Читать книгу Die Versprengten - F. John-Ferrer - Страница 7
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ОглавлениеSeit einer Stunde liegt Rawa unter starkem Artilleriebeschuss des Feindes. Heulend fliegen die Granaten heran und schlagen zwischen den Bunkern und in der Stadt ein. Es ist ein systematisches Feuer, mit dem der Russe seinen Angriff vorbereitet.
Auf allen Straßen, die aus östlicher Richtung heranführen, hasten deutsche Panzer und Artillerie zurück, dazwischen Trossfahrzeuge, Panjeschlitten und Soldaten, denen Mut und Hoffnung genommen worden sind.
Im Gefechtsstand der 5. Kompanie herrscht bedrückte Stimmung. Man steht Gewehr bei Fuß: ein schwaches Bataillon, zusammengestellt aus Magenkranken und kaum Genesenen, aus jungen, unerfahrenen Männern und alten Herren, denen vor ihrer eigenen Courage bangt. Nur der Pionierzug, 38 Mann stark, stellt so etwas wie eine verlässliche Kampfgruppe dar.
Die beiden in der Nacht gebauten und noch nicht ganz fertigen Bunker auf der Höhe 123 sind – wie konnt’s anders sein – befehlsgemäß im Stich gelassen worden. Oberleutnant Drechsler ist es lieber, wenn der Pionierzug in unmittelbarer Nähe verbleibt.
Der Zug verteilt sich auf zwei größere und zwei kleinere Bunker, von denen aus man das Vorgelände weit übersehen und unter MG- und Pakbeschuss halten kann.
Vier Pakgeschütze sind zwischen den Bunkern in Schneeburgen in Stellung gegangen. Weiter hinten, am Stadtrand von Rawa, soll eine IG-Batterie in Stellung sein.
Oberleutnant Drechsler hat seine großväterliche Ruhe verloren. Er geht im Gefechtsbunker auf und ab. Sobald einer der Fernsprecher rasselt, zuckt er unmerklich zusammen.
Jetzt wieder.
„Das Bataillon“, sagt der junge Nachrichtenmann mit dem flaumbärtigen Gesicht und reicht Drechsler den Hörer.
„Hier ,Nordstern‘“, meldet er sich. „Drechsler am Apparat.“
Der Adjutant ist an der Strippe.
„Feind geht mit starken Kräften in Richtung Rawa vor.“ Die Stimme klingt nervös. „Es ist damit zu rechnen, dass er in der nächsten Stunde auftaucht. Stellungen müssen in jedem Falle gehalten werden, Nordstern.“
„Wir werden unser Bestes tun“, murmelt Drechsler. „Kann ich auf Artillerie-Unterstützung rechnen?“
„Ja. Die VB sind bereits unterwegs. Weisen Sie sie bitte ein. Sonst noch eine Frage?“
„N … nein“, sagt Drechsler.
„Gut. Geben Sie Alarm, Nordstern. Meldungen über den Feind sofort durchgeben. – Ende.“
„Ende“, murmelt Drechsler.
In diesem Augenblick hört man das wimmernde Heulen einer Granate. Dann erfolgt ein dumpfer Schlag.
Drechsler hat den Hörer auf den Apparat fallen lassen und sich schnell an die Bunkerwand gedrückt. Leutnant von Zinnenberg, der gerade dabei war, sich ein Paar neue Socken anzuziehen, liegt platt auf dem Betonboden.
Als die Detonation vorbei ist, bleibt es für Sekunden still, und aus dieser beklemmenden Stille heraus ertönt Drechslers bebende Stimme:
„Wir müssen mit dem Auftauchen des Feindes in der nächsten Stunde rechnen, meine Herren.“
„Und was ist mit der Artillerieunterstützung, Herr Oberleutnant?“, fragt der Leutnant.
„VB sind bereits zu uns unterwegs.“
„Na wunderbar“, murmelt von Zinnenberg und setzt sich wieder auf die Munitionskiste, um den zweiten Socken anzuziehen.
„Stellen Sie eine Verbindung mit Sonnblick her, Schmidt“, sagt Drechsler zu dem jungen Nachrichtenmann.
Sepp Lechner und acht Mann seines Zuges befinden sich im Bunker Sonnblick. Drei schussbereite MG 42 stehen auf den MG-Tischen. Die Munition liegt griffbereit.
Im Augenblick schlafen die acht Mann. In die dünnen Decken gewickelt liegen sie am nackten Boden und ruhen von der Schinderei der vergangenen Nacht aus. Das Krachen der Einschläge stört sie nicht.
Sepp Lechner hockt, mit dem Rücken an die kalte Bunkerwand gelehnt, vor einem kleinen Benzinofen, der vergebens etwas Wärme auszuhauchen versucht.
Als das Telefon rasselt, fahren ein paar der Schläfer aus den Decken hoch.
„Was ’n los?“, fragt jemand.
Lechner nimmt den Hörer vom Apparat und meldet sich. Der Chef spricht.
Sepp nickt ein paar Mal, murmelt zwischendurch „jawohl“ und legt dann wieder auf.
„Alarm, Herr Feldwebel?“, fragt einer der Pioniere.
„Ja, meine Herren. Raus aus den Decken, ran an die Spritzen. Der böse Feind naht!“
„Det Jeschäft is richtig“, lässt sich der Berliner vernehmen. „Dann man auf, Sportfreunde! Jetzt müss’n ma unsern Wehrsold abarbeiten.“
Ein paar Lacher werden laut, dann begibt sich jeder auf seinen Posten.
Im Bunker Berta ist ebenfalls alles an den Waffen. Unteroffizier Kurt Lehmann geht noch einmal hinaus und schaut nach, ob die Kameraden von der Pak gefechtsbereit sind.
Emmes und Willi haben den linken MG-Tisch besetzt. Durch die breite Schießscharte kann man das Gelände in einem begrenzten Ausschnitt übersehen.
Alfons Brandl, der MG-Schütze Nr. 2, klirrt mit den MG-Gurten. Emmes probiert die Gleitfähigkeit des Schlosses und legt dann den ersten Munitionsgurt ein.
Am linken MG-Tisch wird ebenfalls an der Waffe herumgemurkst.
Schweigen herrscht.
Draußen wummern die Einschläge. Mal nah, mal weiter weg steigen die Explosionspilze auf und beschmutzen den Schnee mit hässlichen, dunklen Flecken.
„Wenn sie kommen, dann schicken sie erst Panzer vor“, sagt Willi.
Die Worte zerreißen das Schweigen, klingen hohl wie in einer Gruft.
„Wir haben ja Pak da“, antwortet Emmes und schaut probeweise über die Zieleinrichtung des Maschinengewehres, schwenkt es hin und her, setzt es wieder ab und wendet sich an Willi: „Rück’ a Zigarettl raus, Spezi.“
Willi sucht in den Manteltaschen nach der Packung und verteilt zwei Stäbchen. Emmes gibt das Feuer dazu.
Als Willi seine Zigarette anbrennt, sieht er, dass Emmes’ Hand zittert.
„Bammel?“, fragt er grinsend.
„Net direkt“, murmelt Emmes, „nur ums Krawattl ist mir ’n bissl eng.“
Auch Brandl raucht an und stößt den Rauch zischend durch die Zähne.
„Das wird ’n ganz schönen Rabatz geben“, sagt er. „Bin neugierig, wann er losgeht.“
„Wir können’s erwarten“, sagt Emmes.
Drüben, am zweiten MG-Tisch, unterhält man sich halblaut über Warschau.
„’s ist nimmer so kalt wie heut früh“, sagt Emmes. Er redet nur, um etwas zu reden und sich von dem abzulenken, was man alle Augenblicke erwartet.
„Vielleicht kriegen wir wieder Schnee“, sagt Willi und späht durch die Schießscharte.
Das Gelände ist leer. Die Sonne ist verschwunden, der Himmel ist grau. Weit drüben steht der verschneite Wald.
„Ja“, murmelt Willi, „ich riech’s direkt, dass es Schnee gibt.“
„Das wär mies“, sagt Emmes, „dann sehn wir nix, und der Russ’ hat’s leicht mit dem Rankommen.“
„Der kommt auch so ran“, sagt Brandl, an der Zigarette saugend. „Oder denkt ihr, dass wir ihn aufhalten und bis Moskau zurückjagen können?“
„Der Traum ist wohl aus“, erwidert Emmes und geht in die Bunkerecke, kramt im Tornister und holt eine kleine, bauchige Flasche hervor.
„Mensch! Du hast noch was?“, schmunzelt Willi. „Du bist ja wie eine Eichkatz, die hat auch immer was versteckt.“
„Mein letztes Flascherl“, sagt Emmes traurig und schraubt den kleinen Aluminiumbecher ab. „Danziger Goldwasser“ – aus der Steiermark. „Trinken wir’s aus, denn wer weiß, ob wir noch dazu kommen. – Prost, Muatterl!“, murmelt er und trinkt einen kleinen Schluck.
Willi und Brandl bekommen auch einen Schluck ab.
„Mensch – nu guckt mal!“, ruft einer vom 2. MG herüber, „die saufen Schnaps! – Los, her mit dem Zeug … her damit!“
Das kleine Fläschchen Danziger Goldwasser von Mutter Sailer macht die Runde und ist schnell leer. Mit dem süßen Geschmack des Getränkes auf der Zunge lässt es sich besser reden.
„’n paar Witze!“, ruft jemand. „Los, wer weiß ’n Witz?“
Als Unteroffizier Lehmann hereinkommt, werden Witze erzählt.
„Warum kann ’n Schwein nicht Rad fahr’n, Kameraden?“
„Wie doof! – Weil’s ’n Schwein ist, Knallkopp!“
„Nee – weil’s keinen Daumen hat zum Klingeln!“
„Hahahaaaa …“
Aus dem Bunker Berta ertönt Gelächter.
Dann wird gesungen. „Es ist so schön Soldat zu sein, Roosemarie …“
Der Wald drüben entlässt noch immer nicht den Feind. Die schmale Straße bleibt leer.
„Ein Heller und ein Batzen, die waren beide mein …“, singen sie jetzt.
Der Uhrzeiger macht seine Runden, ohne dass etwas geschieht. Nur das feindliche Artilleriefeuer orgelt weiter.
Huuiiiii … wumm … rrrreng …
„Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt ich auf sein …“
„Aus! So’n Trauermarsch wird jetzt nicht gesungen! Was anderes!“
„Dann ,Heimat deine Sterne‘!“
„Ooooch traurig.“
„Ich weiß eins! – ,Kennen Sie Lamberts Nachtlokal, dort ist’s wirklich kolossal …‘“
Emmes hat seine Mundharmonika hervorgeholt und spielt darauf. Er spielt gut. Sein Zungenschlag ist virtuos.
Im Bunker Berta singt man auch noch, als es dunkel wird und leiser Schneefall einsetzt. Die Essenholer gehen davon und kommen lachend wieder.
„Menschenskinder – Sondermeldung!“, rufen sie schon von weitem.
„Was denn? Ist der Krieg aus?“
„Nee! Schnaps-Sonderzuteilung! Pro Gruppe ’ne Flasche Dreistern!“
Gejohle bricht an. Der Krieg und der anrückende Russe sind vergessen. Der Bataillonskommandeur hat Schnaps verteilen lassen. Schnaps stärkt das Durchhaltevermögen.
„Opa soll leben!“, grölen die Soldaten und schwenken die Trinkbecher. „Hoch soll er leben, hoch soll er leben …“
In den Bunkern wird es immer lustiger. Derweil schneit es draußen so dicht, dass man kaum die Hand vor den Augen sehen kann. Und langsam läuft die Schicksalsuhr ab.
Die Zug- und Gruppenführer haben Posten aufgestellt, die horchen sollen. Aber es passiert nichts.
„Krieg fällt aus wegen Schneegestöber“, lachen die Soldaten. „Krieg findet im Saale statt! Prost!“
Der Feind greift ganz anders an als erwartet. Er nimmt sich gar nicht die Mühe, die Bunker auf den Hügeln vor Rawa frontal anzugehen – er schlägt einen Bogen und packt Rawa im Zangengriff. Beim Bataillonsstab taucht plötzlich ein fremder Offizier auf und überbringt einen Divisions-Befehl: „Feind ist bereits durchgebrochen. Kompanien zurückziehen!“
Noch ehe man an den fremden Offizier Fragen richten kann, ist er weg. War es ein als Offizier getarnter Russe? Ein Agent? Eine Rückfrage beim Regiment bleibt unbeantwortet. Die Verbindung ist plötzlich unterbrochen.
„Ja, Panzergeräusche südlich und nördlich von Rawa!“, heißt es jetzt.
„Panzer!“, gellt es von Mund zu Mund. „Panzer!“
Der Bataillonskommandeur räumt seinen Gefechtsstand. „Kompanien zurückziehen!“, befiehlt er noch.
In Rawa rattern Maschinengewehre, krachen Handgranaten, klirren Panzerketten. Und es schneit noch immer, es schneit, als bräche der Himmel ein. Der Kampflärm erstickt in dem niedersinkenden weißen Vorhang.
Der Pionierzug hat sich müde gesungen. Weil kein Feind zu hören und zu sehen, legt man sich schlafen. Der Krieg findet eben erst morgen statt.
Lechner kann nicht schlafen. Er muss an viele Dinge denken – an die elf Jahre Dienstzeit, an die siegreichen Feldzüge und an den spinnenden Zinnenberg. Tatbericht! So ’n Quatsch! Warum bloß alles so still ist? Nicht einmal das Telefon rasselt. Ob man mal bei der Kompanie anfragen soll?
Lechner nimmt den Hörer vom Apparat und kurbelt. Lange meldet sich niemand. Dann eine lallende Stimme:
„Huber … Metzgerei Huber.“
Lechner stutzt. „Wer ist dort?“
Der Teilnehmer schnauft hörbar, und dann lallt er kaum verständlich und wie aus dem Schlaf geweckt: „Emil Huber … Metzgermeister … München … Fachingerstraß’n.“ Dann bleibt es still. Der besoffene Sprecher hat wohl aufgelegt.
So sehr Lechner auch am Apparat kurbelt, es meldet sich niemand mehr.
Wie betäubt hockt Lechner vor dem Fernsprechgerät. Die Gedanken überschlagen sich. Was ist passiert? Was ist bei der Kompanie los? Sind denn alle besoffen? Haben alle den Verstand verloren?
„Alarm!“, schreit Lechner, und die Schläfer sausen aus den Decken. „Pionierzug antreten. Alles mitnehmen! Los, Riebl, Unteroffizier Lehmann und die anderen verständigen: alles mit Waffen und Klamotten antreten!“
„Was’n los?“, fragen die Soldaten. „Ist der Iwan schon da?“
Der Zug tritt an.
Es schneit noch immer, aber nicht mehr so dicht. Das feindliche Artilleriefeuer ist verstummt. Aus Richtung Rawa hört man MG-Stöße. Sie klingen fern und stotternd.
„Etwas stimmt nicht, Kameraden“, sagt Lechner, als der Zug mit sämtlichen Waffen angetreten ist. „Der Kompaniegefechtsstand meldet sich nicht mehr, aber es ist trotzdem jemand dort. Der Huber … ich weiß nicht … Na ja, wir werden ja sehen. – Rechtsum – ohne Tritt marsch!“
Schweigend verschwindet der Zug über den Hang und trabt im Gänsemarsch durch die Nacht.
„Was da wieder los ist“, sagt Willi zu Emmes.
„Wir werden ja sehen, hat der Sepp Lechner gesagt“, erwidert Emmes.
Als der Pionierzug beim Kompaniegefechtsstand ankommt, schneit es nur noch dünn. In Rawa flackert Schützenfeuer, zwischendurch kleckert ein MG.
„Wartet hier“, sagt Lechner zu seinen Leuten und verschwindet auf der in den Bunker führenden Treppe.
„Mensch“, sagt jemand, „da kennt sich ja kein Aas mehr aus.“
Eine andere Stimme erwidert: „Vielleicht pennen sie alle.“
Lechner reißt die Zeltbahn vom Eingang. Der Bunker ist leer. Auf dem Tisch flackert ein Hindenburglicht. Die Karte liegt noch da, darauf die mit bunten Nadeln abgesteckte Frontlinie. Die beiden MG-Tische vor den Schießscharten sind leer. Am Boden liegt ein einsamer Stahlhelm.
Als Lechner einen Schritt tut, kollert etwas vor der Fußspitze: eine leere Schnapsflasche. Und der Raum riecht nach Alkohol, nach kaltem Zigarrenrauch.
Lechner wischt mit dem Fäustling unter der Nase weg und schüttelt benommen den Kopf.
„He!“, ruft er dann. „Hallo!“
Da ertönt aus dem Hintergrund ein Grunzton. Unter einem Deckenhaufen liegt Emil Huber, der Spieß, betrunken. Total betrunken. Ohne Stiefel. Halb angezogen. Der Fernsprechapparat steht neben dem Lager; der Hörer liegt am Boden, wie er aus der Hand gefallen ist.
Mit drei langen Schritten ist Lechner heran, packt Huber grob am Kragen und zerrt ihn hoch.
„Huber, du besoffenes Schwein! Los, auf! Mach’s Maul auf! Was ist hier vorgegangen?“ Er beutelt den schweren Mann.
Huber reißt mühsam die kleinen Äuglein auf, guckt sich verwirrt um, lallt etwas und schmatzt mit den Lippen. Dann will er sich wieder hinlegen, aber Lechner stellt ihn mit einem Fluch auf die wackeligen Beine.
„Mach’s Maul endlich auf, du Nachtwächter, du besoffener!“, schreit er so laut, dass es die draußen stehenden Soldaten hören.
Schritte poltern die Treppe herunter. Lehmann und noch ein paar vom Zug kommen herein und gucken verdutzt auf das seltsame Bild.
„Was ist denn los, Sepp?“, fragt Lehmann und kommt rasch heran.
„Du siehst es ja“, schnaubt Lechner. „Fort sind sie alle. Bloß den da haben sie hier gelassen. – Huber, Mensch, nun rede doch schon!“
Huber ist jetzt einigermaßen wach. Er rülpst und blinzelt verwirrt um sich. Sein grauer Schnauzer hängt traurig herab, das struppige Haar stachelt um den runden Kopf.
„Seppei …“, lallt er jetzt, „ach … du bist’s …“
„Wo sind die andern?“, fragt Lechner ungeduldig. „Wo ist der Chef … der Zinnenberg … wo sind sie hin?“
Huber guckt sich verwundert um, fährt sich mit der fleischigen Hand über Gesicht und Haare.
„Marandjosef“, stammelt er, „i bin ja alloan da!“
„Was war los?“
„I … i woass nix, Seppei …“, grient Huber und torkelt auf den Tisch zu. „Herrschaftsseiten … wenn ich nur wüsst’ … mein Kopf brummt wie a Bienenstock …“
„Du musst doch wissen, was hier los war!“, schnaubt Lechner zornig und versetzt dem dicken Münchner einen Stoß.
„G’soffa hab’n ma“, lallt Huber. „Ich woaß nur noch, dass wir g’soffa hab’n …“ Er sinkt auf den Klappstuhl und reibt sich mit den dicken Händen das Gesicht, um nüchtern zu werden.
„Das ist vielleicht eine Sauerei“, sagt Lehmann zu Lechner. „Die sind alle abgehauen – und den haben sie einfach dagelassen.“ Lehmann zeigt auf Huber, der sich langsam umdreht und blöd die beiden anstarrt.
„Jessas“, lallt er, „jetzt … jetzt merk ich endlich, was g’scheh’n is … Z’ruckg’lassen haben mich die Bazi, die dreckerten! Einfach davon san’s, die staubigen Brüder die!“ Er stemmt sich hoch und torkelt auf Lechner zu. „Mensch, Seppei – i dank’ dir, dass du gekommen bist!“
„Ist irgendein Befehl eingetroffen?“, fragt Lechner hastig.
„I woass von nix. Ich hab bloß g’soffa … dann hab i mi hing’legt und bin eing’schlafa.“
„Menschenskinder“, murmelt Lehmann, „man sollt es nicht für möglich halten.“
„Also abgehauen“, murmelt Lechner kopfschüttelnd. „Einfach abgehauen, ohne uns etwas zu sagen … wie die Schweine vom Trog.“ Er wendet sich Huber zu. „Los, zieh dich an, du Nachtwächter! Stahlhelm auf! Knarre mitnehmen! Du kommst jetzt mit uns.“
Huber nickt eifrig; er scheint plötzlich nüchtern geworden zu sein. „Bin glei fertig, Seppei … glei … Marandjosef, Marandjosef“, murmelt er, als er sich anzieht. „Fort san’s alle, die Bazi … zurückg’lassen habn’s mi …“
Wenn die Situation nicht so ernst wäre, man könnte lachen. Der Krieg spielt mit den Menschen wie mit Puppen.
Zehn Minuten nach dem Geschehnis im Bunker Nordstern trabt der Pionierzug im Gänsemarsch nach Rawa. Das Lachen ist verstummt, keiner spricht. Man denkt an die Herren, die sich leise aus dem Staub gemacht oder sich sonst wie in Sicherheit gebracht haben; man weiß nichts von der Lage; man ist sich nur über eins klar: Es wird auf Biegen oder Brechen gehen; man will leben.
Der Pionierzug ist genau 38 Mann stark und in drei Gruppen aufgegliedert. Die Männer sind schwer bewaffnet. Die fünf MG stellen eine beachtliche Feuerkraft dar, ganz abgesehen davon, dass jeder noch zwei Panzerfäuste neuester Ausführung und eine Menge Handgranaten mit sich führt.
Huber trabt mit und bildet den Schluss. Der Münchener ist jetzt nüchtern und fragt sich noch immer, wie alles kam. Ein unerhörtes Glück hat der Metzger gehabt! Darüber sind sich alle einig.
Seit Lechner vor dem ungelösten Rätsel über das spurlose Verschwinden der 5. Kompanie steht, ist er fest entschlossen, keinerlei Rücksicht mehr zu nehmen und den Anschluss an die abgerückten Einheiten zu finden.
Wieder einmal hat man alles zurückgelassen, wofür man Kraft, Schlaf und monatelange Arbeit hergegeben hat. Wieder einmal geht es um die zwei großen Probleme dieser Zeit: Freiheit oder Tod.
Sie wollen in die Freiheit zurück, die weit von ihnen abgerückt zu sein scheint.
In der Stadt ist es still. Der feindliche Artilleriebeschuss hat sich nördlich Rawa konzentriert und erweckt die Meinung, dass der Feind die Stadt in seinem Besitz wähnt.
Sie ist es anscheinend noch nicht ganz.
Trrrrr … trr … ertönt es in schnellem Rhythmus.
„Das sind die Unseren“, sagt Lechner leise zu Lehmann, der dicht hinter ihm geht, „aber sie sind schon aus der Stadt.“
„Wir müssen schau’n, dass wir durchkommen, Sepp.“
„Na klar – irgendwo wird schon ’ne Lücke sein.“
Sie nähern sich dem Panzergraben, der um die Stadt herumführt.
Starkes Motorengeräusch und gedämpftes Kettengeklirr verraten, dass russische Panzer durch die Straßen fahren. Dann und wann kracht es, kurze Feuerstöße aus russischen Maschinengewehren lassen darauf schließen, dass noch nicht alle Deutschen auf und davon sind.
Sepp Lechner lässt den in Gruppen dahinschleichenden Zug aufschließen.
„Hört her, Kameraden. Wir versuchen, im Panzergraben um die Stadt herumzukommen. Russische Infanterie scheint nicht da zu sein. Mit den Panzern werden wir zur Not fertig. – Los jetzt. Mir nach! Seid leise!“
Lechner springt in den etwa fünf Meter tiefen Panzergraben, der um die ganze Stadt läuft und an verschiedenen Stellen überbrückt ist.
Schnee liegt im Graben und dämpft die Schritte. Die Dunkelheit ist günstig.
Im Gänsemarsch bewegt sich der Pionierzug vorwärts. Als eine Brücke auftaucht, bleibt der vorausgehende Feldwebel stehen und horcht. Dann winkt er zum Weitergehen.
Die erste Brücke liegt hinter ihnen.
Rechts brummt etwas. Ketten klirren.
„Panzer!“, flüstert Lechner seinem Hintermann zu.
„Panzer …“, geht es leise von Mund zu Mund.
Der russische Panzer brummt heran, kommt an den Rand des Grabens.
„Hinlegen …“, zischt Lechner.
Der Pionierzug sinkt in den knietiefen Schnee und presst sich an die vereiste, grifflose und schräg aufsteigende Grabenwand. Sie halten den Atem an.
Der russische Panzer steht irgendwo in der Nähe. Man hört das Leerlaufen des Motors. Dann ertönen Stimmen. Die Besatzung unterhält sich.
Plötzlich grellt ein Scheinwerfer auf und leuchtet in den eine sanfte Biegung vollführenden Panzergraben.
Die Pioniere rühren sich nicht. Sie pressen sich in den Schnee, an die linke Grabenseite, um dem Lichtarm zu entgehen.
Es geschieht nichts. Der Schweinwerfer verlöscht wieder, die Russen fahren weiter.
„Junge, Junge“, flüstert Emmes, der dicht vor Willi das MG 42 schleppt, „wenn die uns g’spannt hätt’n!“
„Hör auf, Emmes – der Dreizehnte ist ja schon um.“
„Erst wenn wir von hier weg sind“, flüstert Emmes. Der Zug bleibt noch ein paar Augenblicke liegen.
„Wir müssen uns beeilen“, sagt Lechner zu Lehmann. „Sobald es hell wird, müssen wir von hier weg sein, sonst fangen sie uns.“
„Meinst du nicht, dass es besser wäre, wir lösten uns auf, Sepp?“
„Wie meinst du das?“, fragt Lechner.
„Gruppenweise weitergehen. So ein großer Haufen fällt leichter auf als ein paar Mann. Fünf MG, fünf Gruppen.“
„Nee, Kurt – gefällt mir nicht. Wir verlieren, wenn wir irgendwo mit dem Russen zusammenrasseln, an Feuerkraft.“
„… Und marschieren womöglich alle achtunddreißig in Gefangenschaft … wenn nicht Schlimmeres.“
Lechner überlegt.
„Gut“, sagt er schließlich, „dann also getrennt weiter. Ich nehme mir zehn Mann mit und gehe voraus. An jeder Brücke halte ich und peile die Lage; dann schicke ich dir einen Mann zurück, der euch nachholt … und so weiter, bis wir drüben sind.“
Damit ist auch Lehmann einverstanden. Er teilt den Entschluss dem Zug mit. Die Soldaten nicken, ein paar murmeln: „Nicht schlecht.“
Zehn Mann melden sich freiwillig und wollen mit Sepp Lechner die Vorhut bilden, den Rest teilt Lechner in kleine Gruppen ein.
Emmerich Sailer und Willi Röttger gehören zur letzten Gruppe; sie zählt acht Mann und verfügt über ein MG. Emmerich Sailer übernimmt die Führung des Haufens.
Noch ein paar Instruktionen, dann löst sich Feldwebel Lechner mit seinen Leuten vom Zug und schleicht sich im Panzergraben weiter. Die anderen warten.
Es klappt alles. Man kommt gut voran. Schon hat man den Südteil Rawas erreicht, als Lechners Gruppe plötzlich einen Russenpanzer auf der Südbrücke stehen sieht.
Es ist bereits dämmerig geworden. Die Russen auf dem Panzer unterhalten sich laut und lassen eine Flasche kreisen, als plötzlich einer schreit und aufgeregt in den Panzergraben zeigt.
In den nächsten Sekunden ist die scheinbare Ruhe dieses frühen Morgens dahin. Der Panzer schwenkt seine Kanone und feuert ein paar Mal rasch hintereinander in den Graben. Die Granaten krachen. Splitter zischen durch die Luft, schlagen in die schrägen Wände und heulen als Querschläger davon.
Lechner hat noch so viel Geistesgegenwart, zurückzuspringen. Die Leute prallen aufeinander. Ein Knäuel entsteht, das sich nicht schnell genug zur Flucht wenden kann.
Da fetzt eine Granate in den Haufen Soldaten. Todesschreie gellen durch den Graben. Wer noch laufen kann, lässt alles fallen und stolpert zurück. Einige versuchen, an den vereisten, schrägen Betonwänden des Grabens hochzukommen, doch es gelingt ihnen nicht. Sie sind in einer Falle. Sie müssen den Weg zurück, den sie gekommen sind.
Und der Panzer schießt weiter, feuert mit MG in den Graben und alarmiert die anderen Panzer.
Deutsche im Panzergraben!
Von allen Seiten rollen die Sowjetpanzer heran, während sich in der Todesfalle ein Drama entwickelt.
Von den zehn Mann aus Lechners Gruppe sind vier tot, zwei leicht und zwei schwer verwundet. Der Rest stürzt im Graben zurück und stößt auf Lehmanns Gruppe, die den Lärm gehört hat und nun ihrerseits versucht, zurückzulaufen oder rechts weg aus dem verfluchten Graben zu kommen.
„Da vorn ist was passiert“, sagt Emmes zu seinen Leuten. Er ist mit seiner Gruppe noch am weitesten zurück.
„Nichts wie raus hier!“, keucht Willi und wetzt bis zum nächsten Ausstieg, der hundert Meter weiter zurückliegt.
Emmes, mit dem MG auf der Schulter, rennt hinter ihm her, die anderen ebenfalls.
Da kracht es wieder von links oben herab. Ein Panzer feuert in den Graben.
Zum Glück laufen die acht Mann im toten Winkel. Die Splitter der Panzergranate fauchen in den Beton, die MG-Garben prasseln und zischen hinter den Flüchtenden her.
Endlich haben sie den Ausstieg erreicht.
„Wohin jetzt, Emmes?“, keucht Willi.
„In die Stadt rein!“
„In die Stadt …?“ Willi zögert.
„Los – mach schon … renn, sonst ist alles aus!“, keucht Emmes und springt voran.
Willi bleibt Emmes auf den Fersen. Der taucht jetzt zwischen den zu Ruinen zerschossenen Häusern unter, läuft geduckt durch eine mit Schutt und Trümmern halb versperrte Gasse und hält schließlich in einem finsteren Torbogen, aus dem Brandgeruch weht. Willi stolpert heran und lässt sich niedersinken, wischt sich über das Gesicht und horcht.
Am Stadtrand krachen noch immer Panzerkanonen und heulen schwere Motoren. Dazwischen kleckert MG-Feuer. Jetzt rattert ein MG 42. Dann kracht es so laut, dass den beiden im Torbogen Hockenden Putz und Mörtel ins Genick fallen. Ein matter Blitz zuckt durch die Gasse.
„Jetzt haben s’ aan erledigt“, sagt Emmes.
Die beiden sind allein. Weiß Gott, wo die anderen sechs herumlaufen.
Es ist jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Jeder muss sehen, wie er seine Haut retten kann.
Der hastige Atem der beiden verflacht.
„Pass auf, Willi“, sagt Emmes, „wir schaun jetzt, dass wir durchkommen. Zu zweit haben wir da mehr Chancen als mit dem ganzen Haufen.“
„Mensch“, flüstert Willi, „den müssen sie ganz schön durcheinander gebracht haben.“
„Ja, ganz schön“, murmelt Emmes und lehnt das MG an die Mauer, nimmt den Stahlhelm ab und setzt ihn daneben. „Wen wird’s alles erwischt haben?“
Sie schweigen.
Das Geschieße verstummt plötzlich, man hört mahlende Panzergeräusche.
Sowjetpanzer ziehen sich gewöhnlich dann zurück, wenn sie merken, dass der Gegner panzerbrechende Waffen besitzt. Das rumpelnde Geräusch verebbt. Nur noch der ferne Artilleriedonner hält an.
„Was jetzt, Emmes?“, fragt Willi ratlos.
„Na – was schon, Willi? Zu zweit werden wir tigern … wie die Füchs, immer schön die Ohren spitz halten. Irgendwo finden wir schon ein Loch, wo wir durchkommen.“
„Sollen wir nicht versuchen, die anderen zu finden?“
Der Steiermärker schweigt. Er wägt die Chancen ab. Sein klarer Kopf arbeitet ein paar Sekunden.
„Naa, Willi – bleiben wir allein. Ich hab das Gefühl, als wär das besser.“
Willi grinst. „Du hast einmal gesagt, im Krieg soll man sich nicht zu viel auf Gefühle verlassen.“
„Jetzt schon, Spezl – jetzt schon.“ Emmes sucht in den Taschen seiner gesteppten Tarnjacke nach der Feldmütze, findet sie und setzt sie auf. „Schmeiß die Hurratüt’n weg, Willi, wir brauchen sie nimmer. ’s MG lass ich auch da.“
„Du bist verrückt.“
„Dann schlepp du es, wenn du Lust hast.“
Als sie leise die Gasse entlangschleichen, bleibt das MG im finsteren Torbogen zurück. Nur mit einem Karabiner und einer 08 sind die beiden bewaffnet. Sie wollen ihren Weg aber nicht mit der Waffe, sondern mit dem Verstand und dem Glauben an ein bisschen Glück erkämpfen.
Ohne Nahrungsmittel, ohne Zagen treten sie ihre Flucht an und ahnen noch nicht, was ihnen bevorsteht, und wie lang der Weg sein wird, den sie eingeschlagen haben.