Читать книгу Die Rebellen von Morgen - Fabian Mers - Страница 7
ОглавлениеErstbeste Freundinnen
Im Zentrum von Langenhorn war sie, die Langenhorner-Gesamtschule. Ein großes Gebäude mit vielen Räumen. Aber ein zweites Stockwerk, gab es nicht. Dafür aber sehr viele rechteckige Fenster. Neben dem Schulgebäude stand eine ganz kleine Sporthalle, in der gerade mal so eine Klasse reinpasste. Es gab nur einen Umkleideraum, weshalb man Jungs und Mädchen immer in zwei Gruppen einteilen musste. Neben ganz vielen Klassenzimmern gab es auch noch einen Computerraum, indem die Hälfte der PCs nicht mehr richtig funktionierten.
Und für Mädchen und Jungs jeweils einen ekelerregenden Toilettenraum. Die Putzfrauen mussten sich mit den Lehrerkräften ein Zimmer teilen. Das Theater war der größte Stolz der Schule.
Die Langenhorner-Gesamtschule, ein Ort, an dem sich alle möglichen Arten von Menschen tummelten. Die Sportler, die jeden zweiten Tag ins Fitnessstudio gingen, um nächstes Mal gegen die Bredstedter-Gesamtschule im jährlichen Basketball-Turnier zu gewinnen. Daneben gab es auch die Künstler. Entweder haben sie das Theaterstück aufgeführt, eine neue Schulhymne komponiert oder Bilder für die Pausenhalle gemalt.
Alles außer Bücher schreiben, ich meine,
wer macht den auch schon so was?
Neben ihnen gab es dann aber auch noch die Mobber. Das waren die, mit denen man sich besser nicht anlegen sollte. Es sei denn, man ist scharf darauf einen Orsi-Kakao zu trinken.
Orsi war die Spezialität der Langenhorner-Gesamtschule.
Ein Kakao, der nicht nach Kakao schmeckte.
In der Cafeteria zahlte man 20 Cent für einen Liter. Es gab auch das Gerücht, dass man Orsi ohne Milch zubereitet. Stattdessen mischte man das längst abgelaufene Kakaopulver mit dem Wasser, das die Putzfrauen nach ihrer Reinigung vom Vortag noch übrig hatten. Doch das waren natürlich nur Gerüchte.
Klingt nach einem aufregenden Montag, oder?
Wie auch sonst jeden anderen Tag waren alle Schüler und Schülerinnen in der Mittagspause damit beschäftigt ihre Socialmedia-Startseite zu aktualisieren, vom Lehrer ermahnt zu werden oder mit ihren Freunden in der Cafeteria einen Orsi zu trinken. Ein ganz normaler Tag in der Schule, dachte Lina sich, als sie durch die dreckigen Flure lief.
Und wie auch sonst jeden anderen Tag, konnte Philipp es nicht lassen, ihrer Schwester auf die Nerven zu gehen. Durch seine stetigen Bemerkungen war die Pause meist schlimmer als der Unterricht selbst. Es gab keinen Ort auf dem ganzen Gelände, an dem sie Ruhe von ihm hatte. Damals in der Grundschule konnte sie wenigstens noch zwischen den Gebüschen Zuflucht suchen. Doch jetzt war sie seinem Gelaber schutzlos ausgeliefert.
Sie ging weiter durch die Flure, vorbei an den mit erotischen Stickern beklebten Spinden. Eigentlich war Lina doch ziemlich besonders, denn während andere Mädchen in ihrem Alter durch die ganze Schule liefen, um ihren Traumprinzen zu sehen,
lief sie durch die ganze Schule um den Troll, der den Prinzessinnen Turm bewachte, zu entkommen.
Auch wenn Lina eine sehr dünne Statur hatte und nichts mit irgendwelchen Kampfsportarten anfangen konnte, war sie sich sicher, dass sie so einen dürren Typen wie Philipp jederzeit hätte um pusten können. Doch sie wollte nicht auf ihn losgehen. Erstens war sie für so einen Schabernack zu alt geworden und zweitens hatte sie das schon mal vor ein paar Jahren gemacht. Philipp hatte Lina provoziert, da hat sie zu gehauen. Er sagte ihr, dass ihr Vater nur abgehauen ist, weil er nicht so ein Mädchen wie Lina großziehen wollte.
Das mit dem leichten Umpusten galt aber nicht für seine Freunde Janko und Helge. Die waren zwar strohdumm, hatten aber einen sehr großen und massiven Körperbau.
Helge hatte lange, fettige Haare und auch wenn sie so selten wie möglich selber den Mund aufmachten, wusste jeder von der 5. Klasse bis zu den Abschlussjahrgängen, dass die beiden Elftklässler komplett vergilbte Zähne hatten.
Und Linas Glück entsprechend, folgten die beiden Übelriechenden Philipp natürlich auf Schritt und Tritt überall hin. Manchmal hätte sie ihr, wenn auch nicht sehr liebevoll geschmiertes, Pausenbrot mit Erdbeermarmelade und Honig darauf verwettet, dass Janko und Helge ihn sogar den Hintern nach dem Toilettengang abputzen würden.
Aber hatten Janko und Helge wirklich so wenig Stolz?
Philipp und seine Truppe von Idioten folgten ihr immer noch langsam hinterher. Da es aber in dem Gang, der zur Schulbücherei führt, noch mehr nach altem Fisch roch, als in Helges Gegenwart, mied Lina diesen Fluchtweg. Nachdem sie den Klassenraum der 11f, Philipps Klasse, hinter sich gelassen hatte, geriet sie in eine Sackgasse. Bevor sie umkehren konnte blockierten seine Bodyguards ihr den Weg.
Da stand er nun. Ohne seine Freunde nicht mal halb so stark, aber mit ihnen eine richtige Bedrohung für Linas Haarpracht. Diesmal wollte Philipp sich nämlich für Linas unverschämtes Verhalten am Frühstückstisch revanchieren.
Er hielt eine scharfe Schere in seiner linken Hand und war entschlossen, seiner Stiefschwester eine Glatze zu schneiden. Lina hatte Angst davor.
Sie wollte nicht so aussehen wie Janko. Sie hatte zwar grüne Augen und keine blauen, und auch zum Glück keinen schmalen Oberlippenbart, aber auch auf Jankos Frisur konnte sie trotzdem sehr gut verzichten. Sie liebte ihre langen Haare.
„So Schwesterherz, wenn du nicht zappelst,
tut es weniger weh.“
Lina hatte große Angst und sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich zu wehren. Am Ende würde sie nur wieder wochenlang Hausarrest bekommen, weil Philipp erzählen würde, dass Lina handgreiflich geworden ist und den armen Philipp ohne Grund geschlagen hat. Und auch wenn sie das nur zu gerne getan hätte, wehrte sie sich diesmal nicht.
Wegen seinen Bodyguards blieb ihr aber auch nicht viel mehr übrig.
„Hey Lasst das“, rief sie. „Oh nein, dir muss jemand mal wieder Benehmen beibringen“, sagte er in einem, für seine sonst so hohe Stimme, einschüchternden Ton.
Sie war wie starr vor Angst und schloss ihre waldgrünen Augen.
Kurz bevor Philipp den ersten Schnitt tat, hörte Lina jedoch einen Schrei, ähnlich laut wie den von Herr Müller, jedoch viel heller und piepsiger. Es war eher ein Kreischen. Dann öffnete sie die Augen und ihre nicht-abgeschnittenen Harre bedeckten ihre Sicht. Sie war beruhigt, aber auch verwundert.
Nachdem sie ihren Pony aus dem Gesicht kehrte, sah sie ein komplett schwarzgekleidetes Mädchen in ihrem Alter. Sie trug einen schwarzen Rock und eine Lederjacke. Darunter ein schwarzes T-Shirt mit großem Ausschnitt. Ihre Haare waren kurz und mindestens genauso schwarz wie der dunkelste Mond, den Lina je gesehen hatte. Und auch wenn sie dieses Mädchen noch nie gesehen hatte, bemerkte sie sofort eine Gemeinsamkeit. Sie trug nämlich ebenfalls eine Halskette. Doch statt eines Herzen, hing ein Totenkopf an ihrem Hals herunter.
Und ihrem Blick nach zu urteilen, sollte man sie besser nicht erwischen, wenn sie mit dem falschen Fuß aufgestanden war.
Das unerträgliche Kreischen kam aber natürlich nicht von ihr, sondern von Philipp, welcher einen ordentlichen Hieb in seinen Bauch einstecken musste. Daraufhin schrien Helge und Janko in ihrem plattdeutschen Dialekt fast synchron auf.
Man könnte meinen, „zwei Doofe, ein Gedanke“ ist ihr Lebensmotto.
„Sin' bei dör de Swine los, oer wat?!“
Kurz daraufhin trat die Unbekannte mit ihren violetten, ja, nicht schwarzen, Stiefeln auf die Füße von Phillips Handlangern.
Sie schnappten sich ihren jaulenden Anführer und rannten trotz ihres hohen Gewichts schnell davon.
Nachdem die Truppe von der Langenhorner-Gesamtschule in die Flucht geschlagen wurde, hätte man meinen können, es wurde ein neuer Rekord für den 100-Meter-Sprint aufgestellt worden.
Die Unbekannte hatte nach Jahren endlich den Spieß für Lina umgedreht.
„Gott, wie soll man solche Idioten nur aushalten“, sagte die mutige Retterin in einem bekümmerten Ton. Lina nickte zustimmend, aber auch leicht verwundert.
„Hi, mein Name ist Maria Meyer. Ich bin neu hier und hab dich weglaufen 'sehen, da dachte ich, vielleicht brauchst du Hilfe.“
Jemand hat Lina geholfen.
Hilfe. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste Lina gar nicht, dass es so etwas auch abseits von ihren Büchern gab.
„Vielen dank. Ich bin Li ...“
„Lina. Ich weiß“ Ich bin zwar neu hier, aber dein Namen kennt hier jeder. Außerdem gehen wir in dieselbe Klasse. 9a, richtig? Ich dachte, du wärst 'ne kleine Berühmtheit. Promiflash für Teenies oder so. Du weißt schon. Aber jetzt denk´ ich, dass das wohl etwas anders ist.“
Lina gab eine humorvolle Antwort, mit einem leichten Kichern. „Naja, es stimmt was man sagt. Berühmt zu sein nervt wirklich.“ Lina konnte sich nicht erinnern wann sie das letzte mal eine Antwort gegeben hatte, über die sie nicht zuvor mehrfach nachdachte.
„Ähm, das kommt jetzt 'n Bisschen plötzlich, aber wie es aussieht könntest du eine gute Freundin gebrauchen. Und naja, da bist du nicht die einzige. Also ... wie wär's wenn du und ich ab sofort zusammen halten?“, fragte Maria.
Lina war komplett überrascht. Sie war doch nur das einfache, gewöhnliche Mädchen, für das sich sonst niemand interessierte. Und jetzt hatte sie auf einmal ihre erste Freundschaftsanfrage erhalten.
Lina war außer sich vor Freude, doch dann überkamen sie wieder Selbstzweifel.
„Nun, du kennst mich nicht so gut, aber ich glaube nicht, dass du mit so jemanden wie mir befreundet sein möchtest. Ich bin wirklich super langweilig.
Ich nehme nie make-up, ich kann nicht gut turnen, ich schau kein Virerdale, ich ...“
Maria konnte fast gar nicht mehr aufhören den Kopf zu schütteln, bis sie Lina endlich unterbrach.
„Ich hab noch nie make-up angefasst, Turnen ist eine furchtbar-blöde Sportart und von diesen Teenie-Serien halte ich sowieso nichts. Aber du hast recht, ich kenn' dich gar nicht. Doch das ist nichts, was wir nicht ändern können.
Lina Müller, ab heute sind wir beide Erstbeste Freundinnen!“
Lina konnte ihr Glück gar nicht fassen.
Hat Fortuna endlich Linas Bild von der Dartscheibe runter gehangen?
Sollte jetzt wirklich alles besser werden?
Ohne ein Wort zu sagen umarmten sich die beiden Mädchen. Eines düster gekleidet, schwarz wie die Nacht. Das andere heller als die Wolken an einem sonnigen Sommertag. Doch bevor sie noch irgendetwas sagten, läutete die Glocke zur nächsten Schulstunde. Die erste Stunde, in der Lina nicht neben jemanden sitzen musste, der sie ignorieren oder blöd angucken würde.
Ab diesem Zeitpunkt an waren Lina und Marie, L+M, unzertrennlich. Fast wie Liebe auf dem ersten Blick, nur ohne die Liebe.
Die beiden verband etwas stärkeres.
Sie waren Erstbeste Freundinnen.