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Die Vieltürmige
ОглавлениеWestmeer – Wenige Seemeilen vor Jestenburg
Als Vynn sich aus der Koje erhob, fühlte er sich matt und zerschlagen. Schon als er die Augen aufschlug, spürte er die Müdigkeit in seinen Knochen, die Schmerzen in seinem Rücken und einen ekelhaften, pelzigen Geschmack auf der Zunge. Das immerwährend dumpfe Stampfen der schweren Maschinen hatte ihn nicht schlafen lassen.
Die Luft unter Deck war gesättigt vom schweren Geruch der Männer, die im Schein einer einsamen Blendsteinlaterne in Hängematten schliefen. Grimstahls massiger Körper schaukelte sanft zwischen zwei Schiffsbalken, die Arme hingen links und rechts herab. Er röchelte leise im Schlaf. Vorsichtig drückte sich Vynn an ihm vorbei und erklomm die schmale Stiege zum Deck. Draußen war die Luft frisch, etwas salzig und es dämmerte ein trüber Morgen. Fahl und verwaschen hing der Sonnenball im Dunst des neuen Tages und die Frühwache an Deck machte sich bereit für die Ablösung.
Schütze Nacht lehnte an der Reling, spitzte mit einem krummen Messer einen Holzpflock an und musterte Vynn eingehend.
Vynn starrte zurück. Nacht erweckte von Anfang an in ihm das Gefühl, nicht erwünscht zu sein. Der Söldner war nicht aus Gefälligkeit hier, so wie Grimstahl, sondern auf Befehl seines Kommandanten. Nacht traute Vynn nicht. Verdenken konnte Vynn ihm das nicht, vertraute er sich doch selbst keinen Deut mehr. Dass nun der Goldene ihn als Wohnstatt auserkoren hatte, machte es nicht besser. Im Gegenteil. Immer wieder durchlebte er den Augenblick, als die ersten fremden Worte in seinem Kopf erklangen und er fragte sich, welchen Einfluss der Goldene wirklich auf ihn besaß. Dachte Vynn seine eigenen Gedanken oder die des Goldenen? Konnte der Goldene ihn belauschen?
Vynn fröstelte. Angestrengt lauschte er in sich hinein. Nichts deutete darauf hin, dass jemand anderes als er selbst in seinem Körper steckte. Ihm war, als taste er nach einem Sturz seinen Körper ab, um nach inneren Verletzungen zu suchen. Aber da waren keine. Das einzige, das sich von seinem Befinden noch vor einigen Wochen unterschied, war, dass er sich verfolgt fühlte – verfolgt von sich selbst.
Der Wind blies steif aus Richtung West und drückte einen Teil der gewaltigen Dampffahnen, die aus den mächtigen Kaminen stiegen, herab. Sie umwaberten für einen Moment Vynn und Nacht, bevor sie sich über dem Wasser verflüchtigten.
„Wieder auf den Beinen?“, ließ sich der Söldner vernehmen. „Ging ja schnell.“
Die langsamen Bewegungen von Nachts Messer besaßen etwas Hypnotisches. Seine Stimme troff vor Misstrauen. Wozu schnitzte er überhaupt an diesem Holzpflock herum? Vynn straffte sich und schüttelte den Kopf, beschloss, nicht zu zurückhaltend zu sein. Mit der Linken griff er an seine Schulter. Da war nur noch eine verschorfte Wunde zu spüren, aber er konnte sich kaum an den Kampf erinnern. Als er umfiel, war er mit dem Kopf aufgeschlagen, der auch jetzt noch, zwei Tage später, wummerte wie eine dumpf hallende Trommel.
„Steckschuss im Schulterblatt“, antwortete Vynn. „Ich kann nicht schlafen bei diesem merkwürdigen Konzert aus Wasser, Knirschen und Stampfen.“
Nacht grinste schief.
„Schiffe sind wie Lebewesen. Sie atmen salzige Meerluft und verschlingen Menschenleiber. Sie haben einen eigenen Charakter, aber die Gezeiten nagen an ihnen wie die ewige Uhr der Götter an uns.“
Vynn hob die Brauen. Eine poetische Ader hätte er dem Schützen nicht zugetraut.
„Sagt jedenfalls Peabreck“, fügte Nacht pflichtschuldig hinzu. Vynn hatte keine Ahnung, wer Peabreck war. „Der Käpt'n sagt, wir laufen in zwei Stunden in Jestenburg ein.“
Nachts Kopf ruckte in Richtung Bug und zum ersten Mal erblickte Vynn das Land, aus dem Raas Tuan'Baaros Söldnerheer stammte. Hohe, schroffe Felsen ragten aus dem Wasser und verloren sich in der Dämmerung. Einen Hafen konnte er nicht erkennen.
„Wenn wir da sind, erstatten Grimstahl und ich der Hohen Dame Bericht. Du bleibst in der Kaserne, klar?“ Nacht stieß sich von der Reling ab und gesellte sich zu Vynn.
„Wem?“, fragte Vynn. Irgendwann war dieses Wort auch im Kriegsrat des Söldnerkommandanten gefallen.
„Theabel Vendemeer, Principessa der Handelsgilde von Jestenburg. Sie ist diejenige, die für unseren Krieg und meinen Arsch bezahlt“, erklärte Nacht. „Dir rate ich, solange in unserem Quartier zu bleiben. Es gibt eine kleine Kaserne für uns Offiziere, wenn wir in Jestenburg sind.“
Nacht beugte sich nahe zu Vynn. Er konnte den Atem, der dezent nach Zwiebeln und Rum roch, spüren.
„Jestenburg ist ein Moloch“, flüsterte der Schütze. „Ein falscher Schritt, ein falsches Wort und sie zerhacken dich zu Fischfutter. Also sieh dich vor, Kleiner.“
Brüsk wendete er sich ab und lehnte sich wieder an seinen Stammplatz, just als Grimstahls verwuschelter Kopf aus der Luke ragte. Der Reiterhauptmann gähnte herzhaft, grüßte Vynn mit einer lässigen Geste und kletterte heraus.
Unversehens ertönte ein Ruf aus dem Krähennest und schlagartig wurde das Deck lebendig.
„Gleißende Faust voraus!“, rief der Ausguck dreimal, während.
„Geon Markwarth hatte die Idee“, brummte Grimstahl geistesabwesend. Vynn blickte ihn fragend an. Lächelnd deutete der Söldner über den Bug. Zunächst sah Vynn nur Dunst und Felsen. Doch dann glomm ein Lichtfinger auf, der sich durch den klammen Schleier des Morgens tastete. Freudige Rufe wurden laut, denn die Heimat der Jestenburger Dampfbark war nahe.
„Die Gleißende Faust. Sie geleitet Schiffe sicher in die Kanaleinfahrt“, erläuterte Grimstahl.
Vynn warf einen raschen Blick auf Nacht.
„Irgendwelche Ratschläge, wie ich mich in Jestenburg verhalten soll?“, fragte er den Reiterhauptmann. Grimstahl zuckte unbestimmt mit den Achseln.
„Jestenburg ist ein gefährliches Pflaster, wenn du in die falschen Gassen gerätst. Aber solange du dich auf den Straßen bewegst, die mit Blendsteinen beleuchtet sind, bist du sicher.“
Gelassen klopfte er Vynn auf die Schulter.
„Du schaffst das. Immerhin hast du bewiesen, dass du dich wehren kannst, wenn es drauf ankommt. Hau den Dieben einfach aufs Maul, wenn sie dich bekrabbeln.“
Vynn lächelte schmal. Egal wie trübe seine eigenen Gedanken waren, der hünenhafte Reiter verstand es ihn aufzumuntern.
„Aufs Maul hauen, verstanden, Hauptmann.“
„Und hör endlich auf, mich Hauptmann zu nennen, sonst bläu ich's dir mit einem Morgenstern ein“, brummte Grimstahl und wedelte mit dem Zeigefinger. Dann wandte er sich an seinen Kameraden. „Nacht, du Pferdegesicht, komm und pack deine Sachen.“
Damit wendete er sich ab und verschwand wieder unter Deck. Nacht folgte schweigend und glitt hinter ihm die Stiege in den Bauch des Schiffes hinab.
Vynn hatte nichts zu packen. Das wenige, das er besaß, trug er am Leib. Davon gehörte ihm noch nicht einmal alles. Seine Gedanken wanderten zurück zu der Nacht, in der Taramaree mit dem Schmied zurückblieb, umzingelt von der Eisernen Garde. Die Ungewissheit, warum die Albastairner Lowyan so unbarmherzig gejagt hatten, lastete wie ein stählernes Gewicht auf ihm. In seinem Versteck auf der Sechir hatte er nicht erkennen können, ob jemand entfliehen konnte. Er fühlte sich elend bei dem Gedanken, die beiden zurückgelassen zu haben. Aber Taramarees Befehl war eindeutig gewesen. Taramaree hatte sich um ihn gekümmert, als er erwachte. Die Flüchtlinge, Barrel und Larissa, all die Bewohner dieses Dorfes am Maarsee, ihnen fühlte er sich auf eine unerklärliche Art tief verbunden. Und ganz besonders Engel. Vynn vermisste ihr schüchternes Lächeln, ihre unschuldigen Augen, wie sie sich an seiner Hand festklammerte. Ihm war, als fehle ihm mehr als nur Erinnerungen an sein früheres Leben.
Tief in Gedanken versunken bemerkte Vynn nicht, dass das Schiff dem Leuchtturm immer näherkam. Erst als Grimstahl wieder neben ihm auftauchte, blickte er auf.
Die Gleißende Faust war eine lotrechte Felsnadel, die wie ein monströser Arm aus dem Wasser ragte. Die Wellen brachen sich an riesigen Steinhaufen rund um das Eiland und Vynn erblickte Fenster entlang der Felsnadel. Ob dort jemand wohnte?
Auf der Spitze thronte der größte Blendstein, den er je gesehen hatte, eine mächtige sonnengelbe Kugel. Vynn versuchte sich vorzustellen, wie sich die Seeleute fühlen mochten, wenn sie nach langer Reise dieses erhabene, durchdringende Glühen erblickten.
„Das Ding wiegt angeblich so viel wie einhundert Pferde“, plauderte Grimstahl gutgelaunt. „Die Faust ist Tag und Nacht besetzt, jeden Tag klettert jemand hinauf ins Licht, um die Salzkruste von dem Stein zu schrubben. Ziemlich gefährlich, dort oben sind schon Hunderte bei ledendigem Leib verbrannt. Die Gilde der Leuchtturmwärter ist ziemlich stolz drauf, wenn es mal ein paar Jahre keine Toten da oben gibt.“
Ob der Goldene sich dafür interessierte, was Vynn sah und hörte? Lernte er mit ihm die Dinge, die Vynn lernte? Wieder horchte er in sich hinein. Dass er wieder alleine war, glaubte er nicht, aber er bildete sich ein, der seltsame Geist würde schlafen. Mit diesem Gedanken fühlte er sich weitaus wohler.
Der Kapitän umschiffte die Gleißende Faust in einem weiten Bogen. Dahinter erwartete sie der Schlund des Jest, des großen Nordlandflusses, der an dieser Stelle ins Meer mündete. Gleichzeitig bildete er die Einfahrt zu dem natürlichen Hafen, um den herum das vieltürmige Jestenburg vor unzähligen Jahrhunderten erbaut worden war.
Jestenburgs Häuser schienen sich links und rechts an den hohen Felsen festzubeißen und reckten sich zum Teil viele Stockwerke empor. Aus Hunderten Fensteröffnungen malten alchimistisch behandelte Steine kleine Lichtflecken auf das Wasser der Hafeneinfahrt.
„Würde ich dort oben wohnen, hätte ich ständig Angst ins Meer zu fallen“, feixte Grimstahl.
„Deine Fettschürze passt gar nicht durch die schmalen Türen“, ätzte Nacht.
Grimstahl überhörte die Bemerkung. „Diese Häuser da gehören traditionell den Familien der Salzwächter-Gilde, die die Hafeneinfahrt verteidigen. Die ziehen dann einfach ein paar Ketten, die so dick sind wie ich, links und rechts den Felsen hinauf“, erzählte er, während die Mannschaft die Landung vorbereitete. Der braune Dampf aus den Schloten wurde lichter. Mit langsam vor sich hin rumorenden Maschinen fuhr das Schiff auf die Kluft zwischen den hohen Klippen zu. Die Einfahrt war breit genug, dass zehn solcher Schiffe gleichzeitig aneinander vorbeifahren konnten.
„Weiter hinten gabelt sich der Fluss“, fuhr Grimstahl fort, „und dort beginnen die Kanäle. Der Jest hat sich da hineingegraben, mal hierhin, mal dahin...“
„Der alte Jest scheint keinen guten Orientierungssinn gehabt zu haben, wenn er so oft die Richtung wechselt“, warf Nacht ein.
Grimstahl grinste. „Nein, der Jest hatte schon immer seinen eigenen Kopf. Aber er hat der Stadt den sichersten Hafen von ganz Delireth beschert.“
Der breite Kanal wand sich eine Weile, als wüsste er tatsächlich nicht, wohin er wollte. Dann eröffnete sich vor ihnen der grandiose Ausblick in den Hafen der Freien Handelsstadt.
Der Wald von Schiffsmasten und Kaminen war unüberschaubar. Auf manchen Dampfbarken und Handelsschiffen schienen soeben die Maschinen angeheizt zu werden. Über dem ganzen Hafen lag eine schwere Rauchglocke. Vynn reckte sich, so als ob er auf diese Weise die Schiffe besser zählen könnte, gab es aber bald auf. Es waren mehr als hundert. Auch hier klammerten sich Häuser an Felswände, die den Hafen von drei Seiten umschlossen und Vynn schien es, als seien die Gebäude aus eigener Kraft aus dem Felsen gewachsen.
Knappe Befehle gellten über das Deck. Geschickt lavierte der Steuermann zwischen steinernen Stegen und hölzernen Planken hindurch. Holz knirschte, als das Schiff anlegte und stämmige Schauerleute zogen die Taue um die Poller fest. Als das Fallreep auf den Steg gefallen war, durften die Passagiere den festen Boden unter ihren Füßen spüren. Vynn schwankte etwas, so als sei er noch immer auf dem Schiff und Grimstahl erklärte ihm, dass die Seeleute dieses Gefühl „trunken vom Meer“ nannten.
Es war früh am Morgen, doch der Hafen war so belebt, als kenne er keine Tageszeiten. Beladen, entladen, anlegen, ablegen, all das bildete einen nie enden wollenden Kreislauf, der das Leben der Hafenarbeiter bestimmte. Und über allem thronte die vieltürmige Stadt.
Grimstahl schulterte seinen Ledersack und erklärte Vynn, wie die Stadt tickte, während sie sich an den Aufstieg in die Oberstadt machten. Nacht stapfte schweigend hinterher. Doch Vynn spürte noch immer die prüfenden Blicke, die der Schütze ihm zuweilen zuwarf. Ihm gefiel die Aussicht, in Jestenburg etwas Abstand zwischen sich und Nacht zu haben.
Ihr Weg führte zwischen den hohen Lagerhallen hindurch und endete an einer riesigen Treppe mit flachen Stufen, die sich hinauf in die Oberstadt wand. Menschliche Lastträger und störrische Maultiere wuchteten Waren aller Art und Größe hinab in den Hafen, aber Vynn hatte auch monströse Lastenaufzüge an stählernen Ketten gesehen. Die drei Neuankömmlinge schoben sich durch die Menge, stiegen hinauf und Vynn war schon jetzt schwindelig von all den Menschen, an denen er sich vorbeidrängelte. Laute Rufe und Gesprächsfetzen in einem Dutzend Sprachen hingen in der Luft neben dem verwirrende Duft von Gewürzen, die in großen Ballen an ihm vorbeigetragen wurden. All diese Menschen und Eindrücke erschlugen seine Sinne und nach einer Weile beschloss Vynn, nur noch auf die abgewetzten Steine zu seinen Füßen zu starren, um wenigstens seinen Augen Ruhe zu gönnen. Doch Grimstahl erzählte weiter munter von den drakonischen Strafen gegenüber Dieben und Mördern, warum Jestenburg rot genannt wurde, warum jedermann den großen Park mied und wie die Wachen in alter Zeit auf den tausend Türmen die Stadt vor einem Drachenangriff erretteten.
Vynn fragte sich, ob der Goldene genauso erschöpft war wie er selbst. Als Grimstahl innehielt, war Vynn dankbar, dass endlich vor ihnen die Soldkaserne aufragte. Der flache Ziegelbau lag am Rande des Hafens auf einer Klippe und trotzte mit schroffen Mauern der Seeluft. Auf seinen Mauern wehten Dutzende von Fahnen, rote mit Mantikoren, gelbe mit gekrönten Pfauen, schwarzgraue mit dem geflügelten Drachensiegel der Windsteine, grün ornamentierte, blau gestreifte und, über allen anderen, das Schiff mit den goldenen Segeln – das Wappen der Freien Handelsstadt Jestenburg.
Auf ihr Klopfen öffnete ein klappriges Männlein mit krächzender Stimme und einem Gespinst von einem weißen Bart die Nebenpforte und sie traten in einen von Bäumen umsäumten Innenhof.
„Morgen, Adby.“
„Ja, ja, ja“, brummte der alte Mann nur ungehalten und winkte sie herein. Er ging vornübergebeugt, aus dem Leinenhemd ragten spindeldürre Ärmchen, aber er schloss das schwere Tor hinter ihnen, als sei es aus Papier.
„Da seid ihr ja“, stellte er fest. „Verletzte?“
Der Alte musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. Grimstahl nickte ernst. „Einige. Helliger hat ein Auge verloren.“
„Schielte eh.“
„Breyan hat einen bösen Schlag abbekommen, wir mussten seinen Arm schon abbinden.“
„Die Spielkarten kann er auch mit einer Hand halten. Sonst noch was?“
„Wir haben noch einen Neuen mitgebracht“, fügte Grimstahl hinzu und deutete mit dem Kopf auf Vynn, während sie durch den kleinen Innenhof schritten. Adby bedachte Vynn mit einem kurzen Blick und nickte.
„Seh ich. Bisschen dürr. Braucht mal was zu essen, der Kleine.“
Vynn schmunzelte und folgte ihnen. Er erhielt ein Zimmer direkt am Eingang, Grimstahl und Nacht bezogen ihre angestammten Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite der Kaserne. Der Rest sollte zum Krankenlager umfunktioniert werden. Während Grimstahl und Adby draußen im Hof die Einzelheiten besprachen, streckte sich Vynn auf dem weichen Bett aus und starrte an die Decke.
All das, was in den letzten Wochen passiert war, erschien ihm wie ein böser Traum. Er hatte das Gefühl, sich selbst bei einem aussichtslosen Kampf gegen das Unvermeidbare zuzuschauen, doch seit die Stimme des Goldenen in sein kurzes Leben getreten war, tat sich da eine neue Front auf. Noch war er sich im Unklaren darüber, ob sie Kampf erforderte. Es drängte ihn, das herauszufinden.
Der Tag verstrich und Vynn gefiel es nach der langen Zeit unter Söldnern und Seeleuten wieder für sich zu sein. Adby hatte nach seinen Wunden gesehen, die Verbände gewechselt und zufrieden gebrummt. Raas' Söldner brachten die Verwundeten mit Karren in die Kaserne, klopftem dem uralten Apothekarier auf den Rücken. Er behandelte sie wie kleine Kinder, die nicht aufgepasst hatten und hielt jedem Verletzten erst einmal eine Standpauke. Dann kümmerte er sich erst um die Wunden.
Grimstahl und Nacht brachen nur wenig später auf, um der Principessa einen Besuch abzustatten. Das Zepter trugen sie eingewickelt in ein Ledertuch in einem schweren Koffer bei sich. Vynn sah ihnen hinterher, während sie die Kaserne verließen. Lowyan hatte ihr Leben wegen diesem Zepter verloren. Dreißig Söldner waren in der Festung dafür gefallen. Ein verdammtes Stück vergoldetes Holz. Vynn schüttelte den Kopf und wandte sich um als Adby das Tor schloss. Dann verbrachte er die folgenden Stunden damit, durch die Kaserne zu streifen. Mit der Ruhe war es vorbei seit die Verletzten hier untergekommen waren. Adby wuselte von Zimmer zu Zimmer, während er Vynn barsch Befehle zuraunzte, er solle Wasser heiß machen, im Apothekarierlabor nach diesen oder jenen Kräutern sehen, nicht so rumstehen und Maulaffen feilhalten. Vynn gehorchte bereitwillig, froh darüber, dass er über nichts mehr nachdenken musste.
Als es dämmerte, klopfte es erneut am Tor. Adby knurrte etwas Unflätiges vor sich hin, stellte den Putzeimer zur Seite und tappte zum Tor.
„Schnell, Adby, bring Grimstahls Kettenhemd, der Hauptmann hat eine Seidenallergie“, rief Nacht, als die beiden in den Innenhof traten. Grimstahl machte ein Gesicht, als habe er Milch getrunken.
„Halt dein blödes Maul, du räudiger Köter“, murmelte Grimstahl zornig und durchmaß den Innenhof mit schnellen Schritten. Die beiden Söldner sahen aus, als seien sie verkleidet. Vynn nahm an, dass sie ihre Auftraggeberin inzwischen schon aufgesucht hatten. Hinter Grimstahl wehte ein exquisiter silbrigschimmernder Umhang durch den Staub und sein massiger Körper steckte in einer silberbestickten, gegürteten Robe aus dunkelroter Halgader Seide. Nacht trug einen dunkelblauen Jestenburger Gehrock mit einem breitkrempigen Hut, an dem eine Feder beim Gehen wippte.
„Hat die Principessa euren Sold gekürzt oder warum sieht Grimstahl drein wie eine Gewitterwolke?“, fragte Adby gelangweilt.
„Die gnädige Dame geruhen überaus gut gelaunt zu sein über den Erfolg ihrer Jagdgesellschaft“, berichtete der Schütze, imitierte einen höfischen Knicks und schnupperte. „Ist das Wachtelfleisch?“
„Nein, Menschenfleisch. Ich dachte, ihr wolltet was Vertrautes essen“, erwiderte der Heiler sarkastisch.
Schütze Nacht folgte ihm und sah ihm über die Schulter. Die Kochstelle war überdacht und lag inmitten des Innenhofes. Er lehnte sich an einen ihrer Pfosten.
„Grimstahl hört wieder überall die Läuse kotzen. Angeblich verschweigt sie uns was. Bei den Viergöttern.“ Nacht rollte die Augen und schüttelte den Kopf. „Als ob wir alles wissen müssten, bevor wir irgendetwas entscheiden.“
„Die jestischen Händler sind wie Kraken und Theabel ist die gefräßigste von allen“, orakelte Adby und fischte ein Stück Rübe aus einem der dampfenden Töpfe. Vorsichtig roch er daran, doch ehe er sich versah, hatte sich Nacht das Gemüse geschnappt und verschlungen.
„Ein Hauch zu viel Nelkenpfeffer.“
„Dann geh und kauf dir dein Essen in der Sperlinggasse bei den Garküchen, wenn dir meine Kochkünste nicht genügen“, rumorte Adby. Dann zwirbelte er sein dünnes Bärtchen, überlegte und warf ein Sträußchen Rosmarin in den Sud.
„Schaut, da kommt seine Herrlichkeit, der Graf von Rotz zu Kackenbach.“ Nacht grinste breit, als er Grimstahl wieder aus dem Zimmer stiefeln sah. In Windeseile, so schien es, hatte er sich die edlen Kleider vom Leib gerissen und eine bequeme, einfache Tunika aus Wolle übergeworfen. Ein breiter Ledergürtel spannte sich über seinem Bauch.
„Wie ist es gelaufen?“, fragte Vynn neugierig.
„Verfluchtes Kostümfest, diese Scheiß-Gildenhalle, kreuzweise können die mich, allesamt“, schimpfte Grimstahl und hockte sich rittlings auf den Holzstuhl, auf dem Adby seine Rüben geschält hatte. Missmutig kaute der Hauptmann auf seiner Unterlippe und starrte in das Ofenfeuer. Der Heiler rührte noch ein paar Mal und probierte schlürfend. Bedächtig nickte er.
„Fertig.“ Er winkte Vynn herbei. „Komm, setz dich. Du musst Hunger haben, Junge.“
Vynn hob eine Braue.
„Junge?“, lachte Nacht. „Mach dir nichts draus, er nennt sogar den Kommandanten so.“
„Sie ist eine verdammte Schlange, das sage ich dir“, brummte Grimstahl und nahm sein Besteck entgegen. Nacht gruppierte vier Stühle um einen kleinen Holztisch und Adby verteilte das Abendessen.
Vynn runzelte die Stirn. „Jeder hat doch seine Geheimnisse. Warum sollte sie euch alles erzählen? Ihr habt doch eure Befehle und fürs Weghören bekommt ihr viel Gold.“
Der Schütze stieß Grimstahl an und deutete mit der Gabel auf Vynn. „Hör dir das an. Das erste Mal, dass unsere dünne Wunderwaffe was Vernünftiges sagt.“
Grimstahl schüttelte abwehrend den Kopf und schaufelte ein großes Stück Fleisch in seinen Mund.
„Überleg doch mal, du Spatzenhirn“, schnauzte er mit vollem Mund. „Was hat sie gesagt, als du ihr das Zepter gezeigt hast?“
Nacht zuckte mit den Achseln. „Nichts.“
„Eben.“ Geräuschvoll schluckte Grimstahl und spülte mit einem Becher Wasser nach. „Sie hat das Zepter schlicht nicht erwähnt, sondern sofort an Hammersten übergeben.“
Langsam aß Vynn weiter. Lowyan war kläglich gescheitert mit ihrem Auftrag. Sie war eine unbekümmerte Aufschneiderin mit einem losen Mundwerk gewesen. Aber sie hatte nicht gelogen, als die Viergötter sich von ihr abwandten und sie sterbend in seinen Armen gelegen hatte.
„Ja und? Was ist daran so merkwürdig?“ Langsam wurde Nacht ungehalten, Vynn hörte es seiner Stimme an. Der Unterton war eine Spur schärfer geworden.
Grimstahls Gabel knallte auf den Holztisch. „Hast du gesehen, wie sie es angesehen hat? Nein, du hast der Kammerdienerin in den Ausschnitt geguckt. Die Principessa hatte Angst!“
„Blödsinn“, wehrte Nacht ab, aber seinem Tonfall war anzumerken, dass sein Widerstand nachließ. „Vor einem blöden Zepter?“
Unbestimmt wedelte Grimstahl mit der Hand. „Irgendetwas ist damit. Du hast doch gehört“, er zeigte mit der Gabel auf Vynn, „die Rote Elster sollte es klauen. Hat sie aber nicht, weil in Albastairn nur eine Kopie lag. Das hier war das echte und ich sage dir, irgendetwas ist damit. Sie hatte eine Scheißangst.“