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Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann das Muster im Kaleidoskop des Lebens in Bewegung setzen, alles verändern.

Dein Muster blieb stehen, als dein Bäumchen zerfiel.

Meines veränderte sich, in wilden Farbwirbeln, die sich immer dunkler färbten.

Die drei Orangen lagen vor mir. Ich betrachtete sie von allen Seiten. Was sollte ich mit ihnen machen? Sie aufschneiden? Schälen? Auspressen? Etwas ganz anderes?

Drei Versuche.

Eine Entscheidung.

Schälen.

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, als ich die Schale langsam abzog. Ein Wunder vielleicht? Einen Schmetterling, der dich zurückbringt?

Alles, was ich fand, war eine Orange. Mit ihren Spalten, dem weißen Inneren der Schale und den kleinen Zwischenhäuten. Als ich die Stücke nacheinander vom Ganzen trennte, ertasteten meine Finger Kerne. Aber nichts sonst, nichts Besonderes.

Und jetzt?

Ich nahm eine Spalte in die Hände. Betrachtete sie von allen Seiten, hielt sie ins Licht. Nur eine Orangenspalte.

Schlussendlich steckte ich das Stück in den Mund. Die anderen auch. Aß die ganze Frucht. Nur die Kerne spuckte ich aus.

Ich hatte nicht vergessen, dass niemand die Früchte deines Orangenbäumchens kosten sollte. Aber was sollte noch passieren? Jetzt, da ich es schon zerstört hatte?

Zuerst passierte nichts. Ich saß immer noch an meinem Tisch, vor mir die Orangenschalen und zwei weitere Früchte. Ich stand auf, lief eine Weile durch meine Wohnung, wartete ungeduldig, auf was auch immer. Dann – als mein Blick in den Spiegel fiel – erkannte ich, dass schon längst etwas geschehen war. Dort, genau im Spiegel sah ich, was du gesehen hast. In mir. Von mir. Dinge, die ich längst vergessen hatte.

Amelie. Ja, so hieß sie. Sie war es, die mir den Trick mit dem Orangenbäumchen beigebracht hatte. Die mir erklärte, wie ich die Illusion heraufbeschwören konnte. Zauberei, das hatte sie mir erklärt, sei nichts als eine gute Mischung aus Technik, Schauspielkunst und der Angewohnheit der Menschen, niemals so recht hinzusehen. Niemand erkennt die wahre Magie, den Traum, oder niemand will glauben, sie zu sehen.

So war es, so ist es heute noch. So funktioniert auch das Orangenbäumchen. Das ist das Geheimnis hinter jedem Trick.

Damals dachte ich, Amelie zu lieben – das dachte ich wirklich. Doch manchmal ist auch Liebe nur Illusion, und ich liebte sie nie. Nicht, wie sie mich.

Sie war es, bei der ich den Trick mit dem wachsenden Orangenbäumchen das erste Mal sah. So einfach, so simpel – und doch voll der Magie, die die Menschen sehen wollten, die Magie, die solche Dinge wahr macht.

Ich habe es genau gesehen – dort, im Spiegel, dessen Glas den Ton eines Orangenhimmels hatte. Ich habe gesehen, wie ich Amelie umwarb, ihr Herz gewann – und irgendwann auch das Geheimnis des Orangenbäumchens. Vielleicht war es auch nur das, was ich an ihr liebte – dieses Geheimnis, nichts weiter.

Am Anfang sagte sie mir, dass sie es selbst nicht wirklich wusste – auch sie hatte diese Illusion schließlich nicht erfunden. Das wusste ich. Aber sie konnte den Trick besser, bei ihr war er schillernder. Wirklicher.

Am Ende hat sie ihn mir verraten. Bei unserem ersten Kuss. Er war anders, als unserer, Julie, ich muss es dir nicht sagen. Mir bedeutete er nichts. Kein Glück – keine Freude, nur Sinn zum Zweck. Vielleicht habe ich damals gewusst, dass er für Amelie alles bedeutete. Alle Hoffnung. Alles Leben.

Es war mir egal. Es zählte der Trick. Für einen Magier ist es stets der Trick, der zählt. Und ich war Magier. Bin es noch – oder jetzt wieder. Eine schillernde Gestalt der Illusion, mit Zylinder und glänzend schwarzem Umhang.

Für Amelie wurde ich zum Winter. Zum ersten Mal. Ich zerbrach sie – ihren Traum, der all ihre Magie war.

Im Spiegel – in deinen Augen, Julie, sah ich, wie sich meine Gestalt, gekleidet in den schwarzen Umhang, in einen Raben verwandelte, sicherlich nur eine Illusion, und sich auf einen Spatz stürzte, der verletzt am Boden lag. Umgeben von Kälte. Von dem Winter, den ich brachte.

Amelie.

Ich weiß nicht, was genau mit ihr geschah. Ich sah sie nie wieder. Starb sie? Oder starb ich, weil ich ihr Winter wurde?

Ich weiß nur, dass ich den Trick mit dem Orangenbäumchen seit diesem Zeitpunkt kannte, doch er gelang mir nie so wie Amelie. Und irgendwann war er fort.

Im Spiegel sah ich, dass er mit Amelies Traum verloren ging, wie alle Magie ohne einen Traum stirbt, ohne Gefühl. Das Orangenbäumchen – ich habe ihn nicht gefühlt wie sie.

Der Spatz war wie dein Schmetterling, oder Julie?

Dein Stück Freiheit. Dein Traum. Dein Glück. Deine Chance.

Ohne Traum keine Illusion. Alles hat seinen Preis.

Erst du hast mir meinen eigenen Wunsch gezeigt. Ich wollte deinen Schmetterling fliegen lassen. Wollte dein Lachen hören. Der erste Traum, der nicht für meine eigenen Ziele war, auch wenn ich den Klang deines Lachens liebte.

Warum habe ich diesen Traum nicht weiterverfolgt? Warum habe ich wieder nur an mich gedacht? Ich habe dich nie gefragt, was du wolltest.

Ich bin dein Winter geworden, wie es mein Fluch ist.

Für die, die ich liebe oder zu lieben glaube, werde ich zum Winter. Weil ich sie nicht mehr liebe als mich.

Im Spiegelglas sah ich, dass du es von Beginn an wusstest. Ich sah das Orangenbäumchen. Den silberblauen Schmetterling. Ich hörte dein Lachen.

Das Glas zerbrach.

Ich war wieder in meiner Wohnung.

Ohne dich.

Mit zwei Orangen.

Die Kerne, die ich aus der ersten entnommen habe, waren zerfallen.

Am Abend schwieg das Radio wieder – niemand hat deine Stelle übernommen, und ich fragte mich, wie all die Leute, die du gerettet hast, ohne dich weiterleben konnten. Ohne ihre Heldin.

Das zerbrochene Mädchen

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