Читать книгу Am Meer dieses Licht - Fanny Wobmann - Страница 5
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ОглавлениеGroßmama, was sagst du? Du verziehst so deinen Mund, als müsstest du dich übergeben, aber dann sprichst du. Es entstehen Knacklaute, wie Tropfen, die auf ein Wachstuch fallen. Es ist ein kleines bisschen eklig. Wie der trockene, säuerliche Geruch dieses Krankenhauszimmers. Diese verbissene Sauberkeit, du weißt schon, man desinfiziert und spricht ganz leise. Man verhüllt und man seufzt.
Ich habe dir Blumen mitgebracht, erst hast du nicht recht begriffen, dachtest, du hättest sie selbst gekauft, und es wäre mein Geburtstag.
«Es schneit, Laura?», fragst du mich. Oder du behauptest es, ich weiß es nicht. Aber es schneit nicht. Die Sonne steht tief, sticht die obersten Stockwerke der Häuser scharf heraus, und die Stadt steht schief. Sie ist wild und stolz, mit den Weiden ringsum zu verschmelzen. Der Winter hat sämtliche Wege verwischt, alles ist weiß, grau und blau, wie deine Hände, deren krumme Finger unmerklich auf das straff gespannte Laken klopfen.
«Die Krankenschwester ist eine Schwarze, ich habe bald keine Haut mehr, so heftig wie sie mir den Rücken reibt. Sie ist nicht besonders freundlich, weißt du, ein bisschen brüsk, wie sie manchmal sind. Die anderen Krankenschwestern sind freundlich, aber sie lassen mich nachts nicht schlafen. Mir ist es lieber, wenn es ein Mann ist, hast du Thibaut schon getroffen? Laura, hast du gesehen, meine Zimmernachbarin ist weg. Sie ist nicht gestorben, hm, nein, sie ist nach Hause gegangen, glaubst du das? Ich hätte ihr keine zwei Wochen mehr gegeben, als sie ankam, der Geifer ist ihr aus dem Mund gelaufen, weißt du, schrecklich ist das, schrecklich. Und sie hat gerochen, weißt du. Ich musste an Papa denken, wenn er vom Schweinefüttern kam. Ich habe mich nie an diesen Geruch gewöhnen können. Und dabei bin ich damit großgeworden. Versprich mir, du lässt nicht zu, dass es mit mir so weit kommt?»
Ich weiß nicht, was ich antworten soll, ich lache. Denn ich kenne von dir nur dein Schweigen, deine Geheimnisse, diese Zurückhaltung, die dein Leben durchzogen hat. Bloß nicht lästigfallen. Nichts aufrühren. Nicht zu tief bohren. Schauen, dass man klarkommt, ohne viel Aufhebens zu machen.
Jetzt sprichst du mit mir und dein Mund läuft über.
Du darfst ein wenig aufstehen, solltest gehen, damit deine Muskeln sich nicht ganz zurückbilden. Also bringe ich dich in die Cafeteria. Deine Pantoffeln sind zwei ängstliche kleine Nagetiere, deren Fell über einen gefrorenen See schleift. Wie langsam du vorankommst. Der Kiosk ist geöffnet, und du verlangst ein Tribolo, erzählst mir, dass diese Rubellose 1985 aufgekommen sind, dass du seither jede Woche eins kaufst und noch nie mehr als fünfzig Franken gewonnen hast. Du benutzt deine Nägel, um die Zahlen zum Vorschein zu bringen, trittst dabei von einem Fuß auf den anderen und regst dich auf, weil du zitterst und es nicht schnell genug geht. Du lässt die Niete auf deine Füße fallen und sagst, «ich wüsste sowieso nicht, was ich mit dem Geld jetzt noch anfangen sollte, das wäre ja noch der Gipfel», und fängst wieder an zu rutschen. Das Scheuern deiner Füße auf dem abgenutzten Boden hat etwas Beruhigendes. Ich bin froh zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin, die dich trägt, dass ich den Druck auf deinem mageren Arm etwas mindern kann, ohne dass du plötzlich in eine unbekannte und brutale Welt entschwindest.
«Laura, es schneit.» Du bleibst nicht stehen, um hinauszusehen, bist ganz auf deine Schritte konzentriert. Aber es stimmt, diesmal schneit es. Der Winter hat seine Kräfte entfesselt, die Stadt ist wieder weiß, da, wo ihre Fluchtlinien sich verwirren, grau, sie unterwirft sich. Die Symmetrie der Straßen ergibt keinen Sinn mehr, die Flocken wirbeln durcheinander, das Chaos von draußen und deine scheuernden Füße, fch, fch, fch, fch, ein präziser Rhythmus, ich marschiere mit und weiß nicht so recht, wohin wir gehen.
Das Scheuern und der Geruch deines Nachthemds. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich das aushalten werde.
Aber ich bin da, ich stütze dir den Arm und bringe dir den Kakao, auf den du ungeduldig gewartet hast. Du pustest über das Getränk, braune, fette kleine Wellen schlagen am Tassenrand auf, du machst dir die Finger voll. Ich hole eine Serviette und betrachte dich von Weitem, eine weiße Gestalt, von der man nicht mehr weiß, wohin mit ihr. Du nimmst so viel Platz ein und bist doch winzig klein, zusammengesunken über dem Plastiktisch, die durchsichtigen Haare am Schädel plattgedrückt.
Wir wissen nicht, was sagen. Das Schweigen bringt die Flocken in Rage, und du schaust mir in die Augen. Da fange ich an, dir zu erzählen.
Er war nackt und rosig.
Ich beobachtete ihn aus meinem linken Augenwinkel. Auf dem Kiesstrand.
Die Hitze, die vom Boden aufsteigt, macht die Sicht immer irgendwie verschwommen und irreal. Alles, was auf den Kieselsteinen liegt, ist nur noch ein flimmernder Farbfleck, ein schleimiger Quallenkörper, der im Meer planscht.
Schleimige Körper sind erlaubt an den Stränden. Auf meinem drückt sich langsam die Form der Steine ab.
Kleine rote Ringe auf der trockenen Haut. Gänsehaut. Wie eine stille See. Raue und fremdartig anmutende Unebenheiten, die ich mit den Fingerspitzen abtaste. Und dann ist er aufgestanden.
Nackt und rosig.
Ich wollte wissen, ob er behaart ist, aber hatte nicht die Kraft, mich zu rühren, um besser sehen zu können. Er ging ans Wasser. Es war zu kalt, er schüttelte die Zehen, um sie aufzuwärmen. Dann fotografierte er seinen Hund. Mehrmals. Vor dem Meer, auf der Düne, liegend, sitzend, rennend. Ich sah von meinem trägen Posten aus die Schnauze des Tieres bellen, hörte aber nichts. Auch die Geräusche sind verschwommen am Strand. Es bleiben nur die des Meeres und des Winds. Die Schritte auf den Kieseln.
Er mochte seinen Hund. Das sah man. Das Tier war schwarz-weiß, und seine kurzen Pfoten versanken zwischen den Kieselsteinen. Der Hund sah aus, als würde er lachen. Er lief mit raschen, unverfrorenen Schritten davon, über die breite Düne, die die Nudisten vor dem Blick der anderen schützen sollte, hinaus. Sein Herrchen stand auf, um ihn zurückzuholen, überquerte den Strand, barfuß über die Kieselsteine, hinkend vor Schmerz. Ich konnte seine Zehen sehen, lang und dicklich zugleich. Er blieb vor mir stehen. Er war nicht sehr stark behaart. Ein bisschen auf dem Bauch. Und seine Schamhaare waren erstaunlich glatt, ich musste mit der Hand meine Augen beschatten, um ihn richtig sehen zu können. Dabei hatte ich gedacht, alle Schamhaare seien gekräuselt.
Das Tier hatte einen Haufen auf den Nudistenstrand gesetzt. Der rosige Mann lief weg, um ihn aufzusammeln. Seine Hinterbacken zuckten auf und ab, zwei rote zappelnde Bälle. Ein alter Mann betrachtete sie, sein fetter Bauch wabbelte in den Sonnenstrahlen. Ich war immer noch nicht aufgestanden.
Ich stellte mir vor, wie ich von oben aussah. Eine totale Auslieferung meines Anblicks und meines Körpers, ein Hingefläztsein. Sich wirklich hinzufläzen braucht Übung. Mein Körper nimmt Raum ein, spiegelt sich im Blick der Leute und hallt dort als Provokation wider. Auch die Provokation braucht Übung.
Ich drehte mich auf den Bauch, es wurde zunehmend kälter. In der Nacht hatte sich ein kräftiger Wind erhoben, er hatte das Rauschen der Wellen bis an mein Bett gebracht. Es war Flut. Auf meinen Lippen der Geschmack von Salz und der Geruch von Algen. Die so weißen Möwen. Ich war nicht rasiert. Ich las nicht, hörte nicht Musik, ich tat nichts.
Es war salzig und nass, hin und wieder warm, ich schaute auf die Kiesel und lauschte ihrem Kreischen in der Bewegung der Brandung, dem Ächzen aneinanderschlagender Steine.
Es war wirklich kalt. Meine Füße waren eisig. Etwas weiter weg teilten sich ein paar Nudisten die beige, graue Weite, ein Badender schnaubte.
Der rosige Mann war in der diffusen Atmosphäre verschwunden, aber hatte eine Spur hinterlassen. Ich konnte noch seine Sonnencreme riechen und seine verblüffende Schamlosigkeit. Die Steine unter den Brüsten taten weh, aber der Druck hatte etwas Beruhigendes. Auch etwas Sexuelles. Ich rutschte in meinem Bikini hin und her, zählte bis zehn und stand auf, in mein riesiges Tuch gehüllt. Ich lief gewandt über die knirschenden Kiesel, meine nackten Füße waren daran gewöhnt. Wozu sollte ich mich anziehen, mein Bed and Breakfast lag nur zwei Schritte entfernt. Der Teer war kühl und rau, bei Grün überquerte ich die große Straße, meine Schlüssel klimperten in der Tiefe meiner Tasche, die Haustür war nie abgeschlossen, die meines Zimmers wellte sich wegen der Feuchtigkeit.
Du bist über dem Tisch eingeschlafen, glaube ich. Du hast die Augen nur halb geschlossen, es scheint fast, als würdest du mich ansehen. Ich bin versucht, dich hier dir selbst zu überlassen, in dein Schnarchen und die Winzigkeit deiner Hände versunken. Ich weiß nicht, was ich mit dir anfangen soll. Genauso wenig wie die andern. Aber ich bin da. Ich fasse dich unter den Armen, flüstere dir ins Ohr, im Bett sei es bequemer zum Schlafen, und bringe dich ins Zimmer. Wir torkeln durch die menschenleeren Gänge, wie zwei Freundinnen im Ausgang. Du bist viel leichter als ich und dennoch eine so große Last für uns.
Ich bitte die Krankenschwester, mir zu helfen, dich ins Bett zu legen. Ich stoße mir am Nachttisch den Ellbogen. Du gehst mir auf die Nerven.
«Madame Favre, es ist bald Zeit zum Abendessen, Sie dürfen jetzt nicht schlafen. Soll ich Ihnen den Fernseher einschalten? Um diese Zeit kommt doch Ihre Serie, nicht? Und Ihre Enkelin ist hier.»
Sie zwinkert mir zu und schaltet den Fernseher ein.
Deine neue Zimmernachbarin stellt die Rückenlehne ihres Bettes hoch.
Du beachtest mich nicht mehr, und so streife ich meine Daunenjacke über. Meine Mütze habe ich zwischen den Falten deiner Bettwäsche verloren, ich lasse sie da.
Draußen ist es dunkle Nacht. Unter den Straßenlampen ist der Schnee gelb.