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Einleitung

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Er verkündete euch seinen Bund, den zu befolgen er euch gebot, die zehn Worte, und schrieb sie auf zwei Tafeln aus Stein.

Dtn 4,13

Zu Beginn müssen wir uns einen kleinen, aber feinen Unterschied bewusst machen: Wenn ein Mensch sich nur deshalb an bestimmte Regeln hält, weil er Angst hat, sonst bestraft zu werden, dann sind diese Regeln offensichtlich nicht besonders überzeugend. Oder sie wurden schlichtweg falsch interpretiert und vermittelt.

Erkennt jemand dagegen, wie sinnvoll bestimmte Handlungsvorgaben sind, dann wird er sich im Normalfall gerne und freiwillig daran halten. Ganz einfach, weil er spürt: „Hey, wenn ich diesen Rat befolge, dann geht es mir gut. Und zwar richtig.“ Genau so waren und sind die Zehn Gebote gedacht.

Die Geburtsstunde des sogenannten „Dekalogs“ (das heißt „Zehn Worte“, wurde aber später meist mit „Zehn Gebote“ übersetzt) hat deshalb überhaupt nichts damit zu tun, dass hier einem verdorbenen Volk vom Herrgott mal ein paar Manieren beigebracht werden sollten – im Gegenteil, es geht um etwas viel Bedeutenderes: nämlich um die Freiheit. Um die große Kunst, ein freier Mensch zu sein und zu bleiben.

Dazu muss man wissen: Die Israeliten waren bei der Verkündigung der Zehn Gebote erst wenige Wochen zuvor aus der Sklaverei in Ägypten geflohen, wo man sie jahrzehntelang ausgebeutet und gezwungen hatte, unter übelsten Bedingungen Ziegel herzustellen. Das heißt: Eben noch waren diese Leute rechtlose, geknechtete, gedemütigte Leibeigene gewesen, jetzt zogen sie plötzlich als freie Menschen durch die Geröllwüste des Sinai.

Diese ungewöhnliche Erfahrung ist die Ausgangssituation der Zehn Gebote. Das heißt: Sie werden zu Menschen gesprochen, die sich gerade auf einem mutigen Weg in die Freiheit befinden, die sich aber mit der Freiheit noch gar nicht auskennen, weil sie ja als Sklaven niemals selbst Verantwortung für ihr Leben übernehmen mussten.

Sprich: Um die spürbare Unsicherheit der Flüchtlinge zu überwinden, gibt Gott seinem Volk einen „Leitfaden für das Leben in Freiheit“ an die Hand, unter dem Motto: „So sorgt man dafür, dass man frei bleibt.“ Diese ursprüngliche Absicht der Zehn Gebote müssen wir uns immer vor Augen halten, wenn wir sie in unsere Zeit übertragen wollen.

Die dramatische Geschichte vom Exodus des Volkes Israel, also: vom verwegenen Auszug aus der ägyptischen Gefangenschaft, hat übrigens jeder gläubige Jude parat, wenn er das Wort „Gebote“ hört. Und das seit Jahrtausenden. Im Alten Testament heißt es nämlich wörtlich: „Wenn dein Kind dich morgen fragt: ‚Was sind das eigentlich für Gebote, die uns Gott gegeben hat?‘, dann sag ihm: ‚Wir waren Knechte des Pharaos in Ägypten, und Gott hat uns mit mächtiger Hand aus der Sklaverei geführt. Und dann gab er uns die Gebote, damit es uns gut gehen soll.“ (Deuteronomium 6,21 f.)

Diese knackigen Verse fassen die wesentlichen Perspektiven für das Verständnis der Zehn Gebote wunderbar zusammen: Der Dekalog ist Teil eines umfassenden Befreiungserlebnisses, er resultiert aus einer existentiellen Erfahrung und wurde formuliert, um die frisch gewonnene Freiheit der Menschen dauerhaft zu sichern – nicht, um ihre Freiheit in irgendeiner Form einzuschränken. Und weil diese Geschichte so bedeutsam ist und entscheidende Deutungsmuster für die Auslegung der Gebote liefert, sollten wir sie noch einmal ein wenig genauer betrachten.

Eines Tages erlebt der Viehhirte Mose – der zwar am ägyptischen Königshof aufgewachsen war, aber dann auf den Sinai fliehen musste – eine seltsame Naturerscheinung: Vor seinen Augen brennt mitten in der Steppe ein Dornbusch. Das kann in der heißen Wüstensonne zwar immer mal passieren, aber dieser Busch steht in Flammen, ohne zu verbrennen. Äußerst faszinierend!

Und dann hört Mose aus dem Feuerspektakel auch noch die Stimme Gottes, die ihm einen Auftrag erteilt: Er soll das Volk Israel aus der Sklaverei führen. Oha! Interessanterweise wird übrigens schon an dieser Stelle der Geschichte angedeutet, dass der Mensch mit seiner Freiheit leider nicht immer alleine zurechtkommt: Mose ist zwar ein freier Mann – trotzdem hat er unglaubliche Angst, Verantwortung zu übernehmen. Er lehnt den Auftrag nämlich erst mal ab. Weil er gar nicht genau weiß, wer dieser Gott ist, der ihn da ruft, weil er sich vor dem Pharao fürchtet und weil er sich nicht für einen begabten Redner hält.

Erst als Gott dem zögernden Mann seinen Namen nennt (er heißt „Jahwe“, übersetzt: „Ich bin, der ich bin.“ oder „Ich bin der, der immer bei dir ist.“), ihm mehrfach seine Unterstützung garantiert und ihm sein absolutes Vertrauen ausspricht, wagt Mose es, die abenteuerliche Aufgabe zu übernehmen. Er braucht also göttlichen Beistand und Ratschlag, um seine Freiheit sinnvoll gestalten zu können. Ein wichtiges Motiv, das die Bibel von Anfang bis Ende durchzieht: Da, wo ein Mensch ganz auf Gott vertraut, wird er zu dem, der er sein könnte.

Die buschige Begegnung offenbart aber auch noch einen anderen Wesenszug Gottes, der für unser Thema relevant ist. Gott sagt nämlich zu Mose: „Ich habe das Leiden meines Volkes erkannt, darum will ich es erretten.“ Anders ausgedrückt: Gott möchte nicht, dass irgendjemand als Sklavin und Sklave leben muss. Es ist sein ureigener Wille, dass sich jede und jeder frei entfalten kann.

Diese himmlische Sehnsucht nach Freiheit kann man getrost ins 21. Jahrhundert übertragen. Denn auch heute gilt: Gott wünscht sich nichts mehr als Menschen, die nicht in irgendwelchen Strukturen, Systemen oder Ängsten gefangen sind, sondern die befreit leben und handeln. Das ist einer der Gründe, warum wir weiter einen „Leitfaden für das Leben in Freiheit“ brauchen.

Nun denn! Als Mose dem Pharao einige Wochen später forsch mitteilt, dass dieser die Israeliten doch bitte freilassen möge, geht es in Ägypten natürlich erst mal drunter und drüber. Der sich selbst als Gottheit empfindende Herrscher hat nämlich überhaupt keine Lust, sich von so einer komischen Feuerstimme die preiswerten Arbeitskräfte wegnehmen zu lassen.

Daraufhin schickt ihm Gott einige ziemlich garstige Plagen, an deren Ende der Pharao dann doch klein beigibt. Allerdings nur vorübergehend. Denn kaum hat sich das Volk mit Sack und Pack auf den Weg in die Freiheit gemacht, überlegt der wankelmütige Mann es sich anders und jagt den ehemaligen Sklaven mit seinen Truppen und Streitwagen hinterher.

Wenig später kommt es dann zum großen Showdown am Roten Meer: Mose erhält nämlich angesichts der heranstürmenden ägyptischen Krieger von Gott die Kraft, das Wasser zu teilen – das Volk joggt über den trockengelegten Meeresgrund – und als der Pharao mit seinen Soldaten ebenfalls das sichere Ufer hinter sich lässt, stürzen die Fluten über ihm zusammen. Die Erfindung der Seebestattung. Und das fliehende Volk ist frei. Endlich!

Könnte man jedenfalls denken. Doch schon in den kommenden Tagen zeigt sich, dass Freiheit Herausforderungen mit sich bringt. Zum Beispiel fragen sich die frisch Geflüchteten schon bald: „Welcher Weg führt denn eigentlich in dieses gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen und das Gott uns versprochen hat?“ Anders formuliert: „Was nützt die schönste Freiheit, wenn man gar nicht weiß, wo man hinwill?“

Dass Gott seinem Volk in diesem Moment anbietet, ihm den Weg durch die Wüste in Gestalt einer Wolkensäule (tagsüber) und einer Feuersäule (nachts) zu zeigen, ist deshalb keineswegs als Einschränkung ihrer Freiheit zu verstehen, sondern eine schlichte Orientierungshilfe – quasi das erste Navigationsgerät der Weltgeschichte. („Halten Sie sich an der Oase rechts!“) Entscheidend dabei ist: Die Israeliten hätten einen anderen Weg wählen können. Sie waren ja jetzt frei. Haben sie aber nicht. Zum Glück.

Wenig später trübt dann noch eine viel schlimmere Entwicklung die Stimmung: Anstatt sich über ihre Freiheit zu freuen (und zu tanzen und zu jubeln), fangen einige der Israeliten nämlich an, pausenlos zu jammern und zu stänkern: „Wann sind wir endlich da? O Mann, in Ägypten waren wir zwar versklavt, aber da gab’s wenigstens regelmäßig was zu essen und zu trinken.“ Wirklich! Die sind richtiggehend empört über die Unübersichtlichkeit der Freiheit. Das ganze Herumgemotze führt am Ende so weit, dass sich die Leute ernsthaft zurück in die Sklaverei wünschen.

Über so ein absurdes Verhalten möchte man am liebsten nur den Kopf schütteln, es ist aber zu fürchten, dass die dahinterstehenden Mechanismen heute noch genauso funktionieren: Menschen setzen nach wie vor aus Angst ihre Freiheit aufs Spiel, verzichten aus Bequemlichkeit oder Trägheit auf das „Land, in dem Milch und Honig fließen“ und bleiben lieber in einengenden Lebensverhältnissen hocken, anstatt aufzubrechen und das Weite zu suchen. Das heißt auch: Sie bleiben unter ihren Möglichkeiten, weil jemand oder sie selbst ihnen eine vermeintliche Sicherheit schmackhaft macht, die in Wirklichkeit versklavt.

In dieser eigenartigen Situation (fehlende Erfahrung mit der Freiheit und Angst vor zu viel Eigenverantwortung) entschließt sich Gott aus verständlichen Gründen, den Menschen erst mal eine kurze „Einführung“ in die Grundlagen eines befreiten Lebens zu geben – und genau daraus entstehen die Zehn Gebote.

Sprich: Drei Wochen nach der gelungenen Flucht verkündet Gott wortgewaltig, er werde demnächst in einer großen Wolke zu Besuch kommen und dem von ihm berufenen Anführer Mose die Grundsätze der neuen Daseinsform in aller Ruhe erläutern. Erst verbal – und dann zur Sicherheit noch mal in schriftlicher Form.

Erfreulicherweise begreifen die Israeliten sofort, dass es jetzt wirklich ans Eingemachte geht, und bereiten sich, wie Gott es wünscht, intensiv auf die verheißene Verheißung vor: Sie waschen sich und ihre Kleider (was in der Wüste gar nicht so leicht ist), sie lassen sich segnen und sie leben bewusst enthaltsam. Und dann, als nach drei Tagen tatsächlich eine riesige Wolke mit Blitz und Donner aufzieht, versammelt sich das gesamte Volk am Fuß des Berges, während Mose hinaufsteigt, um die Zehn Gebote stellvertretend in Empfang zu nehmen und sie anschließend den Wartenden bekannt zu machen. Eine Sternstunde der Menschheit!

Kluge Wissenschaftler haben übrigens darauf hingewiesen, dass die Ausführung der Zehn Gebote nicht nur viele ethische Normen enthält, sondern auch stark an orientalische Vasallenverträge erinnert, in denen ein Herrscher mit einem Volk einen Bündnispakt eingeht. Und tatsächlich haben die Israeliten die Zehn Gebote genauso empfunden: als einen Bund. Sie sprechen dem Gott, der sie soeben aus der Sklaverei in die Freiheit geführt hat, ihr Vertrauen aus.

Im Grunde möchte Gott wissen: „Wollt ihr mein Volk sein und diesen angefangenen Weg in die Freiheit mit mir weitergehen? Glaubt ihr, dass ich weiß, wie man befreit lebt? Und wollt ihr meine Ratschläge befolgen?“ Und die Menschen antworten wörtlich: „Alle Worte, die Gott gesagt hat, wollen wir tun!“ Das heißt: Die Israeliten und Gott einigen sich darauf, dass die neu gewonnene Freiheit geschützt werden muss und dass sich beide Seiten dafür einsetzen wollen. Sie schließen quasi ein Freiheitsabkommen und machen damit zugleich deutlich: Freiheit braucht Bindung. Und zwar eine freiwillige Bindung.

Warum ist das wichtig? Ganz einfach: Manche Freiheitsfanatiker behaupten ja gerne, Freiheit bedeute „von nichts und niemandem abhängig zu sein“. Das stimmt aber nicht. Kein Mensch ist von nichts und niemandem abhängig. Das wäre auch fatal. Wir alle leben in Systemen – und wenn wir uns zum Beispiel für einen Ehepartner oder eine Ehepartnerin entscheiden, dann geben wir nicht unsere Freiheit auf, wir nutzen sie bewusst, um uns an einen Menschen, den wir lieben, zu binden. Weil es ohne Bindung gar keine Liebe gibt.

Und ja, wer Kinder bekommt, der wird vermutlich nicht mehr so frei wie vorher jede Nacht einen draufmachen können – aber wenn er aus Angst, seine individuelle Freiheit zu verlieren, auf Kinder verzichten würde, wäre das eine genauso große Unfreiheit. Wenn nicht sogar eine viel größere. Freiheit bedeutet: Ich kann selbst entscheiden, welche Bindungen ich eingehen möchte. So wie das Volk Israel. Man könnte also auch sagen: Gott macht den Menschen an diesem Tag ein Angebot, und die Menschen sagen: „Ja, das wollen wir! Wir wollen uns an diesen Gott halten, der uns Freiheit geschenkt hat.“

Genau deshalb beginnen (wie wir später noch genauer betrachten werden) die Zehn Gebote eben auch mit einer Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Damit keiner vergisst, worum es bei diesem ungewöhnlichen Bund eigentlich geht – auch die nachfolgenden Generationen nicht, die den eigentlichen Exodus ja nicht am eigenen Leib miterlebt haben und immer wieder neu vor Augen geführt bekommen müssen, wie kostbar die Freiheit ist und dass es sich lohnt, um sie zu ringen.

Bevor wir uns gleich in Ruhe den einzelnen Geboten widmen und nach ihrer Aktualität fragen, noch ein paar kurze Vorbemerkungen, die uns helfen, den Charakter der Zehn Gebote insgesamt besser zu verstehen.

Die Zehn Gebote für Neugierige

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