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Das Experiment
ОглавлениеWestmeer – Casthil Rhygidor
Die Insel erschien aus dem Nebel - ein monströser Schemen, der sich langsam verdichtete. Mit einem leisen Platschen durchdrangen die Ruder der Beiboote sanft die Wasseroberfläche und brachten die Söldner ihrem Ziel näher. Raas hatte seine Männer auf kleine Barkassen verteilt. Er selbst stand aufrecht am Mast eines der Boote, seine Rechte umklammerte den Mast, seine Linke den Griff eines schweren Säbels. In seinem Gürtel steckten eine kleine Handbüchse und eine schwere, einschüssige Sprengpistole, sein „Generalschlüssel“, wie Raas die Waffe nannte. Seit einer Weile hatte sich der Kommandant nicht mehr bewegt, sondern starrte unentwegt nach vorn.
Vynn saß direkt daneben auf dem Dollbord, seine Hände krallten sich ins Holz und er versuchte verzweifelt, seine Gedanken zu ordnen. Sie wirbelten in seinem Kopf umher wie aufgeschreckte Hühner. Irgendwo dort vorn musste der Zugang sein, der es ihnen erlaubte, ungesehen in die Festung einzudringen. Ein geheimer Zugang vom Meer, der unbewacht geblieben war, tief unter dem Nordturm. Eine ziemlich vage Aussage. Der Argwohn der anderen Söldner war deutlich, auch weil die ausgesandten Späher uneins waren. Zwei von ihnen waren vor drei Tagen einfach verschwunden – in dieser Nacht hatte ein Gewittersturm über der Korallenburg getobt. Ein Anderer sagte, er habe einen halb gefluteten Kanal gesehen, ein dritter jedoch wollte nichts gesehen haben.
Vynn spürte die Blicke, das Misstrauen, die Skepsis, die selbst Grimstahl ihm entgegen brachte. Er saß ganz vorne im Bug der zweiten Barkasse, starrte schweigsam auf den dunklen Felsen, dem sie langsam näher kamen. Vynn versuchte wieder diese dunkle Suppe, in der dieser frühe Morgen schwamm, zu durchdringen. Er konnte weder einen Kanal noch einen anderen Zugang entdecken.
„Tief unter dem Nordturm”, hatte die Stimme gesagt. Aber Vynn erspähte nur Felsen. Schwarz, scharfkantig und abweisend, umspielt von Gischt und Schaumkronen. Von dieser Seite aus gab es keine Landemöglichkeit, keine Anleger, kein Hafen, nicht einmal einen Strand. Wie eine Urgewalt wuchs der Felsen geradewegs aus der schwarzen See und gewann an Bedrohlichkeit, je näher die Boote ihm kamen. Schon hörten sie das ferne Branden des Wassers an die Klippen. Das konnte für die leicht und flach gebauten Boote gefährlich werden.
Vynn spürte, wie es ihn kalt überlief.
Tief unter dem Nordturm.
Raas bewegte sich kurz. Vynn sah auf. Endlich konnte er den Nordturm entdecken. Von dem markanten Gebäude, das wie der Daumen einer steinernen Hand die Insel überragte, wanderte sein Blick nach unten zur Wasseroberfläche. Da fiel ihm ein dunklerer Fleck knapp über der Meeresgischt auf. War da eine Höhle? War das der Kanal? Wie verabredet gab er Raas ein Zeichen und deutete auf den Fleck.
Der Kommandant winkte Schütze Nacht zu sich heran. Der Armbrustschütze war berühmt für seine guten Augen. Mit dem ausgestreckten Arm zeigte Raas auf jene dunkle Stelle, in die das Wasser hineinzuschwappen schien. Nacht spähte zu dem Felsen hinüber, stutze, beugte sich etwas vor. Dann nickte er bedächtig und gab dem Rudergänger ein Zeichen, auf den Fleck zuzuhalten.
Grimstahl auf der nächstgelegenen Barkasse war aufmerksam geworden und schaute fragend zu ihnen herüber. Nacht deutete auf den Fleck und machte mehrere, für Vynn unverständliche Handzeichen. Der Hauptmann bedeutete seinem Rudergänger, dem anderen Boot zu folgen und gab dann die Zeichen weiter. Schaukelnd näherten sich die Barkassen dem Felsen.
Je näher sie dem vermeintlichen Kanal kamen, umso gefährlicher wurde die Fahrt. Das Wasser wurde mit jedem Ruderschlag dunkler. Felsen, die unter der Wasseroberfläche gierig nach dem Holz der Boote langten. Wenn die Brandung sie auf eines dieser Riffe warf, würden sie zu den weit draußen ankernden Schiffen zurückschwimmen müssen.
Vynn umklammerte den Griff des Schwertes. Die Kühle des Stahls beruhigte seine Gedanken kein bisschen.
Die Öffnung im Stein, auf die sie sich zu bewegten, war schmal, sehr schmal. Raas gab Zeichen, die Ruder der Barkassen einzuholen. Die Ruderer gehorchten, legten sie leise neben die Bänke, während die Boote durch die Kraft der anrollenden Wellen in die Höhle hineintrieben. Tief duckten sich die Männer an die Reling, um sich die Köpfe nicht am Felsgestein anzuschlagen.
Mit einem Mal umfing sie völlige Finsternis. Überall auf den Barkassen holten die Söldner winzige Blendsteine aus Beuteln hervor, die sie um den Hals trugen. Dicke Fassungen verhinderten, dass die Männer sich an den Steinen verbrannten oder selber geblendet wurden. Wie lange, bleiche Finger fraßen sich die Lichtstrahlen in das Dunkel hinein. Bis auf das Rauschen der Wellen und das Glucksen und Platschen von Holz auf Wasser war es totenstill. Gesprochen wurde nicht. Jeder wusste, was zu tun war. Die Anspannung der Männer war fühlbar und Vynn glaubte, an seiner eigenen bald ersticken zu müssen. Seine Hände krampften sich um den Schwertknauf an seiner Hüfte. Dem Tod eines Spions war er erst einmal entkommen, doch wie es hinter der Höhle weiterging, davon hatte er nicht den blassesten Schimmer. Doch er hatte Recht behalten – das löste die tiefe Furcht in seinen Eingeweiden jedoch nicht auf. Aber wenigstens ein oder zwei Mal konnte er tief durchatmen.
Schon bald gruben sich die Kiele der kleinen Boote in dunklen Sand, leise sprangen die Söldner von Bord. Wie selbstverständlich bewegten sich mehrere Schützen zu beiden Seiten fort, knieten sich in den Sand und zielten in die vom Licht der umgehängten Blendsteine erhellte Höhle hinein. An den Läufen ihrer kurzen Waffen waren ebenfalls Blendsteine befestigt die Licht in die Richtung warfen, in die die Büchsen wiesen. Direkt neben den Schützen standen die mit Schwertern bewaffneten Schildwachen und ihre mannshohen, stählernen Sturmschilde mit Guckloch, um die Schützen vor feindlichem Beschuss zu decken.
Vynn orientierte sich südlich, Grimstahl folgte ihm auf den Fuß. Plötzlich erschien Raas vor ihnen wie ein Geist. Seine Augen glitzerten im Schein von Vynns Blendstein.
„Sieht aus, als würden die Möwen noch auf deine Eingeweide warten müssen”, flüsterte er leise. Vynn schluckte und nickte nur stumm. Warum er so hoch gespielt hatte, wusste er nicht. Aber er schien einstweilen gewonnen zu haben. Seine innere Stimme hatte ihn nicht getrogen.
Die Söldner folgten vorsichtig einem grob behauenen Gang in den massiven Felsen, der nach Süden verlief. Vynn dachte einen kurz Moment daran, das zwei gute Schützen, die eine Armbrust wie Nacht oder auch schnellladende Büchsen bei sich trugen, den ganzen Trupp in wenigen Augenblicken aufreiben konnten. Er schloss kurz die Augen, hörte sein pochendes Herz und zwang sich, ruhiger zu atmen. Angst rettete Leben, aber zwischen Angst und Panik lagen nur wenige Herzschläge.
Die hin und her gleitenden Lichtfinger der Blendsteine tauchten den Gang in ein unwirkliches Licht. Der rötliche Schein ließ Erinnerungen in ihm aufsteigen - an die Lichtung, Engels Peiniger, an das Gemetzel auf der Sechir. Als sich ein roter Schleier vor seinen Augen zu senken schien und ihn die Kontrolle über seine eigenen Taten verlieren ließen. Das passierte ihm diesmal nicht noch einmal. Er würde sich beherrschen. Er würde die Kontrolle nicht wieder diesem hässlichen Brennen in sich überlassen.
Vynn spürte mehr, dass sich die Umgebung veränderte, als dass er es sah. Die Wände links und rechts von ihm wichen zurück, der Schein der Lichter schien von der Dunkelheit verschluckt zu werden. Sie standen in einer großen Halle. Der Gestank war atemberaubend. Es roch nach moderigem Wasser und uraltem Holz, nach Tier und Schweiß und Kot und Verfall. Vynn würgte und barg seine Nase in der Armbeuge. Das war schier unerträglich.
Es war die große runde Halle mit Dutzenden von Türen, von der die Stimme in seinem Kopf gesprochen hatte. Korporal Winter entzündete Pechfackeln in Wandhalterungen ringsumher mit seinem Blendstein.
Nach und nach schälte sich die gewaltige Halle aus dem Dunkel. Sie maß gut und gerne zwanzig Schritt von einer Wand zur anderen. Im unruhigen Schein des Feuers erkannte Vynn Dutzende Gittertüren. Kampfbereit, doch neugierig sahen sich die Männer um, leuchteten mit den Blendsteinen durch die Gitter. Es dauerte nicht lange, bis einer der Männer überrascht zurücksprang. Gleichzeitig drang ein tiefes, kehliges Knurren an Vynns Ohren.
„Bei allen Viergöttern“, hauchte der Söldner. Der Schreck schien ihm in alle Glieder gefahren zu sein. Durch das Gitter streckte sich eine entsetzlich langgliedrige, klauenförmige Hand nach dem Mann, der entsetzt weiter zurückwich. Auch aus anderen Zellen streckten sich nun Hände, Klauen und geschuppte Finger, von überall her kollerte ein hundertfaches Knurren, Stöhnen und Krächzen aus den Kerkern durch die Halle.
Raas gab Zeichen, die Männer formierten sich in der Mitte zu einem Kreis, Rücken an Rücken, Schild an Schild. Dann wandte er sich Vynn zu.
„Sieh nach“, befahl er leise. Grimstahl öffnete den Mund, so als wolle er protestieren. Doch er schloss ihn wieder. Vynn schluckte hart und drehte sich zu einer der Kerkertüren um. Raas vertraute ihm nicht.
Vorsichtig näherte sich Vynn einer Tür aufs Geratewohl und hob das Lederband, an dem der Blendstein baumelte, etwas an. Der Raum war lang und schmal, ohne Pritsche. Stattdessen faulte ein Haufen dunklen Strohs vor sich hin. Auf den ersten Blick sah die Gestalt in diesem Verlies menschenähnlich aus, doch bei genauerem Hinsehen offenbarte sich Vynn das ganze Grauen.
Der völlig haarlose Kopf war flach und durchzogen von dicken blauen Adern, die Augen riesig, blutunterlaufen, mit schwarzen Pupillen. Schmale Lippen verdeckten die spitzen, gelben Zähne und Fetzen von dem, was einmal eine Hose gewesen war, bedeckten den aufgedunsenen Unterleib, über den sich papierdünne Haut spannte. Es hockte mit dem Rücken an der Wand, atmete schnell und schnaubend und betrachtete Vynn aus seinen ekelerregenden Augen.
Vynns Nackenhaare sträubten sich. Gleichzeitig bemerkte er jedoch, dass er das schreckliche, erbarmungswürdige Wesen bedauerte. Und für einen winzigen Augenblick war ihm, als habe er dieses Wesen schon einmal gesehen.
„Kleiner, was ist das hier?” Raas schien nicht wirklich eine Antwort auf seine Frage zu erwarten.
Noch immer betrachtete Vynn mit einer seltsamen Mischung aus Abscheu, Faszination und Mitleid das Wesen hinter der Kerkertür und nach einer Weile glaubte er in den Augen des entstellten Wesens ein unglaubliches Leid zu erkennen. Als es sich an der rissigen Mauer emporzog, wich Vynn instinktiv einen Schritt zurück. Ein hoher, klagender Laut entrang sich der Kehle der Kreatur. Dann brüllte sie auf.
Raas rief ihm etwas zu und versuchte, die schier unglaubliche Lautstärke dieses Wesens zu übertönen. Vergebens. Vynn hielt sich die Ohren zu.
Etwas krachte hinter Vynn. Er fuhr herum und sah, dass eine der wenigen Holztüren in der Halle aufgeflogen war. Zwei Männer in der Uniform albastairnischer Soldaten starrten überrascht in die Halle.
„Alarm!“, schrie einer der beiden geistesgegenwärtig, bevor ihn ein Bolzen aus Nachts Waffe in den Hals traf.
„Verfluchte Scheiße“, knurrte Raas. „Macht euch bereit.“
Der zweite Soldat wollte die Tür wieder schließen, doch ein zweiter und dritter Bolzen nagelte ihn mit voller Wucht daran fest. Röchelnd ließ er sein Schwert fallen.
Inmitten der entsetzlichen Schreie dieser Kreatur ertönte ein dumpfes Signal von irgendwoher, ein Horn, das von den Wänden der Festung widerhallte.
Vynn betrachtete irritiert die Kreatur. Sollte er sie töten?
„Kleiner, zurück in die Formation!“, hörte er Winters Stimme hinter sich. Wieder öffneten sich Türen, Männer strömten heraus wie Ameisen aus ihrem Bau, Büchsen donnerten los, hallten in dem natürlichen Gewölbe der Halle wider, Kugeln knallten in die dicken Sturmschilde, es dröhnte in seinen Ohren.
„Zweite Reihe!“, kommandierte Raas. Die Schützen legten an, schossen und traten dann zurück, um nachzuladen, während die nächste Reihe antrat, zielte, schoss. Immer mehr Soldaten stürmten in den Raum und rannten auf die sturmschildbewehrte Phalanx der Söldner zu, überbrückten die wenigen Meter bis zu den Schützen, hieben auf Schilde und Schwerter des Feindes ein, fällten die Söldner, die nur mühsam den Schildwall aufrechterhalten konnten. Schütze Nacht stand seelenruhig in der Mitte der Halle, geschützt von drei Schildwachen und verschoss einen Bolzen nach dem nächsten.
Irgendjemand ergriff Vynn am Arm und zerrte ihn in die Mitte der Halle. Korporal Winter. Wie eine stählerne Wand stemmten sich die Söldner gegen die heranstürzenden Albastairner. Die Schmerzensschreie, der Geruch des Blutes, der Lärm aufeinandertreffender Schwerter und Säbel schien nicht nur die Menschen, sondern auch die Kreaturen in ihren Verliesen aufzupeitschen. Ihre Schreie überschlugen sich. Wie wild zerrten sie an den Gittern. Vynn stand wie erstarrt, Schultern und Arme schoben ihn hin und her. Mühsam versuchte er, ruhiger zu atmen in all diesem Toben, spürte, wie sein Puls schneller schlug, während sich rötliche Schlieren vor seine Sicht schoben.
Neben ihm kämpfte Winter, gab ihm immer wieder einen Stoß und brüllte ihn an: „Kämpf, Kleiner, kämpf!”
Vynn reagierte nicht. Auch nicht, als ein hünenhaft gebauter Pirat auf ihn einschlagen wollte. Winter warf sich dazwischen und parierte zwei kräftige Schläge parieren. Mit dem Dolch in seiner Linken deutete der Soldat einen Stoß an, auf den Winter blitzschnell reagierte. Er fing den Dolch mit der Klinge ab, während mit einem schmatzenden Geräusch der schwere Säbel von oben in seine Schulter drang und in seinem Brustbein steckenblieb.
Als Vynn sah, wie das Blut aus Winters Schulter spritze, schwanden seine Willenskräfte. Er brüllte auf, wütend, heulend, riss sein Schwert aus der Scheide und traf den Hünen vor sich noch mit der gleichen Bewegung. Entfesselt sprang er nach vorn und hieb erneut auf den bereits zusammenbrechenden Piraten ein. Mit einem tierischen Grunzen fegte er den nächsten Angreifer von den Füßen.
Vynn riss das Schwert zurück, hob es über den Kopf und drang ungestüm auf den stolpernden Soldaten ein. Er verschmolz vor Vynns Augen mit seinen Kumpanen zu einer einzigen, formlosen Masse. Das Schwert trennte sie. Sie waren keine Menschen. Da waren nur noch weiche Leiber.
Irgendwann stand er schnaubend und tief atmend da. Blut tropfte von seiner Klinge und rauschte in seinen Ohren. Er glaubte das Schlagen seines Herzens ganz oben im Hals hören zu können. Langsam erwachte er. Durch den sich lichtenden, roten Schleier vor seinen Augen blickte er sich um. Um ihn herum lagen Leichen, viele verstümmelt, mit zerschmetterten und gespaltenen Köpfen oder abgetrennten Gliedern. Tote Augen starrten an die Decke - und in seiner Nase steckte widerlicher Blutgeruch.
Er sah die Söldner, die sich durch die Wucht des Gegenangriffes Raum verteilt hatten. Nicht wenige von ihnen starrten ihn an, voller Grauen und voller Furcht. Keuchend öffnete er einfach die Hand, sein blutverschmiertes Schwert fiel klirrend zu Boden. Er sank auf die Knie, sah seine blutverschmierten Hände und Arme und spürte den Druck im Hals, das Brodeln in seinem Magen und konnte dem Drang nicht widerstehen. Er übergab sich.
Grimstahl war der erste, der sich ihm vorsichtig näherte.
„Vynn?” Die Stimme des Söldners klang leise und besorgt. Vorsichtig beugte er sich zu ihm hinunter, griff zaghaft nach dessen Schulter. Vynn drehte sich verschreckt zur Seite und Grimstahls Hand verharrte einen Lidschlag in der Luft. „Sie sind fort, Vynn.“ Würgend spuckte Vynn sein Abendessen auf die Steinplatten. Sein Magen krampfte. Er zitterte. „Wir müssen weiter. Vielleicht ist es besser, wenn du hierbleibst.”
„Er kann nicht hierbleiben.” Schon Raas' Art zu sprechen verbat sich jeden Widerspruch. „Sie sind gewarnt. Nach den Verlusten hier unten können wir auf keinen verzichten.”
„Schon gar nicht, wenn er so tobt”, stimmte Nacht zu und betrachtete Vynn dabei mit der angeekelten Faszination, die man einer giftigen Spinne schenkt. „Sag mal, Kleiner, wirfst du etwas ein oder ist das bei dir normal?“
Grimstahl schob ihn achtlos zur Seite. Vynn wischte sich den Mund ab. Was geschehen war, konnte er sich nicht erklären.
„Winter”, murmelte Vynn. „Ich habe zu lange gezögert.” Grimstahl folgte seinem Blick und schüttelte den Kopf.
„Ach was, Kleiner”, warf Raas gleichmütig ein. „Er starb, weil er an einen Besseren geriet. Das ist das Risiko.” Der Söldnerkommandant sah sich um. „Sammeln, wir müssen weiter.”
Grimstahl klopfte Vynn sachte auf die Schulter und richtete ihn auf.
Du kannst nicht mit ihnen gehen, nicht jetzt.
Die Worte schienen direkt in seinen Kopf zu fließen. Vynn sah auf.
Schweig, wenn du nicht willst, dass deine Gefährten dich für verrückt halten. Denk!
Vynn schüttelte sich, als wolle er die Stimme damit abstreifen. Nein. Er konnte sie nicht im Stich lassen. Wie sollte er sich von der Gruppe der Söldner absetzen?
„Wir müssen uns aufteilen”, befahl Raas in diesem Moment. „Grimstahl, du übernimmst die Reste von Korporal Winters Kompanie und gehst durch die linke Tür”, bestimmte der Kommandant. Grimstahl nickte.
Du musst sehen, dass du dich weit hinten in der Gruppe einreihst. Wenn ich es dir sage, wendest du dich nach links.
„Auf, Männer“, sagte Grimstahl und packte sein langes Schwert fester. Er zog Vynn auf die Beine und drehte ihn in Richtung der Tür. Vynn wartete, bis der Großteil seiner Mannschaft vorausgegangen war. Erst dann folgte er ihnen, wankend. Er schwitzte so sehr, dass ihm der Schweiß in den Augen brannte. In seinem Bauch polterte und knurrte es, als ob das Tier, das darin wohnte, noch nicht befriedigt sei von all der Schlachterei.
Hinter der linken Tür öffnete sich ein schmaler Gang mit zahlreichen Alkoven. Perfekt, um viele Angreifer mit wenigen Verteidigern aufzuhalten, dachte Vynn beiläufig und trottete mühsam hinter den anderen her. Ihm war immer noch speiübel. Die Wände verschwammen vor seinen Augen.
Jetzt!
Augenblicklich trat Vynn zur Seite und zwängte sich durch eine Nische. Jäh stand er in der totalen Finsternis eines Raumes.
Warte noch einen Moment. Gleich sind sie fort.
Vynn stand in der völligen Dunkelheit und wartete, bis die Schritte verklungen waren. Scheinbar hatte wirklich niemand sein Verschwinden bemerkt.
Du kannst Licht machen.
Vynn stieß an einen Tisch. Tastend fuhren seine Hände über das Möbelstück und fanden einige Kerzen und Zündhölzer.
Jetzt sind wir zu Hause.
Vynn fuhr auf. „Was? Wo bist du? Zeig dich endlich!“
Seine Stimme kollerte von den Wänden wider, brach und überschlug sich.
Du sprichst mit deinem eigenen Geist.
Dumpf, tadelnd, herablassend. Vynn erstarrte. Kalte Schauer jagten über seinen Rücken.
„Ein – Geist?“, flüsterte er ungläubig.
Lass mich erklären.
Die Stimme atmete nicht, nein, sie schien zu schweben. Flog in seinem Kopf umher und erschien ihm doch schwerer als Blei.
Du hast dieses Labyrinth aus Kammern und gewundenen Pfaden schon einmal gesehen. Als ich hierher kam, war ich eingeschlossen in Solarit und Gold, gefangen, um die Freiheit zu bringen – stattdessen fand ich dich.
„Freiheit?“, echote Vynn verwirrt. „Wenn du es ernst meinst, lass mich frei.“
Doch die Stimme fuhr unbeirrt fort.
Jung war ich, als sie mir das Versprechen abnahmen, der Hüter zu sein. Ein Bewahrer der Freiheit für alle Menschen Delireths. Als ich geboren wurde, herrschten majestätische Geschöpfe über das Land. Ihre Kräfte kamen denen von Göttern gleich, aber sie waren verblendet. Ich gehörte zu jenen, die ihr mörderisches Feuer tilgten, das sie über dem Land entfesselt hatten. Die Gottgleichen schliefen, nachdem wir ihre Macht gebrochen hatten. Dafür belohnte man mich reichlich: Ich bin der Wächter, der ihren Schlaf ewig währen lässt.
Vynn glaubte, ihm drehe sich alles vor den Augen. Ächzend stützte er sich irgendwo ab, als seine Beine nachzugeben drohten. Seine Wut schien wieder zu erwachen, doch war ihre Flamme nur so stark wie die der flackernden Kerze auf dem Tisch. Mühsam schluckte er. Seine Hände ertasteten die Wand. Sie war glatt behauen und vor allem war sie dort, wo er sie sah.
„Was ist mit mir geschehen“, murmelte er. „Warum sollte ich diese Festung kennen?“
Hier war es, als sie dich erschufen und uns vereinigten. Du bist die Hülle und ich bin der Geist, der ihr innewohnt. Der Goldene, der sie mit Leben erfüllt.
„Der – Goldene?“, wiederholte Vynn und lachte nervös auf. „Ich bin Vynn, verstehst du mich? Ich bin Vynn! Ich bin keine“, er rang verzweifelt nach Worten, „keine bloße Puppe für dich! Lass mich zufrieden!“
Er bemerkte, dass er schrie. Vynns Faust hieb mechanisch gegen die Wand, sein Gesicht war verzerrt. Die Kerze flackerte.
Es tut mir leid. Selbst wenn ich wollte – wir sind dazu verdammt, uns nun eine lebendige Hülle zu teilen. Es bleibt uns keine Wahl. Du hast nicht die Macht, mich zu verbannen.
„Wer – wer hat sie dann?“, keuchte Vynn atemlos.
Die Frage muss lauten – warum? Aus welchem Grund geschieht das alles? Ich bin nicht fähig, in die Vergangenheit zu blicken und auch die Zukunft bleibt mir auf ewig verschlossen. Dies ist weder mein Wille, noch mein Werk. Deine Geschichte ist nicht meine Geschichte – unsere Wege kreuzten sich jedoch hier. Das ist alles, was ich weiß.
Vynn legte seine Stirn gegen den kühlenden Stein. Langsam beruhigte sich sein Atem und er konnte wieder einen klaren Gedanken fassen. Noch immer glaubte er zu träumen. Das, was dieser Goldene ihm sagte, klang verrückt.
Etwas ist mit dir geschehen, nicht wahr? Etwas Schreckliches.
„Ich...weiß es nicht.“
Sei ohne Furcht. Ich werde dir nichts tun. Das einzige, was ich von dir verlange, ist, auf uns Acht zu geben: Ich bin ein Goldener, Vynn. Ich bin der letzte meiner Art.
Wie ein Sandkorn im Meer. Vynn nickte langsam. Der Trommelwirbel in seiner Brust verebbte zu einem sanften, gleichmäßigen Rhythmus.
„Vynn, was zur Hölle machst du hier?” Grimstahls Hand riss ihn an der Schulter herum. „Wenn Raas erfährt, dass du dich unerlaubt entfernt hast, lässt er dich auspeitschen. Komm jetzt. Sofort!”
Geh ruhig mit ihm. Wir sind fertig. Vorerst.
Vynn hörte den Hauptmann kaum. Grimstahl schüttelte ihn, schrie ihn an, dann zog er ihn einfach hinter sich her, während Vynn noch immer die Worte des Goldenen im Ohr hallten. Irgendjemand hatte an ihm experimentiert? Aber warum? Was hatten sie verändert? Wusste der Goldene, wer er gewesen war?
Grimstahl zerrte ihn durch die düsteren Gänge, über die ersten gefallenen Albastairner und Söldner hinweg. Je näher sie dem schwachen Lichtschimmer kamen, der das Ende dieser Gänge ankündigte, umso lauter wurde der Schlachtenlärm. Als Grimstahl Vynn auf den Hof der Festung zerrte, sah er um sich herum ein Knäuel kämpfender Menschen. Schwerter, Säbel und Äxte hieben aufeinander ein, Verletzte schrien, Sterbende sackten zu Boden. Büchsen- und Armbrustschützen beider Seiten schossen, so schnell es möglich war. Nacht hatte seine Armbrust mittlerweile auf dem Rücken hängen und bewies, dass er auch mit einem Schwert umgehen konnte.
Grimstahl stürzte sich mit heiserem Ruf auf einen Piraten, der Nacht bedrängte. Eher mechanisch wich Vynn einem Angriff aus, ließ den Soldaten einfach an sich vorbeistürzen und schlug ihn achtlos nieder.
Pass auf!
Vynn trat einen Schritt zur Seite. Er spürte den Luftzug, als eine Klinge an seiner rechten Schulter herabfuhr und von stählernen Nieten auf seiner Schulter abgelenkt wurde. Seine Gedanken kreisten nur um das, was der Goldene gesagt hatte. Vynn fuhr herum, wehrte die nächste Attacke ab und sah dann, wie sein Feind mit einem Bolzen im Hals zusammenbrach.
Was soll das? Willst du uns umbringen?
Er glaubte, so etwas wie Verärgerung in der Stimme zu erkennen. Und mit einem Mal war er es leid, all das, das Kämpfen und Töten hatte nicht mehr aufgehört, seit er mit Taramaree und Barrel das Dorf verlassen hatte, um Lowyan zu befreien. Diejenigen, die er Freunde hätte nennen können, waren tot, ermordet von Garland und seinen Schergen. Wie viele Menschen er selbst seit seinem Erwachen im Moor getötet hatte, wusste er nicht und nun stand er schon wieder inmitten einer Schlacht.
Bei all dem, was geschehen war, sollte ihm plötzlich nicht einmal sein Geist gehören? Nicht einmal das kleine bisschen Ich, das er sich in der kurzen Zeit aufgebaut hatte? Er könnte es hier und jetzt beenden. Ganz einfach. Er konnte nur warten, nichts tun.
Was wird das ändern?
Wieder wich Vynn einem Angriff aus, aber nachlässig. Das kurze Schwert eines schmächtigen Piraten traf seinen Brustpanzer, glitt ab und rutschte zwischen seinen Rippen und seinem rechten Arm hindurch. Der Schmerz, als die Klinge seinen Arm aufschnitt, zuckte bis hinauf in den Kopf. Aus einem Reflex heraus wehrte Vynn den nächsten Angriff ab. Seine Bewegungen waren immer noch mechanisch, emotionslos. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Dann spürte er einen heftigen Stoss im Rücken, die Welt drehte sich und dann war da nur kalter, kalter Stein.
* * *
Raas sah den Kleinen zusammenbrechen. Aus seinem Rücken ragte ein Armbrustbolzen. Grimstahl wehrte einen weiteren Albastairner ab, der dem Getroffenen den Rest geben wollte, bückte sich dann und versuchte ihn aufzuheben. Ein Bolzen schlug in die Stirn des Soldaten, der indessen versuchte, Grimstahl hinterrücks zu erschlagen.
Raas fluchte unterdrückt. Der Kleine hatte nicht lange ausgehalten, aber lange genug, um Grimstahl für sich einzunehmen. Er sah sich um und überlegte fieberhaft. Der Kampf drohte zu kippen. Die albastairnische Besatzung von Rhygidor waren zwar anfänglich von den Söldnern zurückgedrängt worden, jedoch immer noch in der Überzahl. Mit zwei Sprüngen war Raas neben Grimstahl, riss ihn an der Schulter halb in die Höhe und brüllte ihn an:
„Nicht jetzt, du Narr. Sie überrollen uns!”
Der bärtige Hauptmann schien regelrecht zu erwachen.
„Aber...er lebt!”
Selbst in diesem Chaos um sie herum konnte Grimstahl nicht aus seiner Haut. Er hatte für sich beschlossen, den Kleinen zu retten. Und das tat er auch. Koste es, was es wolle.
„Dann kämpf, du verdammter Schwachkopf“, knurrte Raas ungehalten. „Sonst kannst du dich gleich danebenlegen!“
Und Grimstahl gehorchte. Gemeinsam, Seite an Seite standen sie im Hof der Festung Rhygidor, ihre Waffen fuhren auf und nieder, während von allen Seiten Klingen, Bolzen und Schreie auf sie eindrangen. Raas bemerkte, dass seine Männer begannen, sich um ihn und Grimstahl zu versammeln. Die Söldner bildeten ein Karrée um den Hauptmann und den Gefallenen. Sicher waren sie dadurch schwerer zu besiegen und konnten sich gegenseitig schützen, doch Raas wollte sich auf keinen Fall in die Defensive drängen lassen.
Drei Mann hielten sich dort vorne im Hintergrund, hinter Fässern und Kisten, brüllten Befehle und stachelten ihre Männer immer wieder an. Und der südliche Wehrgang hinter ihnen war nicht besetzt.
„Nacht!“, schrie Raas und versuchte, den Kampfeslärm zu übertönen und deutete nach Süden, „der Wehrgang! Ziel auf die drei dort unten. Grimstahl, halt ihm den Rücken frei!”
Nacht nickte nur und ließ sich von einem seiner Männer ein neues Magazin für die Armbrust reichen. Grimstahl jedoch zögerte. Sein Blick zuckte von Raas zu Vynn und wieder zurück.
„Befehl ausführen, Hauptmann!”, brüllte Raas ihn an. Dann ergriff er die Schulter des Riesen und brachte seinen Mund nahe an Grimstahls Ohr. „Ich passe auf den Kleinen auf, mach dir keine Sorgen.” Anders war er wohl nicht dazu zu bewegen. Grimstahl nickte stumm und wandte sich um.
Die Söldner waren so gut aufeinander eingespielt, dass kaum noch mehr Anweisungen notwendig waren. Die Schildwachen bildeten ein Dreieck, nahmen die nur schwach gerüsteten Schützen in die Mitte und bewegten sich langsam auf die Treppe zum Wehrgang zu.
Ein paar Soldaten erkannten die Absicht der Söldner und versuchten sie aufzuhalten. Doch dadurch gaben sie ihre Flanke frei. Wenige Lidschläge später war der südliche Wehrgang besetzt und die Geschosse der Söldner prasselten auf die Besatzer nieder, trieben sie auseinander und sprengten ihre Schlachtordnung. Die Büchsen krachten mit ohrenbetäubender Gewalt. Raas warf einen kurzen Blick auf den Wehrgang, sah, wie Nacht mit seiner ungeheuren Ruhe abdrückte, die Waffe ein Stück bewegte, wieder abdrückte – und erstarrte.
Der Kommandant folgte seinem Blick. Dort, in einem Durchgang nahe der Position der Kommandeure, war plötzlich Bewegung. Bei genauerem Hinsehen entdeckte er, dass diejenigen, die dort ins Freie drängten, Roben trugen, dunkelrot und teilweise bestickt. Schlagartig wurde Raas klar, wen er hier vor sich hatte: der Kleine hatte wieder Recht behalten. Wenn Alchemisten hier lebten, musste das Zepter hier sein!
Rasch blickte er sich um, um die Lage zu sondieren. Irgendwie musste er schnell an die Alchemisten heran, die wie eine Gruppe verängstigter Schafe von ein paar Soldaten zu einer nahen Tür im Hof getrieben wurden.
Die Verteidiger sahen sich durch Nachts Abteilung im Süden von zwei Seiten angegriffen. Im nächsten Moment surrten die ersten Bolzen auf ihre Kapitäne zu und zwei der drei Mann brachen getroffen zusammen. Der dritte war völlig verblüfft und schrie wütend auf. Wild gestikulierend gab er den Büchsenschützen Signale, die sofort das Feuer auf Nachts Gruppe eröffneten.
Durch das Aufteilen der Gruppe und die hohen Verluste war Raas nur noch von etwa zwanzig Mann umgeben. Zwei weitere Dutzend standen bei Nacht und Grimstahl auf dem Wehrgang. Sie waren eindeutig ins Hintertreffen geraten und es stand für ihn fest, dass sie aufgerieben werden würden, wenn ihm keine rasche Lösung einfiel.
Unter dem andauernden Geschoss- und Bolzenhagel vom Wehrgang herab zogen sich die Soldaten immer mehr unter die Torbögen zurück. Nachts Männer fuhren eine reiche Ernte ein. Raas trieb seine Männer brüllend voran, denn in der Enge unter den Torbögen wurde die Übermacht hinfällig, die Albastairner würden sich gegenseitig behindern und könnten dann auch ihre Büchsen nicht mehr gescheit einsetzen – die Söldner allerdings auch nicht. Grimstahl hatte sich mit etwa zehn Mann über den Wehrgang gekämpft und erreichte in diesem Moment den gegenüberliegenden Aufgang. Würde es ihm gelingen, dort die Treppe freizukämpfen, konnte Raas die Piraten flankieren. Also musste er mit den verbliebenen Truppen dorthin, bevor die Gegner ihm diesen Weg verbauten.
Raas stürmte mit den verbliebenen Männern voran, einen der schweren Sturmschilde erhoben, rammte ihn dem nächsten Angreifer unters Kinn und stach zu, sah Blut hervorschießen wie Wein aus einem angestochenen Schlauch, drehte das Schwert, riss es heraus und schob den Sterbenden achtlos zur Seite. Im nächsten Moment erschien wieder eine Gruppe Büchsenschützen in einem der Torbögen, kniete sich hin, feuerte. Krachend fuhr ihre Salve in die heranstürmenden Söldner, riss vier Mann von den Beinen, eine Kugel streifte Raas am Hals, ließ ihn stolpern. Seine Lungen pumpten. Er durfte nicht wanken. Das würde der Moral den Todesstoß versetzen. Mühsam rappelte Raas sich auf und sah, wie die feindlichen Schützen im Bolzen- und Kugelhagel von Nachts Gruppe regelrecht vergingen.
Grimstahls Gruppe erreichte die Treppe, kurz darauf trafen auch Raas und seine Männer ein, Augenblicke später rückten die Schützen auf. Der Gegner zog sich tiefer in die Festung zurück. Das Brüllen von Waffen und Menschen erstarb langsam und wurde vom Röcheln Verletzter und Sterbender abgelöst. Der Hof war gefallen, aber zu welchem Preis? Raas blickte sich um. Ihm und Grimstahl waren gerade einmal ein Dutzend Männer geblieben, dazu kamen noch sieben Schützen.
„Wir sind ein ziemlich kleines Häufchen geworden, Männer“, knurrte der Söldnerkommandant. „Wollt ihr umkehren oder Blut für eure Kameraden?“
Die vielstimmige Antwort war eindeutig.
„Gut, dann nachladen. Wer keine Waffe hat, schnappt sich eine. Wir gehen rein.“
Grimstahls Blick glitt immer wieder zur anderen Seite des Hofes, wo Vynn nun schutzlos unter Toten und Verletzten lag. Raas bemerkte den Blick.
„Ich musste ihn zurücklassen, Grimstahl. Das weißt du genau so gut wie ich.“
Der Hauptmann nickte. Seine Miene war bitter. Ja, das wusste er nur zu gut.
„Aufstellen, Schützen!“, rief Nacht. „Voran je ein Pistolenschütze, dahinter ein Mann mit Armbrust oder Büchse. Feuer frei.“
Ein Nicken reichte und die verbliebene Gruppe setzte sich in Bewegung, dorthin, wo die Alchemisten verschwunden waren. Raas konnte sich vorstellen, wie es in den Männern aussah. Wohl jeder von ihnen hatte mittlerweile mindestens einen Freund verloren. Der Ausgang der Schlacht würde so oder so geradezu verheerend für die Westmeersöldner sein. Vielleicht wäre ein Bombardement aus den Panzerschiffen doch hilfreich gewesen, um den Feind zu zermürben – aber angesichts der Felsengänge unterhalb der Festung bezweifelte er doch, dass dies viel genutzt hätte.
Langsam und vorsichtig schlichen die Männer an den Wänden entlang, bis sie zur ersten Abzweigung angelangten. Eine enge Wendeltreppe führte nach oben, eine andere nach unten. Raas war sich sicher, dass eine Flucht nach oben, in Richtung der Türme, keinen Sinn machte. Für niemanden. Was aber, wenn er sich irrte? Konnte er es riskieren, seine ohnehin kleine Gruppe weiter aufzuteilen?
Sicher war sicher.
„Nacht, du bleibst mit drei Männern deiner Wahl hier. Ihr geht auf gar keinen Fall alleine weiter. Sucht euch eine gute Verteidigungsposition und behaltet den Aufgang im Auge. Grimstahl, wir gehen mit dem Rest der Männer nach unten.“
Grimstahl aber schüttelte den Kopf.
„Da unten brauchst du jemanden, der im Dunkeln gut sehen kann. Lass mir zwei von Nachts und einen von meinen Männern. Da unten ist Nacht wertvoller als ich.“
Raas war keine Widerworte gewohnt, wusste aber, dass Grimstahl nur dann solche Einwände von sich gab, wenn er sich sicher war. Fragend schaute er zu Nacht, der nickend zustimmte.
„In Ordnung, dann machen wir es so. Aber egal was passiert, Hauptmann: Haltet die Stellung und geht auf keinen Fall hinauf!“
Die Einheit schlich vorsichtig weiter die Treppe hinab. Raas wurde unruhig, als einer der Männer mit seinem Säbel versehentlich gegen die Kellerwand schlug. Laut hallte das Geräusch durch den Gang und die komplette Mannschaft hielt die Luft an. Ein paar Wimpernschläge standen alle schweigend und lauschend, dann zogen sie weiter. Raas hätte dem Mann am liebsten eine runtergehauen.
Die Stufen der Wendeltreppe schienen durch die Anspannung und das vorsichtige Schleichen kein Ende zu nehmen und als Raas begann sich zu fragen, ob er einen Fehler gemacht haben mochte, vernahm er den Lärm von oben. Das Krachen von Schüssen, Todesschreie, dann ein dumpfer Knall. Er blickte sich um, sah in fragende Gesichter und schüttelte energisch den Kopf. „Kein Risko“, murmelte er.
Fast gemächlich schlichen sie weiter, gelangten bald an das Ende der Treppe und standen plötzlich vor einer natürlichen Kaverne. Links von ihnen öffnete sie sich zur See hin. An einem Steg ihnen direkt gegenüber lag eine etwas größere Barkasse, groß genug, um vielleicht zwanzig Mann aufzunehmen. Eine Handvoll Soldaten schien sich anzuschicken, auf die Barkasse zu steigen und die Leinen zu lösen.
„Feuer frei“, befahl er halblaut. „Sie dürfen auf keinen Fall entkommen!“
Ein Regen aus gegossenem Blei und stählernen Bolzen traf auf das Schiff, von wo aus das Feuer sofort erwidert wurde. Wieder brachen zwei seiner Männer in die Knie. Raas hatte seine Handbüchse fast leergeschossen und zog sein Schwert vom Rücken. Er verschoss niemals die letzte Kugel. Man wusste nie wofür man die brauchte.
„Vorrücken!“
Mit kurzen, gezielten Salven zwangen die Söldner die Gegner in Deckung und nutzen den Moment, um in Deckung der Felsen vorzurücken und dabei notfalls zu laden.
Plötzlich erblickte Raas den letzten noch verbliebenen Befehlshabenden der Soldaten. Heftig riss der Söldnerkommandant Nacht am Arm und zeigte auf die Barkasse.
„Siehst du den Mann am Mast? Den ohne Helm?“ Nacht nickte, ging in die Schützenstellung auf ein Knie und legte die Armbrust an. „Wenn du ihn nicht treffen kannst, gib uns Deckung, damit wir näher rankommen.“
Nacht gab seinen Männern einen knappen Wink.
„Anlegen“, kommandierte Nacht. „Feuer nur auf eindeutige Ziele.“
Raas zückte seinen „Generalschlüssel“ und bewegte sich so schnell er konnte nach links, um einen leichten Bogen zu schlagen und so vielleicht unbemerkt an die Barkasse zu gelangen. Wortlos folgten ihm zwei seiner Männer ohne jeden Befehl.
Eine Salve donnerte von der Barkasse herüber. Sie hatten seine Finte bemerkt. Lautlos sank Obadiah, der ältere der beiden, neben ihm in die Knie. Direkt über seinem linken Auge gähnte ein großes Loch, ein Stück der Schläfe fehlte.
In Raas stieg die Wut hoch wie das Brennen, wenn er zuviel der scharfen Suppe vom alten Adby gegessen hatte. Er hoffte nur, dass er nach diesem Tag noch genügend Leben in sich hatte, um sie noch einmal zu essen. Der Streifschuss an seinem Hals schmerzte wie die Hölle, seine Arme und Beine waren schwer wie Blei.
Zähneknirschend wandte er sich wieder der Barkasse zu, legte einen Zahn zu und wartete auf den Moment, in dem der Anführer über der Reling auftauchen würde.
In dem Moment, als er das Heck des Bootes erreichte, sah er ihn. Ohne zu zögern riss er die Signalwaffe hoch und drückte ab. Sekundenbruchteile später explodierte der Kopf des Mannes in einem rotgrauen Nebel. Sofort duckte Raas sich wieder, doch es dauerte nur noch Augenblicke, bis die Albastairner begriffen, dass ihr letzter Befehlshaber gefallen war. Waffen klapperten, fielen zu Boden, eine Büchse landete vor seinen Füßen.
Raas zwang sich zur Ruhe. An seinen Stiefeln klebte das Blut von Obadiah. Seine Faust umklammerte die Pistole. Stille kehrte rings um ihn ein.
„Das war's!“, rief er. „Feuer einstellen!“ Das war überflüssig. Aber er sagte es trotzdem, um sich selbst zu überzeugen, dass dieses Gemetzel endlich vorbei war.
Als er aus dem Schatten der Barkasse heraustrat, sah er, dass Nacht und seine Schützen die übriggebliebenen Verteidiger der Festung in Schach hielten, während die Söldner sie zu fesseln begannen. Das Gesicht des Schützenhauptmanns war eine undurchdringliche Maske und Raas hoffte, dass er genauso wirkte und nicht so müde, verbraucht und der ganzen Toten um ihn herum leid. Unvermittelt legte ihm einer seiner Männer die Hand auf die Schulter.
„Kommandant? Wir haben da etwas gefunden, das solltet Ihr Euch ansehen.“
Nach einem knappen Nicken folgte er dem jungen Korporal der zweiten Kompanie, den alle nur Löffel nannten, tiefer in die Kaverne hinein. Ein paar seiner Männer standen da, Kobb, Seiler und noch ein paar andere, bleich und ausgelaugt, am Rande einer tiefen Abfallgrube. Er hatte die Alchemisten, die unter dem Torbogen gestanden hatten, schon fast vergessen.
Dort lagen sie.
Schweigend traten die Söldner zur Seite. Sicher, er war hartgesotten. Er hatte in den ersten Schlachten gekämpft, in denen Donnermäuler eingesetzt worden waren, gewaltige Kanonen, die Menschen wie Spielzeug zerfetzten. Krieg war immer gleich. Krieg folgte einem grausamen Plan, der den Tod von Menschen zu Zahlen degradierte und die Lebenden zu Ressourcen und Reserven. Das aber hatte er noch nie gesehen. Ungläubig hockte sich Raas an den Rand der Grube. Bolzen ragten aus Körpern und Köpfen, Andere waren mit Büchsen erschossen worden. Ein paar brennende und rauchende Holztrümmer deuteten darauf hin, dass ein Fass mit flüssigem Feuer zwischen den Menschen gezündet worden war. Es roch nach verbranntem Fleisch. Das Feuer hatte Fleisch geschmolzen. Jede noch so strenge Hierarchie schien aufgehoben im gemeinsamen Tod. Die Fassungslosigkeit, Angst und das Entsetzen der Ermordeten spiegelte sich in weit aufgerissenen Mündern und gebrochenen Augen wider, so sie noch zu erkennen waren.
Der Geruch nahm ihm den Atem. Er hustete und wischte sich müde über sein Gesicht. Hinter sich hörte er das würgende Erbrechen eines Söldners. Er war erschüttert. Sie durften keine Geheimnisse preisgeben. Deshalb schlachteten die Soldaten die Wissenschaftler ab. Wie eine Herde verpesteter Schweine.
„Oh ihr Götter“, flüsterte Nachts Stimme plötzlich neben ihm. Der Schütze schien wahrhaft ergriffen. „DeCulleon, du bist kein besonders dankbarer Herrscher.“
„War er nie, was man so hört“, gab Raas mit rauer Stimme zurück und richtete sich wieder auf. „Durchsucht die Festung. Findet sein verfluchtes Zepter.“