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Nicht wie wir

Es war der 21. Februar 2020.

Als ein einfaches Mädchen namens Lina Müller das Fenster ihres schlichten Zimmers öffnete, schloss sie die Augen und dachte darüber nach, wie schön die Ruhe eigentlich ist. Lina war ein schlankes Mädchen mit glatten, blonden Harren, die ihr bis zur Schulter herunterhingen. Sie unterschied sich nicht viel von den anderen 15-Jährigen aus ihrer Schule.

Es war ein sonniger Tag in Langenhorn. Langenhorn, ein kleines Dorf in der Nähe von Hamburg, mit etwas mehr als 3000 Einwohnern. Trotz seiner kleinen Größe bot es alles, wonach sich das Herz eines gewöhnlichen Mädchens aus der Momsenstraße sehnte. Ein ruhiger Fleck Erde. Einfach perfekt für Lina.

Denn Sie war so normal, wie man es sich nur vorstellen kann und sie liebte die Ruhe.

Doch die Ruhe hielt nicht lange an. Denn wie schon zu oft wurde das Piepsen der Vögel übertönt. ...

„Es ist Ausnahmezustand in Deutschland. Aus sonst so belebten Straßen wurden gottverlassene Pfade. Auf Spielplätzen herrscht weder Lachen noch Weinen, nicht einmal der Ruf „Mama, vom Toben hab ich Hunger bekommen!“ ist zu hören. Totenstille herrscht über die ganze Republik.

Sogar das Glockenläuten der Kirche hat aufgehört!

Das einzige, das auf irgendeine Art und Weise nochmal regelmäßigen Schall erzeugt, sind die Rufe durch die Sirenen, welche mittlerweile an jeder Ecke zu finden sind. „Wartet ab, bald ist wieder Alles gut!“ das sind Nachrichten, von denen man nur Träumen kann. Zu jeder Stunde hört man die Opfer unseres furchtbaren Feindes! Wie kannst du das nur nicht ernst nehmen!“

Das waren die Worte, die Lina Müller mittlerweile jeden Tag so regelmäßig wie Zähneputzen hören musste. Wie das Krähen eines Hahnes oder eine Gutenachtgeschichte. Nur leider war das keine Geschichte, die man seinen Kindern vor dem Schlafengehen erzählen würde. Und für Johannes Müller war das auch mehr, als nur ein schlechtes Märchen – viel mehr. Linas Vater konnte über nichts anderes mehr reden. Sogar seine Arbeit als Baugeräteführer, über die er sich sonst immer beschwerte, bot keinen neuen Gesprächsstoff.

Sobald Lina aufgestanden war und eines ihrer schlichten T-Shirts in Weiß und eine ihrer noch gewöhnlicheren Jeans angezogen hatte, schallte das Gefluche ihres Vaters weiter die Treppen hoch.

So laut, dass sie es nicht mal mit Kopfhörern ignorieren konnte. Manchmal fragte sie sich, ob die Nachbarn das auch hören würden. Doch dann fiel ihr ein, dass mittlerweile jeder Haushalt die gleiche, bedrückende Morgenroutine hatte.

Komplett unmotiviert ging sie nach unten in die Küche.

Doch was ist das eigentlich? Ihr denkt jetzt sicher, der 3. Weltkrieg ist ausgebrochen. Und na ja, Johannes Müller würde euch sicher Recht geben, aber ich kann euch beruhigen. Es herrscht kein Krieg.

„Es herrscht kein Krieg.“ Das war die stetige Antwort von Lina. Sie wiederholte es immer und immer wieder. Doch mit jedem Mal sank ihre Überzeugung zu diesen Worten.

Mindestens genauso schnell wie die Sympathie von Johannes Müller zu seiner Tochter.

„Wieso kannst du nicht einfach so sein wie dein Bruder?! Philipp ist so vorbildlich. Er hat den Ernst der Situation wenigstens verstanden. Du bist zwar erst 15, aber die zwei Jahre, die dir dein Bruder voraus sind, machen so einiges aus. Das glaub mir man! Jeden Tag steigen die Todeszahlen und du, du ignorierst das!“

Philipp war Linas perfekter Bruder. Er hatte Anstand und würde niemals seinen Eltern widersprechen.

Philipp war 17 Jahre alt und hatte einen noch dünneren Körperbau als seine jüngere Schwester.

Anders als sie trug er weder Jeans noch T-Shirts.

Er bevorzugte etwas Eleganteres, deshalb ging er jeden Tag mit Hemd und Karohose in die Schule.

Die einzige Ähnlichkeit, die man sich zwischen den beiden zusammenreimen konnte, waren Philips ebenso blonden Haare. Doch statt Schulterlänge, rasierte er sich seine Haare immer fast komplett ab. In Linas Augen war er der älteste 17-Jährige der Welt.

„Sei nicht so hart zu ihr Papa, du weißt ja, Mädchen können nicht so gut mit Zahlen.“

Philips schelmischer Blick sagte mehr als tausend Beleidigungen, die Lina sonst gewohnt war. Das einzige, was Phillip davon abhielt seine Schwester weiter runter zu machen und sich selbst in das Rampenlicht seines Vaters zu rücken, war ein lautes Dröhnen aus der Küche.

Nach circa vier Sekunden hatte es nicht aufgehört, doch dann wurde es von einem noch lauteren Geräusch übertönt.

Diesmal war Lina sich sicher, Johannes Schrei konnte man in der ganzen Nachbarschaft hören.

Gab es überhaupt etwas lauteres als das?

„Was dauert das denn so lange!!“

Das Dröhnen hörte auf und eine ältere Frau, etwa mitte 50, mit grauen Haaren, betrat den Raum.

Sie trug eine Kochschürze über ihrem weißen Sweatshirt und hatte einen Blick, als ob sie geträumt hätte, sie wäre Sklavin von einem Tyrannen.

Wie heißt es so schön? Träume werden wahr.

„Tut mir leid, mein Schatz. Ich hab noch die Post rein geholt.“ Sagte sie mit leiser, fast schon ängstlicher Stimme, als sie sich vorbeugte und ihrem Ehemann, welcher voller Konzentration die Foto-Zeitung las, Kaffee einschenkte. „Sei vorsichtig, Katrin“, fügte er in einem energischen Ton dabei hinzu. Nicht, dass seine Lieblingstasse mit dem Aufdruck Bester Vater noch bekleckert werden würde.

Sie war schließlich ein Geschenk von Philipp.

Lina versuchte die Stimmung ein wenig anzuheben und sagten mit ihrer zarten, herzhaften Stimme: „Guten Morgen, Mama.“

Doch die einzige Antwort darauf war ein Schmunzeln von Philipp. Von einer Sekunde auf die nächste bildete sich eine gläserne Schicht auf Linas Pupillen. Sie war den Tränen nah, aber solange sie nicht anfing zu weinen, musste sie keine Angst vor ihrem Vater haben. Denn Lina und Philipp wurden von ihrem Vater immer unter dem Motto „Keine Schwäche zeigen“ erzogen.

Ohne ein Wort zu sagen, hatte Philipp den wundesten Punkt in dem Herzen seiner Schwester getroffen. Es war nicht nur eines von Philipps komischen „Nih Nih“-Geräuschen, an die Lina sich schon lange gewöhnt hatte, es war ein sehr verletzendes Geräusch. Dieses Schmunzeln bedeutete: „Du nennst sie Mama? Du bist keine von uns!“ und jeder an diesem Frühstückstisch wusste das, auch wenn es keiner aussprach.

Die Wahrheit ist nämlich, dass Lina eigentlich keine Müller war.

Nachdem sie gerade mal ein Monat alt geworden war, wurde sie von Katrin Müller, der Schwester ihrer Mutter, adoptiert. Linas Vater war ein nichtsnutziger Bauer, der nach ihrer Geburt das Land verlassen hatte und ihre Mutter, genauso erfolglos wie ihr Mann und genauso gewöhnlich wie ihre Tochter, starb bei einem Autounfall.

Das war die Geschichte der Familie Charlsen.

Oder zumindest die Version, die Familie Müller ihr erzählt haben. Lina wollte das nicht glauben,

doch ihr blieb keine andere Wahl.

Nach einer einminütigen Stille unterbrach Katrin das Schweigen. „Philipp, mein Schatz, bist du soweit?

Die Schule fängt gleich an.“ Philipp lief noch schnell ins Badezimmer. Währenddessen betrachtete Lina wieder einmal ihre Halskette. Sie hatte eine Herzform und war das einzige, was ihr von ihren Eltern noch geblieben ist. Ein Foto gab es nicht. Nirgendwo waren Bilder von ihren leiblichen Eltern. Lina wusste gar nicht,

wie ihre Eltern überhaupt aussahen.

Nur einen kurzen Text auf der Rückseite des Anhängers gab es. Dort stand: Lina Charlsen bedeutet: „Die Klagende, die die Freiheit lebt.

Und auch wenn das sehr kitschig klang, liebte Lina diese paar Wörter über alles. Sie hatten eine viel größere Bedeutung, als die tausend Beleidigungen, ihres Bruders. Doch trotzdem durchlebte sie denselben Gedanken immer und immer wieder: „Klagend und Frei. Ich habe mehr als nur meinen Nachnamen verloren.“

Währenddessen betonte Herr Müller ein weiteres Mal seine Gutenachtgeschichte. „Wir befinden uns im Ausnahmezustand! Überall da draußen sind die Anoroc-Viren. Vergesst nicht genügend Abstand zu halten. Vor allem du, Lina, wenn du mir diese Monster ins Haus bringst, werde ich dich persönlich zu deiner Mutter bringen!!“ Er legte seine Foto-Zeitung auf den Wohnzimmertisch, stellte den Fernseher an und lauschte weiter den Nachrichten über Anoroc. Über was denn auch sonst, schließlich haben die Medien alle weiteren Geschehnisse verstummen lassen.

Während Philipp mit gegelten Haaren vom Badezimmer raus stolzierte, versuchte Lina sich in Bewegung zu setzten, obwohl sie wusste, dass ihr ein weiterer Schultag voller Mobbing erwarten würde. Sie verhielt sich zwar so normal wie möglich und versuchte nie aufzufallen oder herauszustechen, aber Philipp tat alles, was ihm möglich war, um ihr das Leben zur Hölle zu machen.

Nachdem Philipp und Lina das Haus verlassen hatten, hörten sie noch das Fluchen von Herr Müller, lautstark wie immer, aus der Stube. Aber auch aus den anderen Häusern der Nachbarschaft hörte man die Aufregung der empörten Leute. Eigentlich verstanden die Nachbarn der Momsenstraße sich nicht so gut miteinander, doch diesmal hatten sie etwas, worüber sie sich alle zusammen aufregen konnten. „Wie kann man nur so dumm sein! Das können die Politiker doch nicht ernst meinen!! Lockerungen?!

Wir brauchen strengere Maßnahmen!“

Um die Verbreitung der tödlichen Anoroc-Viren einzudämmen, gab es bestimmte Verbote.

Diese sollten in Kürze jedoch wieder gelockert werden.

Für die normalen Menschen war es nur eine Grippewelle. Doch die, die jegliche Aufregung in ihrem Leben verloren haben, sprachen von einer Katastrophe, weit schlimmer als der 2. Weltkrieg. Die Politiker wollten ihre Wähler nicht verlieren und taten das, was diese verzweifelten Menschen gefordert haben, dachte Lina voller Überzeugung.

Egal wie oft ihr Vater sie noch anschreien würde.

Lina hatte nie voller Zorn über Politiker geflucht. Dennoch machte diese Situation sie traurig.

Niemand darf sich außerhalb von Schule und Arbeit mehr mit anderen Menschen treffen, jeder muss an fast allen Orten in der Öffentlichkeit Mundschutz-Masken tragen und fast alle anderen Tätigkeiten, die sonst für glückliche Stimmung gesorgt haben, waren verboten. Es entstanden leere Straßen und stille Spielplätze. ...

Bevor Lina und Philipp ihre schlichten, weißen Mundschutz-Masken aufzogen, in den Schulbus einstiegen und sich ihre Wege zwischen Beliebt und Verachtet trennten, gab Philipp ihr noch ein paar Worte mit für den Schultag.

„Du kannst dich kleiden wie ich, du kannst so sein wollen wie ich und du kannst deine Tante „Mama“ nennen, aber merk dir eine Sache.

Du bist nicht wie wir!“

Die Rebellen von Morgen

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