Читать книгу Am Meer dieses Licht - Fanny Wobmann - Страница 7
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ОглавлениеIch sehe dir beim Schlafen zu. Ich betrachte dich so lange, dass ich am Ende beinahe eine Ahnung davon habe, wer du wirklich bist. Du rührst dich kaum. Ich mache mit meinem Handy ein Foto von dir. Du liegst auf dem Rücken, die Hände sind gefaltet, das Gebiss hängt herunter wie bei einer Toten. Außer dass man bei Toten den Mund verschließt, damit sie friedlich aussehen im Sarg, so als schliefen sie. Vielleicht fändest du das genauso absurd wie ich, wenn ich mit dir darüber spräche. Vielleicht müsstest du lachen. Ich mag dein Lachen, es ist verschmitzt und echt.
Ich stöbere im Nachttisch. Ein Stofftaschentuch, gebügelt und gefaltet, Kreuzworträtsel, aus Zeitungen ausgeschnitten, zwei Bücher (Die Säulen der Erde von Ken Follet, das dir gut gefallen hat, und Rhapsodie der Nacht von Blaise Cendrars, das du in seinem zerrissenen Umschlagpapier gelassen hast, ich frage mich, wer dir das geschenkt haben mag, mein Vater vielleicht), zwei graue, perfekt gespitzte Bleistifte, ein Anspitzer, ein Gummi, drei Kassenzettel, ein Apfel, ein Kettchen und ein goldenes Kruzifix, vier Schokoladenstängel, eine Tafel Nougat mit Karamell. Du isst deine Süßigkeiten nie, du gibst sie den Krankenschwestern oder vergisst sie in deiner Schublade, bis Valerie sie findet und mitnimmt, um sie anderweitig zu verteilen. Ich esse einen Schokoladenstängel, einen grünen, und stecke einen blauen ein.
Beim Ausatmen strömt die Luft durch deine Lippen und lässt sie erzittern mit dem leisen Geräusch eines kaputten Schlauchs.
Ich langweile mich. Ich kann den Fernseher nicht einschalten, deine Zimmernachbarin findet, er sei zu laut, und hat dich gebeten, um diese Tageszeit nicht fernzusehen.
Ich könnte gehen. Dieses Zimmer verlassen und einfach losgehen, egal wohin. Aber es ist kalt draußen.
Ich gehe auf Facebook, lasse Bilder vorbeiziehen, Strände, Berge, Feste, Paare, Babys, ich lese einen Artikel, der erzählt, was aus den Stars von Baywatch geworden ist, noch einen über die terroristische Bedrohung und sage mir, dass niemand Fotos von seinen Großeltern im Krankenhausbett postet.
Mein Telefon klingelt, ich zucke zusammen, fürchte, es könnte dich wecken und ich müsste eine Beschäftigung für dich finden, für dich die leere Zeit ausfüllen, doch du rührst dich nicht, deine Lippen geben nur einen etwas lauteren Ton von sich, als hätte dein Schlauch plötzlich ein neues, größeres Loch. Es ist mein Vater, er hat ein paar freie Minuten zwischen zwei Terminen und sich gesagt, es sei schon eine Weile her, dass er mit mir gesprochen habe. Ich sage ihm, ich sei bei dir, er wundert sich, bin ich nicht schon letzte Woche mehrmals da gewesen?
«Ich komme oft.»
«Bist du denn nicht zu beschäftigt dafür? In deinem Alter hat man doch bestimmt Besseres zu tun, als die Zeit mit seiner Großmutter im Krankenhaus totzuschlagen?»
«Nein.»
Er beharrt nicht weiter.
«Es ist nett von dir. Ich würde auch gern öfter kommen, aber es ist schwierig, und manchmal habe ich den Eindruck, sie sei lieber allein. Und außerdem hat Valerie mir gesagt, es gehe ihr besser.»
Er fragt, ob mir England nicht fehle, und lädt mich für nächste Woche zum Abendessen ein, falls ich nicht zu sehr beschäftigt bin. Nein, bin ich nicht, ich komme gerne, ich bringe den Nachtisch mit.
«Auf Nachtische verstehst du dich. Du machst ein leckeres Tiramisu mit Himbeeren, ja?»
«Nein, das ist Valeries Spezialität. Aber ich habe in England gelernt, Cheesecake zu backen.»
«Ah, das habe ich noch nie probiert.»
Ich höre seinen Atem, sein Mund ist nah am Apparat. Er hustet ein wenig, entschuldigt sich, er muss sich schnäuzen.
«Bist du krank?»
«Bloß eine leichte Grippe, die sich hinzieht.»
Wieder sein Atem, dann:
«Und dir geht es gut?»
«Ja, ja, mir geht es gut.»
«Schön.»
«Und dir, geht es dir gut?»
«Ja, es geht. Bei der Arbeit auch. Der Ruhestand rückt näher, es bleibt mir nur noch ein Jahr. Aber das wird bestimmt merkwürdig sein, ich habe mein ganzes Leben gearbeitet, ich bin nicht sicher, ob ich weiß, wie das ohne geht.»
Ich für meinen Teil freue mich bereits auf die Rente, mir kommt es eher eigenartig vor, das ganze Leben zu arbeiten.
Als ich auflege, hast du die Augen geöffnet, lächelst mich an.
Ich frage mich, ob du jemals wieder kochen wirst, ob du noch genug Kraft findest, dieser Leidenschaft nachzugehen, die der Teil von dir bleibt, den ich am besten kenne, deine Soßen köcheln, hübsche Rezepte aus der Betty-Bossi-Zeitung ausschneiden, deine Terrinen zubereiten, sie kunstgerecht würzen, voller Hingabe, Tag für Tag, Mahlzeit für Mahlzeit dieselben Gesten wiederholen, dieselben Gemüse und dasselbe Hähnchen schneiden, dieselbe Packung Sahne und dieselbe Tüte Reis, denselben Backofen und dasselbe Fenster öffnen, um den Raum zu lüften.
Du möchtest, dass ich den Fernseher einschalte, aber ich erinnere dich an die Bitte deiner Nachbarin, du murrst ein wenig. «Der Winter ist lang, er ist mir immer lang vorgekommen.»