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1. Die Zehn Gebote sind keine Gebote, sondern Maximen
ОглавлениеLustigerweise kommt das Wort „Gebot“ im Text der Zehn Gebote überhaupt nicht vor. Weil sie eben keine Gebote im klassischen Sinne darstellen. Später werden sie (wie oben schon erwähnt) meist „Die zehn Worte“ (Dekalog) genannt – und sie sind auch ganz anders formuliert als die üblichen Gesetzestexte des Alten Testaments, die eine erkennbar andere Anmutung haben: In der Regel sind biblischen Gesetze nämlich nach dem „Wenn-Dann-Muster“ aufgebaut. Etwa: „Wenn du dies oder jenes machst, dann sollst du so und so bestraft werden.“ Zum Beispiel heißt es in Exodus 21: „Wer einen Mann erschlägt, der soll getötet werden.“ Das ist ein Gesetz!
Im Dekalog dagegen heißt es: „Du sollst nicht töten!“ Das ist kein Gesetz, das ist eine Lebensmaxime, ein ethischer Grundsatz. Deshalb wird hier auch nicht erklärt, was denn passiert, wenn jemand trotzdem einen Mord begeht. Konkret heißt das: Mit den Zehn Geboten könnte man als Richter kein Recht sprechen. Da verwundert es nicht, dass schon die Israeliten und später unzählige Rechtssysteme dieser Welt versucht haben, die Zehn Gebote mit Hilfe von Paragraphen zu operationalisieren – womit sie diesen großartigen Schatz an Lebensweisheit (gegen seine Intention) in eine Rechtsordnung verwandeln wollten.
Die Zehn Gebote nutzen aber ganz bewusst keine Sprache der Justiz, sondern eine Sprache der Liebe. Das fängt schon damit an, dass sie den Menschen persönlich ansprechen: „Du sollst nicht stehlen!“ Ja, es geht um dich! Nicht um das Volk als Ganzes, nicht um die Sippe, den Stamm oder die Gemeinschaft, sondern um die und den Einzelnen. Jede und jeder wird von Gott eingeladen, nach den Grundbedingungen der Freiheit zu fragen. Deshalb drehen sich die Zehn Gebote auch alle um das Verhältnis von Gott und Mensch, beziehungsweise von Mensch und Mensch. Der Staat als solcher kommt darin gar nicht vor.
Die Zehn Gebote sind also so etwas wie eine Zusammenstellung ethischer Maßstäbe, die dem Individuum helfen, sich nicht wieder von irgendetwas versklaven zu lassen. Dahinter steckt der Gedanke der Prävention und die wegweisende Einladung: „Frage dich, mit welcher Lebenseinstellung du am besten durchs Leben kommst.“