und unzertrennlich geworden. Mit ein bisschen Glück und Drängelei konnte man bisher beisammenbleiben.

Ein Dorf taucht auf.

Mit klirrenden Schneeketten fährt der Lkw hindurch, und dann kommen Wehrmachtsfahrzeuge entgegen, weichen vorsichtig aus und fahren in Richtung Warschau weiter. Auch ein paar Panjeschlitten zockeln neben der Straße her im Schnee. Die kleinen, zottigen Pferde atmen Dunstfahnen aus den Nüstern, und auf den Schlitten hocken dick vermummt Zivilisten.

„Noch acht Kilometer bis Rawa“, sagt Willi. „Ich bin wirklich froh, dass ihr mich mitgenommen habt, Kumpels.“

„Ist doch ’n klarer Fall“, sagt der Fahrer. Dann fragt er wie beiläufig: „Wird Rawa auch zur Verteidigung ausgebaut?“

„Feste, mein Lieber“, sagt Willi. „Bevor ich zum Lehrgang abkommandiert worden bin, haben wir ’ne Menge Bunker gebaut.“

„Wie überall“, bemerkt jetzt der Mitfahrer. „Sogar in Warschau wird gebuddelt.“

„Wo du hinspuckst, Militär“, lässt sich der Fahrer vernehmen. „Manchmal sind sogar die Straßen verstopft. Es sieht wirklich aus, als käme bald ’s dicke Ende von dem Mist. Es heißt ja, der Iwan greife bald an … Na, dann gute Nacht, Marie. Haste noch ’n Stäbchen für mich, Kumpel?“

Willi brennt dem Fahrer eine neue Zigarette an.

„Bei Baranow steht der Iwan“, sagt Willi, als er die Zigarette hinüberreicht, „Pulawy und Magaszewa sollen schon wieder von den Unsern geräumt worden sein.“

„Das stimmt“, nickt der Fahrer. „Vor vier Tagen sollten wir Verpflegung nach Pulawy fahren. Wir sind gar nicht bis dorthin gekommen. Der Iwan war schon da. Mann, was wir auf der Rückfahrt erlebten, vergess’ ich mein Lebtag nicht. Nur so gerannt sind die Unsern … eine Affenschande!“

„Dabei hat man doch Jahre lang Bunker gebaut und alles befestigt“, sagt der Mitfahrer ärgerlich, „und trotzdem geht’s zurück, nirgendwo wird mehr gehalten. Es ist zum Kotzen. Wenn das so weitergeht, haben wir den Iwan bald vor unserer Haustür.“

„Das kommt noch so weit“, murmelt der Fahrer und gibt mehr Gas, da die Straße ansteigt.

Die drei schweigen. Ihre Gesichter drücken Besorgnis aus. Jeder weiß, dass die Rückzüge in Russland an der ganzen Front stattfinden; man sieht es ja: Die Straßen sind von zurückflutenden Fahrzeugen verstopft, in den Dörfern östlich von Warschau wimmelt es von Militär, und selbst der größte Optimist hat aufgehört, an den versprochenen Sieg zu glauben.

Eine Straßenkreuzung kommt näher. Die Wegschilder stehen schief im Schnee.

„So, Kumpels“, sagt Willi und deutet mit dem Kinn nach vorn. „Das dort ist Rawa. Nimm langsam ’s Gas weg, Onkel.“

„Wie spät hab’n wir’s denn?“, fragt der Fahrer.

Der Mitfahrer schiebt den Mantelärmel hoch und schaut auf die Uhr.

„Halber viere, Jupp.“

„Da wird’s wieder Nacht, bevor wir …“ Er bricht ab und beugt sich vor, schaut durch die leicht vereiste Windschutzscheibe und bremst plötzlich so jäh, dass der Wagen ins Rutschen kommt und sich quer zu stellen droht.

„Mensch, biste jeck!“, ruft der Mitfahrer.

„Raus!“, brüllt der Fahrer. „Flieger!“

Der Lkw neigt sich nach rechts und bleibt schief im schneeverwehten Straßengraben hängen. Willi reißt die Tür auf und lässt sich hinausfallen. Zugleich hört er das Dröhnen näher kommender Flugzeuge. Es schwillt an, es füllt den Raum.

Aus südöstlicher Richtung fliegen sie an. Russenbomber. Hundert, zweihundert oder noch mehr. Auf Rawa zu, das nur noch zwei Kilometer weit vom schief im Straßengraben hängenden Lkw liegt. In dem Dröhnen ihrer Motoren hört man die um Rawa stehende Flak schießen.

Willi liegt in der Schneewehe und spürt die bissige Kälte nicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er dem Pulk entgegen, zwischen dem kleine, schwärzliche Sprengwolken wachsen.

Dann ertönt ein Rauschen und gleich darauf ein ohrenbetäubendes Krachen.

Der erste Bombenteppich rast über Rawa hinweg. Qualm kocht empor und baut sich zu einer dunklen Wand auf, in der unzählige grelle Blitze zucken. Der Luftdruck presst Willi in den Schnee.

Dort vorne muss die Hölle los sein. Die Rauchwand wächst noch immer. Bombenteppich auf Bombenteppich rauscht nieder. Die Einschläge tanzen jetzt in rasendem Rhythmus auf dem freien Feld und hinterlassen dunkle Flecke, über denen die Sprengwolken wie Pilze stehen.

Endlich verstummt das Bersten und geht in ein hohles Dröhnen über. Die Bomber fliegen ab. Das Geräusch verliert sich in nordwestlicher Richtung.

Willi Röttger bleibt noch eine Weile liegen. Emmes, denkt er, hoffentlich bist du nicht in der Stadt gewesen … Das muss ja entsetzlich gewesen sein … grauenhaft …

Hinter Willi erhebt sich der Mitfahrer und sucht seine Mütze. Er ist blass und klopft sich den pulverigen Schnee vom Mantel.

„Mensch“, sagt er heiser, „was haben wir für einen Massel gehabt, dass wir noch nicht drin waren.“

Jetzt taucht der Fahrer auf; er lag auf der anderen Straßenseite und bleibt kopfschüttelnd stehen, starrt in Richtung Rawa, wo der Rauch brodelt und kocht und langsam abzieht.

„He, Jupp!“, ruft der Mitfahrer. „Jetzt sind wir dran mit dem Bedanken … unser Kumpel da … nee sowas … Mensch, wie heißte eigentlich?“

Willi murmelt seinen Namen; er ist noch ganz benommen von dem Schreck.

„Du bist unser Glücksschweinchen jewese“, sagt der Fahrer und schlägt Willi auf die Schulter. „Um Minuten ist es jegang’n, Mann … um Minuten!“

Pulvergestank und Brandgeruch wehen heran. Auf der Straße kommen ein paar Fahrzeuge und stauen sich hinter dem schief im Straßengraben hängenden Lkw. Rufe werden laut. Stimmen wirbeln durcheinander.

Willi hat seinen Wäschebeutel und den Karabiner aus dem Lkw geholt, verabschiedet sich von den beiden Fahrern und geht rasch davon – auf Rawa zu, in dem ihn ein heilloses Durcheinander und Schlimmes erwarten wird.

Rawa mit seinen ungefähr fünftausend Einwohnern gilt als strategisch wichtiger Punkt, weil fünf Straßen sich in der kleinen Stadt kreuzen. Sie liegt siebzig Kilometer südlich von Warschau und fünfundsiebzig Kilometer östlich von Litzmannstadt. Pioniere und Angehörige des 662. SMG-Bataillons haben in monatelanger Arbeit einen starken Befestigungsgürtel um den Ort und entlang den von Süden nach Norden verlaufenden Hügeln gezogen, wobei man mehr oder weniger rigoros auf die Mithilfe der polnischen Bevölkerung zurückgegriffen hat.

Mit dem Bombenangriff auf Rawa scheint die lang erwartete Offensive der Sowjets ins Rollen gekommen zu sein. Sie haben Brückenköpfe bei Baranow, Pulawy und Magnuszew gebildet und, wie man allgemein weiß, starke Kräfte herangezogen.

Willi Röttger hat die brennende Stadt schnell erreicht. Sie hüllt sich in Rauch. Ganze Straßenzüge stehen in Flammen. Auf dem Marktplatz brennen abgestellte Wehrmachtsfahrzeuge bis aufs Gerippe aus. Menschen laufen in kopfloser Angst herum. Geschrei und das unheimliche Prasseln des Brandes bilden eine unwirkliche Geräuschkulisse. Soldaten und Zivilisten rennen durcheinander. Was an Fahrzeugen noch intakt geblieben ist, startet, um in rücksichtsloser Eile aus der Stadt zu kommen.

Ein Offizier versucht, Ordnung in das Durcheinander zu bringen, aber niemand hört auf ihn, und schließlich verschwindet er.

Willi schwitzt vor Aufregung und Angst. Über Rawa fliegen jetzt sowjetische Schlachtflieger. Das schmetternde Krachen ihrer Bomben mischt sich in das Dröhnen der erneut schießenden Flak. Da prallt Willi auf eine Frau, die aus einem brennenden Haus stürzt.

„Pan … pan …“, kreischt sie und ringt verzweifelt die Hände, „meine Kind … meine kleine Kind …“

Noch ehe Willi begreift, ertönt ein mahlendes Schieben. Er packt die Frau am Handgelenk und zieht sie fort; sie stürzt, sie schreit schrill, sie reißt sich los, und Willi rennt allein weiter.

Hinter ihm kracht das Haus zusammen und schleudert brennende Dachbalken durch die Luft.

Es ist eine Hölle, durch die Willi rennt. Es gilt, das bisschen Leben in Sicherheit zu bringen und aus diesem Irrsinn herauszukommen.

Der Obergefreite kommt durch. Jetzt hat er den Stadtrand erreicht, an dem entlang ein tiefer Bach fließt. Auf der anderen Seite liegt der neue Panzergraben. Dort drinnen hocken Soldaten und pressen sich an die Betonwände.

Willi muss verschnaufen. Er lehnt sich außer Atem an die Grabenwand und wischt sich über das schwitzende Gesicht.

„Wo … wo liegt die fünfte Kompanie, Kumpel?“, fragt er einen Soldaten, der sich mit zitternden und frostklammen Händen eine Zigarette zu drehen versucht.

„Kann ich dir nicht sagen – irgendwo drüben bei den Bunkern.“

Willi nimmt sein Gewehr und steigt aus dem Panzergraben.

„Mann – pass auf!“, schreit ihm jemand nach. „Tiefflieger!“

Sie sind schon da. In geringer Höhe rasen sie über das von Bomben zerfressene Gelände. Die Bordwaffen rattern.

Willi hat sich hingeworfen und hält den Atem an. Er spürt den Fahrtwind des Schlachtfliegers, er hört das Prasseln der Geschosse.

Auf! Weiter!

Willi stolpert und rennt auf einen der Hügel zu, auf den eine Trampelspur hinaufführt. Höhe 114. Dort muss der Gefechtsstand der fünften liegen.

Die Schlachtflieger sind verschwunden. Irgendwo hinter dem rauchenden Rawa rummeln sie herum: Die Flak in ihren Schneeburgen stellt das Feuer ein. So etwas wie Ruhe breitet sich über den Raum.

Noch während Willi den Schneepfad hinaufstolpert, hört er in östlicher Richtung Kanonendonner.

Der Eingang des großen, mit Schnee getarnten Bunkers liegt auf der Westseite des Hügels. Eine mit Asche bestreute Treppe führt hinab.

Willi atmet erst ein paar Mal durch. Schwein gehabt, denkt er und schaut den Weg zurück, den er gekommen ist.

Das monotone Weiß der Landschaft zwischen Bunker und Stadtrand ist mit vielen runden Flecken beschmutzt: frische Bombentrichter. Über Rawa schwebt eine mächtige Rauchwolke und schiebt langsam gegen Norden ab.

Da kommt jemand die Bunkertreppe herauf.

Willi sieht zunächst nur einen weiß gestrichenen Stahlhelm und breite Schultern.

„Hallo – ja, das ist ja der Röttger!“

„Jawohl, Herr Unteroffizier – vom Lehrgang zurück. Bin grad noch so durchgekommen.“

Willi und der Unteroffizier Kurt Lehmann, Gruppenführer im Pionierzug, begrüßen sich herzlich. Lehmann ist einer der wenigen Aktiven der Kompanie und hat das Deutsche Kreuz in Gold und etliche Auszeichnungen mehr am Rock.

„Röttger, Sie Pechvogel, was haben Sie sich bloß für ’nen miserablen Anreisetag ausgesucht! Warum sind Sie nicht noch ein paar Tage in Nowe Miasto geblieben?“

„Nee – danke, Herr Unteroffizier –, mir hat’s gereicht. Da ist mir unser Gammelverein schon lieber.“

„Der Iwan ist zum Angriff angetreten.“

„Wo?“

„Überall. In Baranow geht’s rund. Nicht mehr lange, dann werden auch wir was zu tun kriegen.“

In der Ferne rumpelt starker Kanonendonner. Bei Baranow muss es sein. Rechts des Bunkers geht Infanterie vor.

„Ob wir wieder ’nen Rückzieher machen werden?“, fragt Willi misstrauisch.

Lehmann zuckt die breiten Schultern. „Wenn wir noch die alte Garnitur wären, Röttger … aber Sie wissen ja, was hier alles rumgurkt in der Gegend. Lauter ältere Herren, von den jungen Dachsen und den halben Krüppeln erst gar nicht zu reden, mit denen wir den Krieg gewinnen sollen. Es ist ein Jammer.“

„Ist beim Pionierzug noch alles da?“, fragt Willi.

„Ja – noch alles da. Auch Ihr Freund Sailer. Der wird sich freuen, wenn er hört, dass Sie wieder da sind. Ich gehe jetzt zu unserem Bunker rüber, Röttger. ,Haus Sonnenblick‘ wohnen wir.“ Lehmann grinst.

„Wie sinnig“, grinst auch Willi und lehnt das Gewehr an die Schneemauer.

„Los“, sagt Lehmann, „melden Sie sich jetzt beim Alten zurück, und warten Sie dann hier, bis der Sailer kommt. Ich schick ihn her. Wir liegen ’n Ende von hier weg … auf dem zweiten Hügel links drüben.“

„Dammich“, murmelt Willi, sich umschauend. „Nu ist doch mein Wäschebeutel weg – so ein Mist … so ein verfluchter Mist.“

„Sie Heini! Wie kann Ihnen so was passieren!“, schimpft Lehmann.

„Hab ihn bei der Rennerei verloren“, murmelt Willi. „In der Stadt irgendwo … oder schon vorher. Nein, so ein Mist! Ich könnte mir vor Wut in den Hintern beißen!“

„War was Wichtiges im Wäschebeutel?“, fragt Lehmann.

„Na klar“, grient Willi. „Schnaps und Zigaretten. Aufgespartes.“

„Sie gehören mit Katzendreck erschossen, Röttger“, stellt Lehmann fest und schüttelt den Kopf. „Wie kann man Schnaps und Zigaretten … nee so was, nee so was …“

Lehmann schiebt ab und verschwindet auf dem Trampelpfad. Willi würgt den Ärger hinunter und ordnet Mantel und Koppelsitz; dann stolpert er die Bunkertreppe hinab.

Eine Tür ist nicht vorhanden. Eine steif gefrorene Zeltbahn verdeckt den Eingang. Dahinter hört man hohl klingende Stimmen. Ein Fernsprech-Apparat klingelt.

Der Obergefreite Willi Röttger betritt den Gefechtsstand der fünften Kompanie.

Der Raum ist niedrig und riecht nach frischem Mörtel und Tabakrauch. Von der Decke herab baumelt eine Karbidlampe. Ein Tisch steht in der Mitte, auf dem eine Landkarte liegt. Vor den beiden breiten Schießscharten stehen niedrige Plattformen aus Brettern, auf denen je ein MG 42 postiert ist. Daneben liegt ein Haufen gegurtete Munition.

„Obergefreiter Röttger meldet sich vom Sonderlehrgang aus Nowe Miasto zurück!“ Willi steht so ähnlich wie stramm und blinzelt in das grelle Licht.

„Aaah – der Röttger ist wieder da!“, ertönt eine sanfte Männerstimme, und Oberleutnant Drechsler kommt um den Kartentisch herum: ein gepflegt aussehender älterer Herr im fußlangen Mantel, gelbem Wollschal, Hornbrille und mit rosigem Gesicht. Die fünfte Kompanie führt er seit Oktober vorigen Jahres. Von Kriegsführung hat er wenig Ahnung, da er erst vor acht Monaten vom Ladentisch seines in Mühlhausen befindlichen Textilgeschäftes weg zur Wehrdienstleistung einberufen wurde.

Oberleutnant Drechsler ist schon Großvater, ein gütiger. Mit derselben Güte behandelt er auch seine Kompanie. Man nennt ihn – wenn er es nicht hört – deswegen auch Opa. Das EK eins an seiner Brust stammt aus dem Ersten Weltkrieg.

„Na, wie war’s, Röttger?“, fragt Drechsler den Obergefreiten und reicht ihm freundlich die Hand.

Willi bekommt einen laschen Händedruck zu spüren und sagt: „Prima, Herr Oberleutnant.“

Auch der Leutnant kommt heran: ein blutjunges Kerlchen, blass und schmal wie ein Handtuch.

„Sie kommen zur rechten Zeit, Röttger!“ Es klingt fröhlich. „Nun ist es bald so weit, und Sie müssen sich in die Heldenbrust werfen.“

Wie albern! Ob es auch dieser Junge tun wird?

„Viel Neues hinzugelernt, mein Sohn?“, erkundigt sich der gemütliche Herr in Uniform.

„Jede Menge, Herr Oberleutnant. Leider muss ich Ihnen aber den Verlust meines Wäschebeutels melden.“

„Das ist nicht so wichtig, Röttger. Hauptsache, Sie sind wieder da.“

Da ertönt aus dem Hintergrund des Bunkerraumes ein Bierbass. „Ja mei, der Röttger Willi is aa wieder da vom Lehrgang in Nowe Miasto.“

Der Bierbass gehört Unteroffizier Emil Huber, der als Hauptfeldwebel Dienst tut und am Rockärmel die Kolbenringe trägt. Huber ist von Beruf Pferdemetzger, wiegt über zwei Zentner, hat ein wohl genährtes Gesicht und trägt einen grauen Schnauzer unter der Kartoffelnase. Er ist Münchner, und ihm gehen Weißwurst und Bier genauso ab wie seine geliebte Vaterstadt. Lauter gemütliche Leute sind das, mit denen man bestens auskommen kann und die sich redliche Mühe geben, eine aus Magenkranken, Rheumatikern und sonstigen Genesenden bestehende Kompanie zu führen. Wie sie sich bewähren werden, wenn der Russe anrennt, ist für Willi ungewiss.

Er muss berichten, wie es in Nowe Miasto war. Dann spricht er von dem Bombenangriff und dem Chaos in Rawa.

Die Mienen werden ernst. Oberleutnant Drechsler nickt nur.

„Na, die Russen sollen bloß kommen“, sagt Leutnant von Zinnenberg, „denen werden wir schon einheizen.“

Das Telefon rasselt.

Drechsler nimmt den Hörer auf, meldet sich mit dem Decknamen der Kompanie, horcht und nickt ein paar Mal.

„Jawohl“, sagt er dann und klappt leicht die Hacken seiner dicken Filzstiefel zusammen, was einen dumpfen Ton erzeugt. „Ende.“

Der Hörer klappert auf den Apparat zurück.

Oberleutnant Drechsler reibt sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase; dann sagt er mit dramatischer Schwere:

„Meine Herren, der Feind ist aus allen Brückenköpfen heraus zum Angriff angetreten.“

Schweigen.

Huber zwirbelt nervös an seinem Schnauzbart. Leutnant von Zinnenberg tritt an den Tisch und beugt sich über die Karte; dann legt er die gepflegte Hand darauf und sagt:

„Wir werden unsere Stellungen halten … wir haben die Besten. Er soll nur kommen!“

O du lieber Augustin, denkt Willi und verlässt grüßend den Bunker.

Als er die schmale Treppe hinaufsteigt, taucht oben eine Gestalt auf und breitet die Arme aus.

„Willi! Alter Kumpel! Servus!“

„Mensch, Emmes – Hundling! Knallkopp!“

Die beiden Freunde umarmen sich.

Emmerich, von Willi „Emmes“ genannt, ist ein hübscher Kerl. Seine schlanke Gestalt verschwindet in einem langen Mantel, und deshalb wirkt auch der Kopf etwas zu klein, zu schmal. Er hat leicht vorstehende Backenknochen und hellblaue, gescheite Augen, die meist kritisch die Geschehnisse beobachten und betrachten.

Emmerich Sailer stammt aus der Gegend von Klagenfurt. Dort hat seine Mutter ein kleines Häuschen und lebt von einer Pension, die ihr der durch einen Werksunfall ums Leben gekommene Mann hinterlassen hat. Davon hat Frau Sailer ihren Sohn in Wien Chemie studieren lassen. Er ist mit dem Studium nicht fertig geworden, weil er 1943 zum Militär einberufen wurde, ist aber fest entschlossen, es nach Kriegsende fortzusetzen.

Emmes ist Willi, was Bildung anbelangt, turmhoch überlegen, aber das stört die guten Beziehungen zueinander nicht im Geringsten. Sie haben sich vor einem Jahr in Teisendorf bei Klagenfurt in einem Ersatz-Bataillon kennen gelernt und sind seither immer beisammengeblieben.

„Erst ’ne Zigarette“, sagt Emmes und hält Willi die zerdrückte Juno-Schachtel hin.

„Mensch, ich bin froh, dass ich wieder da bin“, brummt Willi, als er von Emmes Feuer gereicht bekommt. „Und was ist hier los?“

„Hörst es ja, Spezl“, lächelt Emmes. „Krieg hab’n ma schon die ganze Zeit.“

„Das hab ich auch schon bemerkt“, grinst Willi. „Ob beim Pionierzug noch alles beisammen ist, wollte ich wissen.“

„Noch allweil alles da“, sagt Emmes, und Willi lauscht entzückt dem steiermärkischen Dialekt, den er so lange entbehrt hat und der ihm jetzt ein Gefühl heimatlicher Geborgenheit verursacht.

„Der Sepp Lechner ist noch immer unser Zugführer“, setzt Emmes lächelnd fort, „und der Lehmann, der Müller … der ganze Haufen is noch beisammen. Mit dir san wir jetzt wieder komplett, Willi. Übrigens – der Lehmann hat mir gesagt, dass du deinen Wäschebeutel verloren hast, du Depp, du damischer! Wie kann man Schnaps und Zigaretten verlieren?“

„Das hat der Lehmann mich auch schon gefragt. Aber es ist nicht mehr zu ändern, Emmes.“

„Macht nix, Spezl. Die Wiedersehensfeier wird trotzdem abgehalten. Meine Mutter hat mir vor ein paar Tagen ein zünftiges Packerl g’schickt, und da war, unter anderm, auch ein Flascherl Sliwowitz drin.“

Willi drischt dem Freund auf die Schulter. „Mensch, da ist ja alles dran!“

Emmes wird ernst. „Bist grad in den Schlamassel reingekommen, gell?“

„Nicht ganz. Kurz vor Rawa haben wir bemerkt, was los ist. Ich bin mit einem Lkw gekommen. Zwei oder drei Kilometer vor Rawa haben wir den Bombenangriff miterlebt. Scheußlich, sag ich dir. In der Stadt schaut es schlimm aus … ich möchte jetzt nicht mehr dran denken, Emmes. Reden wir lieber von was anderm.“

„Unkraut vergeht nicht“, sagt Emmes, und dann gehen sie langsam davon, zwei unterschiedliche Gestalten, aber doch ein Herz und eine Seele.

Der Kanonendonner östlich Rawa nimmt an Stärke zu und scheint näher zu kommen.

Die Versprengten

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