Читать книгу Avatar - Der Herr der Elemente: Der Schatten von Kyoshi - F.C. Yee - Страница 10
DIE EINLADUNG
ОглавлениеWER SICH DARÜBER BEKLAGTE, wie lange man brauchte, um Ba Sing Se zu durchqueren, rechnete gewöhnlich die verstopften Straßen mit ein. Für Kyoshi stellten sie kein Problem dar: Menschenmengen teilten sich vor ihr wie das Gras vor dem Wind.
Außerdem stand ihr eine Abkürzung zur Verfügung: Sie konnte Wasser bändigen und mit einem provisorischen Floß die Regenwasserkanäle nutzen, die aus dem Oberen Ring bis ganz nach unten in die Ackerbauzone führten, wo mit dem Wasser die Pflanzen bewässert wurden. Das ging extrem schnell, sofern man den abgestandenen Geruch aushalten konnte.
Gegen Abend erreichte sie den Mittleren Ring. Trotz der Tatsache, dass die Häuser hier alle Hausnummern hatten und die Straßen nach einem ordentlich geplanten Schema verliefen, fand sie sich zwischen den einförmigen, weiß gestrichenen Gebäuden mit ihren grünen Dachziegeln nur schwer zurecht. Ihr Weg führte sie über hübsche Brücken, die sich über sanft dahinströmende Kanäle spannten, an Teehäusern vorbei, aus denen der Duft von Jasminblüten strömte, und unter Bäumen hindurch, die ihre blassrosafarbenen Blüten auf die Wege streuten. Während ihrer Kindheit in der Gosse von Yokoya hatte Kyoshi sich das Paradies ziemlich genau wie den Mittleren Ring vorgestellt: sauber, ruhig, und wohin man blickte, gab es etwas zu essen.
Ladenbesitzer, die gerade ihre Böden fegten, blickten überrascht zu ihr auf, wandten sich aber bald wieder ihrer Arbeit zu. Sie kam an einer Schar schnatternder Schüler in dunklen Roben vorbei, die in ihre Richtung glotzten und sich mit den Ellenbogen anstießen, ihrem Blick aber nicht auswichen. Menschen, die sich in ihrer Stellung im Leben wohlfühlten, neigten weniger zur Furcht. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass Gefahr in irgendeiner Gestalt auf ihrer Türschwelle erscheinen könnte.
Kyoshi schlüpfte ungesehen in eine dämmrige Nebenstraße. Mit einem Schlüssel, den sie in ihrer Schärpe aufbewahrte, öffnete sie eine schlichte Tür ohne Namensschild oder ein sonstiges Kennzeichen. Sie gelangte in einen Hausflur, ebenso verwinkelt und voller Treppen wie Loongkau, dabei jedoch wesentlich sauberer. Am Ende fand sich ein Durchgang zu einer kleinen Wohnung im ersten Stock, in dem lediglich ein Bett und ein Schreibtisch standen. Dieses Zimmer gehörte zu den diversen Immobilien, die Jianzhu ihr hinterlassen hatte, und es diente ihr als Unterschlupf, in dem sie die Nacht verbringen konnte, wann immer sie sich nicht offiziell bei der Dienerschaft des Erdkönigs anmelden wollte. Sie schnallte ihre Armschienen ab und warf sie im Vorbeigehen aufs Bett.
Dann ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und warf die entwendeten Stirnbänder auf den Tisch. Die Abzeichen klirrten wie beim Glücksspiel gewonnenes Geld. Mit mehr Vorsicht legte sie ihren Kopfschmuck ab. Eine Brise fuhr ihr durchs Haar. Sie kam durch das Fenster hereingeweht, von dem aus sie den Unteren Ring in seiner ganzen Weite und Armut überblicken konnte: Gerade versank die Sonne hinter den braunen Verschlägen und Hütten, die sich auf dem Land ausbreiteten wie Leder, das in der Sonne trocknet.
Ihre Wohnung besaß eine ungewöhnliche Lage. Viele Häuser des Mittleren Rings boten keinen Ausblick auf den Unteren Ring. Die Händler und Bankiers, die in diesem Distrikt lebten, gaben viel Geld aus, um sich den unerfreulichen Anblick zu ersparen.
Kyoshis Finger entwickelten ein Eigenleben und bildeten ordentliche Stapel aus den Abzeichen. Eine dumpfe Erschöpfung machte sich schmerzhaft pochend in ihrem Kopf breit. Heute war eine weitere Bürde auf ihrem Stapel von Aufgaben und Verantwortungen gelandet: Sie würde Loongkau noch einen Besuch abstatten müssen, um zu schauen, ob alle Einwohner sicher waren und nicht von irgendwem aus ihren Behausungen vertrieben worden waren. Außerdem würde sie Lis Hinweis nachgehen müssen, sonst würden der Captain und seine Unterstützer davon ausgehen, dass sie bloß warten mussten, bis der Avatar wie eine Wolke über ihren Köpfen weitergezogen war, ehe sie ihre korrupte Aktivität wieder aufnehmen konnten.
Sie wusste, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Sich einen einzelnen korrupten Gesetzeshüter in Ba Sing Se herauszugreifen, war im Großen und Ganzen nicht effektiver, als würde man einen Regentropfen aus dem Ozean schöpfen. Es sei denn …
Es sei denn, sie statuierte ein Exempel an Li und demjenigen, der ihn bestochen hatte. Sie könnte ihnen so sehr zusetzen, dass sich herumsprach, was geschah, wenn der Avatar jemanden erwischte, der wehrlose Menschen zu seinem eigenen Vorteil ausbeutete.
Es wäre schnell. Effizient. Brutal.
Jianzhu hätte so etwas sicher gutgeheißen.
Kyoshi schlug mit beiden Händen auf den Tisch. Die aufeinandergestapelten Abzeichen fielen klappernd auf die Tischplatte. Wieder einmal war sie in die Denkweise ihres verstorbenen »Gönners« verfallen. Ihre eigene Stimme hatte ihr seine Worte zugeflüstert, so inniglich, wie die Avatare angeblich mit ihren früheren Inkarnationen sprechen konnten.
Sie zog eine Schublade auf und holte ein Handtuch hervor, das in einer kleinen Schale mit einer speziellen Lösung gelegen hatte. Sie zog das feuchte Tuch mit Nachdruck über ihr Gesicht und versuchte, zusammen mit dem Make-up auch den tiefer liegenden Schmutz wegzuwischen, den sie in ihrem Inneren spürte.
Angewidert schauderte sie. Sie hatte Li mit genau der gleichen Technik den Atem geraubt, die Jianzhu gegen sie angewandt hatte. Eigentlich hätte sie einen heftigen Widerwillen empfinden müssen, schließlich wusste sie, wie sich das anfühlte: langsam zu sterben, während die eigene Lunge kollabierte. Beim Umgang mit Li war sie so leicht in Jianzhus Haut geschlüpft wie in ihre Kleider.
Die ebenso ein Geschenk von ihm gewesen waren.
Wieder schlug sie mit der Faust auf den Tisch und hörte, wie das Holz protestierend knirschte. Es kam ihr so vor, als führte jeder Schritt, den sie als Avatar tat, in die falsche Richtung. Kelsang hätte niemals Gewalt als Taktik in Erwägung gezogen. Er hätte versucht, die Lage der Bewohner von Loongkau und des Unteren Rings zu verbessern, bis sie der Herrschaft der Triade und der Unterdrückung seitens des Mittleren Rings etwas hätten entgegensetzen können. Er hätte als ihre Stimme fungiert.
Das war es, was Kyoshi tun musste: im Wesentlichen das Gleiche, was Kelsang für sie getan hatte, das verlassene Kind, das er in Yokoya gefunden hatte. Es war die richtige Vorgehensweise und auf lange Sicht am effektivsten.
Nur würde es dauern. Eine sehr … sehr lange Zeit.
Jemand klopfte an die Tür. »Herein«, sagte sie.
Ein junger Mann öffnete die Tür. Er trug das wallende orangefarbene Gewand der Luftnomaden. »Geht es Euch gut, Avatar Kyoshi?«, fragte Mönch Jinpa. »Ich habe Lärm gehört und … aah!«
Der Papierstapel, den er im Arm hatte, flog in die Luft, als er erschrocken zusammenzuckte. Kyoshi fing an, Kreisbewegungen mit der Hand zu vollführen, bändigte die Luft und fing die Papiere in einem Miniaturtornado ein, bevor sie sich im ganzen Raum verteilen konnten. Jinpa überwand seine Überraschung, fuhr mit den Händen von unten aufwärts durch den Luftwirbel und legte so den Stapel wieder zusammen – allerdings ragten nun überall die Ecken heraus.
»Verzeiht, Avatar«, sagte er, nachdem er ihre Post zusammengeklaubt hatte. »Ich war überrascht wegen Eures, äh …« Er deutete auf sein eigenes Gesicht, um nicht unhöflich auf ihres zeigen zu müssen.
Sie hatte den Rest der Schminke noch nicht fertig abgewischt. Wahrscheinlich sah sie wie einer jener Schädel aus, die Ärzte zur Veranschaulichung verwendeten, die Hälfte der Haut heruntergezogen. Kyoshi griff nach dem Tuch, um die Arbeit zu beenden. »Mach dir nichts draus«, sagte sie und fuhr vorsichtig mit dem Tuch an ihrem Augenwinkel entlang, damit sie nichts von dem Präparat, das die Farbe auflöste, ins Auge bekam.
Jinpa widersetzte sich ihrem Befehl und blickte weiterhin besorgt drein. »Außerdem blutet Ihr am Hals.«
Ach ja. Genau. Mit ihrer freien Hand öffnete sie einen Fächer und zielte mit dem Blatt auf die Garrottenwunde an ihrer Kehle. Durch Erdbändigen wurden die Glassplitter aus ihrer Haut gezogen und ballten sich vor ihr zu einem Klumpen zusammen. Einen Moment lang schwebte er in der Luft, dann fiel er zu Boden, als sie ihre Aufmerksamkeit einem Krug in ihrer Nähe zuwandte.
Ein dünner Wasserstrahl schlängelte sich aus dem Gefäß hervor und legte sich um Kyoshis Hals. Das Wasser war kühl und linderte den Juckreiz. Sie konnte spüren, wie sich ihre Haut wieder zusammenfügte. Jinpa sah ihr mit großen, sorgenvollen Augen bei ihrer kruden Selbstverarztung zu.
»Müsste Heilwasser nicht leuchten?«, fragte er.
»Hab ich noch nie hingekriegt.« Die Büchereien des Anwesens in Yokoya waren voller dicker Schwarten, die die medizinische Nutzung des Wasserbändigens behandelten, aber Kyoshi hatte bisher weder Zeit noch einen ordentlichen Lehrer gehabt, um sich dieses Wissen anzueignen. Trotzdem hatte sie so viele der Texte gelesen, wie sie konnte, und die Wunden, die sie sich als Avatar einhandelte, gaben ihr reichlich Anlass, an sich selbst zu üben.
Eines hatte sie sich jedenfalls geschworen: Wie begrenzt ihr Wissen auch sein mochte oder wie unzureichend ihre Technik – nie wieder würde sie tatenlos zusehen, wie jemand, der ihr etwas bedeutete, vor ihren Augen einfach starb.
Sie schleuderte das Wasser in den Krug zurück und fuhr mit dem Finger über die Narbe, die an ihrem Hals zurückgeblieben war. Wenn das so weitergeht, seh ich bald wie Tante Muis Flickendecke aus. Die Narbe würde sie mit mehr Make-up oder einem höheren Kragen verstecken können. Die fleckigen, geheilten Brandwunden an ihren Händen, die sie Xu Ping An zu verdanken hatte, erinnerten sie jedoch daran, dass ihr bald die Körperteile ausgehen würden, an denen sie sich verletzen und die sie dann verstecken könnte. »Was gibt es für Neuigkeiten?«
Jinpa nahm Platz und zog einen der vielen an den Avatar gerichteten Briefe heraus, deren Siegel er bereits gebrochen hatte. Dieses Privileg hatte sie ihm eingeräumt. Während sie sich zum ersten Mal als Avatar im Südlichen Lufttempel aufgehalten hatte, hatte er ihr fortwährend mit der Planung und Kommunikation geholfen. Irgendwann hatten die Älteren seines Ordens nur noch mit den Schultern gezuckt und ihn offiziell als Kyoshis Sekretär eingesetzt. Ohne seine Hilfe wäre sie völlig überfordert gewesen und irgendwann einfach zusammengebrochen.
»Statthalter Te berichtet untertänigst: Das Dorf Zigan hat seine vormals höchste Einwohnerzahl überschritten und kann sich nun einer neuen Schule und einer Kräuterklinik rühmen, die den ärmsten Bürgern beide unentgeltlich zur Verfügung stehen«, las Jinpa laut vor. »Na, so was. Die Familie Te ist nicht gerade für ihre Großzügigkeit bekannt. Ich frag mich, was plötzlich in den jungen Sihung gefahren ist.«
Ja, was nur? Te Sihung hatte als erster Amtsinhaber des Erdkönigreichs erfahren, dass Kyoshi der Avatar war – kurz nachdem sie beschlossen hatte, ihn beim Überfall der Daofei auf sein Haus nicht zu ermorden. Gleich nach ihrer öffentlichen Enthüllung hatte sie Te klargemacht, dass er nach wie vor in ihrer Schuld stand und sie ihn weiterhin beobachten würde. Das Wissen, dass seine Macht ihn nicht immun gegen Konsequenzen machte, hatte anscheinend sein Mitgefühl und sein Können als Statthalter beflügelt.
Gute Neuigkeiten waren derzeit selten. »Was noch?«, fragte sie Jinpa in der Hoffnung auf mehr.
Er zog den Mund schief. »Der Rest der Briefe sind Ersuche um Audienzen von Adligen, die Ihr bereits abgewiesen oder gar nicht erst beachtet habt.«
»Alle?« Sie beäugte den hohen Papierstapel und runzelte die Stirn.
Jinpa zuckte mit den Schultern. »Ihr habt bereits eine Menge Adlige abgewiesen oder ignoriert. Die Leute des Erdkönigreichs sind eben besonders hartnäckig.«
Kyoshi widerstand dem Drang, den ganzen Stapel in Brand zu setzen. Sie musste nicht alle Briefe lesen, um zu wissen, dass jeder einzelne irgendeine Forderung stellte, dass der Avatar in einer geschäftlichen, politischen oder finanziellen Angelegenheit zugunsten des Schreibers entscheiden möge.
Das hatte sie schon nach den ersten paar Stichproben verstanden. Wann immer Kyoshi eine unverfängliche Einladung zu einem Bankett akzeptierte, eine spirituelle Zeremonie leitete oder einen neuen Kanal oder eine Brücke segnete, kam irgendwann der Gastgeber, der Statthalter oder der mit dem größten Landbesitz – oftmals handelte es sich dabei um ein- und dieselbe Person – und wollte mit ihr unter vier Augen über materielle Dinge sprechen, mit denen sie Kuruk oder die große Yangchen niemals behelligt hätten. Aber Kyoshi war ja nicht wie die anderen, richtig? Sie verstand, wie im Erdkönigreich Geschäfte gemacht wurden.
Sie verstand es tatsächlich. Das bedeutete allerdings nicht, dass es ihr auch gefiel. Dieselben Weisen, die Jianzhus letztem Willen und Testament zum Trotz vehement ihre Avatarschaft abgestritten hatten, dieselben Adligen, die sie des Betrugs bezichtigt hatten, obwohl sie mit angesehen hatten, wie Kyoshi Wasser und Erde über ihrem Kopf herumwirbeln ließ, sie alle wurden schlagartig zu wahrhaftigen Gläubigen, wenn sie annahmen, dass es ihnen helfen würde, sich innerhalb der endlosen Hierarchien des Erdkönigreichs mehr Wohlstand und Macht einzuverleiben. Der Avatar konnte ein Urteil darüber fällen, wo die Grenze zwischen zwei Provinzen zu liegen hatte und welcher Statthalter auf reichem Getreideland die Steuern eintreiben können würde. Der Avatar konnte einer Handelsflotte helfen, ihre Route schneller und sicherer zu bewältigen und so das Leben der Seeleute schützen, doch am Ende sicherte sie so vor allem den Auftraggebern gewaltige Profite.
Kyoshi hatte schon bald gelernt, solche Gesuche zu ignorieren und sich auf das zu konzentrieren, was sie mit ihren eigenen Händen erreichen konnte. »Diese Nachrichten können warten«, sagte sie. Insgeheim hoffte sie, die ganze Korrespondenz würde einfach verpuffen, wenn sie nur hinreichend kalt und herrisch klang.
Jinpa bedachte sie mit einem sanften, aber tadelnden Blick. »Avatar … Ihr mögt mir verzeihen, aber ein wenig müsst Ihr Euch schon mit den gehobenen Kreisen abgeben. Ihr könnt Euch der Frage nach der Führung des Erdkönigreichs nicht auf ewig entziehen.«
Das Erdkönigreich hat keine Führung, dachte Kyoshi. Ich hab geholfen, denjenigen umzubringen, der einem Anführer am nächsten gekommen wäre.
»Die Pflichten, die Ihr in Eurer Position habt, gehen über die eines mächtigen Bändigers hinaus«, fuhr er fort. »Ihr habt das Land von den größten Banditengruppen befreit, und wie Ihr diesen Mok aufgespürt und davon abgehalten habt, weiterhin Unschuldige zu verletzen, war höchst beeindruckend. Aber jetzt verausgabt Ihr Euch nur noch und mischt immer wieder dieselben Halunken auf. Den Boden des Verbrechensfasses zu schrubben, ist das denn wahrhaftig schon das Beste, was Ihr für die Vier Nationen tun könnt? Ganz zu schweigen von den Risiken für Eure persönliche Sicherheit.«
»Davon verstehe ich eben was.« Und nur so kann ich sicher sein, dass das, was ich tue, richtig ist.
Dieses Gespräch hatten sie bereits geführt, und zwar viele Male, doch Jinpa wurde es nicht müde, immer wieder davon anzufangen. Anders als die anderen Luftnomaden, die sie kennengelernt hatte und die ihre Loslösung von der Welt sehr schätzten, trieb er sie immer wieder an, sich eingehender mit ebenjenen zu befassen, die sie ausnutzen wollten. Er war nicht viel älter als Kyoshi, etwas über zwanzig, daher war es seltsam, wenn er mit ihr sprach wie ein Politiklehrer mit einem widerspenstigen Schüler.
»Irgendwann müsst Ihr auf einer größeren Bühne stehen«, sagte Jinpa. »Der Avatar schlägt Wellen in der Welt, ob er will oder nicht.«
»Ist das so eine Redensart bei deinen mysteriösen Freunden, von denen du mir nichts erzählst?«
Angesichts ihres ungeschickten Versuchs, das Thema zu wechseln, zuckte er nur mit den Schultern. Auch das frustrierte sie an Jinpa: Anders als Kirima oder Wong ließ er sich nicht auf irgendwelche Wortgefechte mit ihr ein. Er hatte zu viel Respekt vor ihr – ein Problem, das ihre alten Gefährten nicht gekannt hatten, selbst dann nicht, als sie erfahren hatten, dass sie der Avatar war.
Sie fragte sich, was geschehen würde, wenn der Mönch jemals die übrig gebliebenen Mitglieder der Fliegenden Operngesellschaft kennenlernte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er ihnen seine Hilfe anbieten würde, um ihrem Daofei-Leben zu entkommen. Und im Gegenzug würden sie wahrscheinlich versuchen, ihm seinen Bison zu klauen.
Nur eines würde sie dazu bewegen können, mit den Weisen zu sprechen. »Es steht aber in keinem Brief irgendwas über …«
»Meister Yun? Leider nicht. Er bleibt weiterhin verschollen.«
Kyoshi ließ ihren Atem langsam durch die Zähne entweichen. Während der Zeit, als die Welt noch geglaubt hatte, Yun wäre der Avatar, hatte er einen großen Aufwand betrieben, mit der Elite des Erdkönigreichs zu verhandeln. Was bedeutete, dass nur sie sein Gesicht kannten. Einen Mann irgendwo im Erdkönigreich aufzuspüren, wenn niemand wusste, wie er aussah, und ihnen einen Hinweis geben konnte, war so, als versuchten sie, in einer Kiesgrube einen bestimmten Kiesel zu finden. »Dann sollten wir die ausgesetzte Belohnung noch einmal erhöhen.«
»Ich weiß nicht, ob das was bringt«, entgegnete Jinpa. »Die prominenten Persönlichkeiten des Erdkönigreichs haben einen großen Gesichtsverlust hinnehmen müssen, weil sie Meister Yun fälschlicherweise als Avatar eingestuft haben. An ihrer Stelle würde ich gar nicht wollen, dass er wieder auftaucht. Ich würde so tun, als wäre das alles nie passiert. Ich hab gehört, Lu Beifong würde niemandem in seinem Haushalt, nicht einmal Gästen, erlauben, von Jianzhu oder seinem Schüler zu sprechen.«
Für einen Luftnomaden bekam Jinpa erstaunlich viel politischen Klatsch zu hören, aber gewöhnlich stimmten seine Beobachtungen. Lu – wie ein verfluchter Dorn im Auge. Als Jianzhus Unterstützer trug er in Kyoshis Augen ebenso viel Schuld an dem Fehler, wies aber nach wie vor alle Verantwortung von sich.
Sie hatte Lu Beifong persönlich gebeten, Yun zu finden, in der Erwartung, der alte Mann würde wenigstens einen Hauch großväterlicher Verbundenheit zeigen. Stattdessen hatte er nur kaltherzig auf den Brief hingewiesen, den er wie zahllose andere Weise im ganzen Erdkönigreich bekommen hatte. In diesem Brief stand, Kyoshi sei der Avatar – und dass Yun tot sei. Lu hatte sich zwischen den letzten Worten Jianzhus und Kyoshis wirrem Bericht vom Vorfall in Qinchao entscheiden müssen und hatte sich das ausgesucht, was am bequemsten für ihn war. Was ihn anging, hatte sich der Skandal erledigt. Ein Sieg des neutralen Jing.
Jinpa schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Es verlangt ja niemand, dass Ihr die Suche nach dem falschen Avatar aufgebt, aber vielleicht …«
»Nenn ihn nicht so!«
Ihre Rüge hallte im Zimmer wider. Sie musste nur daran denken, wie leicht alle Yun aufgegeben hatten, erst Jianzhu, dann Lu und der Rest des Erdkönigreichs, und sofort stieg frischer Zorn in ihr hoch. Jinpa wich ihrem Blick aus und senkte den Kopf. Während sie betreten schwiegen, wippte er nervös mit dem Fuß. Sie brauchte keine Bändigerfähigkeiten, um das Beben im Boden zu spüren.
»Ich werde jedem wichtigen Passkontrollpunkt Meister Yuns Beschreibung zukommen lassen«, sagte er schließlich. »Deren Arbeit besteht darin, Namen und Gesichter abzugleichen. Die gucken genauer hin als der durchschnittliche Beobachter.«
Das war eine gute Idee. Besser als alle, die ihr bisher gekommen waren. Nun tat es ihr doppelt leid, dass sie die Beherrschung verloren hatte. Sie musste sich für ihren Ausbruch entschuldigen, musste aufhören, solche Ausbrüche zu haben, wenn sich die Distanz zwischen Jinpa und ihr jemals verringern sollte.
Sie fürchtete sich jedoch vor dem, was Freundschaft mit sich brachte. All ihre bisherigen Wegbegleiter hatte sie in Gefahr gebracht. Und sie konnte ihre Erinnerungen an einen gewissen Luftnomaden nicht abschütteln, an seine Witze, seine Wärme, sein Lächeln.
»Kümmere dich darum«, sagte Kyoshi knapp.
Jinpa nickte. Dann zögerte er, als müsste er sich überlegen, wie er seine nächsten Worte am besten formulieren sollte. »Ich habe nicht alle Briefe von heute geöffnet. Einen hat ein Sonderkurier gebracht.«
»Die Hälfte aller Briefe werden von irgendwelchen ›Sonderkurieren‹ gebracht«, erwiderte Kyoshi verächtlich. Solche Schreiben kamen immer schrecklich pompös daher, auf die Umschläge war in greller grüner Tinte Dringend oder Ausschließlich für den Avatar bestimmt gestempelt. Es waren die üblichen Tricks, mit denen die Erdweisen um ihre Aufmerksamkeit buhlten.
»Dieser ist aber wirklich etwas Besonderes.« Jinpa griff in seine Robe und zog eine Postrolle hervor, die er dort verstaut hatte.
Sie war rot.
Auf dem Verschluss der stabilen Metallröhre prangten goldene Flammen. Inmitten der farblosen, aber fürs Erdkönigreich typischen Einrichtung ihres Apartments wirkte die Rolle wie ein glühendes Kohlenstück in einem ausgetrockneten Wald. Eine Armee von Wachssiegeln hielt die Nähte zusammen.
Jinpa überreichte ihr die Rolle mit beiden Händen, als handele es sich um ein wertvolles Relikt. »Ich glaube, sie kommt von Feuerlord Zoryu persönlich.«
Es war das erste Mal, dass ein Staatsoberhaupt sie direkt anschrieb. Kyoshi war dem Feuerlord noch nie begegnet und er hatte ihr bisher auch noch keine Nachrichten geschrieben. Ihr bisher einziger Kontakt mit der Regierung der Feuernation hatte stattgefunden, als die Neuigkeit ihrer Avatarschaft die Runde gemacht hatte: Damals war ein Abgesandter nach Yokoya geschickt worden. Der gut gekleidete Minister hatte zugesehen, wie sie nacheinander ein Quäntchen jedes der vier Elemente heraufbeschworen hatte, und er hatte jedes Mal genickt und einen Vermerk in seine Notizen gekritzelt. Er hatte Kyoshi seine Ehre erwiesen, war höflich zum Abendessen geblieben und am nächsten Morgen gen Heimat aufgebrochen, um seinen Bericht abzuliefern. Sie hatte es sehr zu schätzen gewusst, wie wenig Kummer er ihr im Gegensatz zu ihren eigenen Landsleuten bereitet hatte.
Die Siegel zu brechen und die Hülle zu öffnen kam ihr vor, als würde sie ein historisches Artefakt beschädigen. Sie gab acht, dass die ursprüngliche Form des Wachses weitestgehend erhalten blieb, dann entrollte sie das Papier in der Hülle.
Das Schreiben kam direkt zum Punkt, entbehrte jeglicher Schnörkel, die Erdkönigreichsbeamte für nötig erachteten, um sich bei ihr einzuschmeicheln: Lord Zoryu brauche die Unterstützung des Avatars in einer national bedeutsamen Angelegenheit. Wenn sie als sein Ehrengast in den Königspalast kommen und am Szeto-Fest teilnehmen würde, einem wichtigen Feiertag der Feuerinseln, dann könne er ihr alles Weitere persönlich erklären.
»Und was steht drin?«, fragte Jinpa.
»Es ist eine Einladung, die Feuernation zu besuchen.« Ein Debüt auf der Weltbühne. Sie schluckte die Nervosität herunter, die ihr plötzlich die Kehle zuschnürte.
Jinpa sah, dass sie zögerte, und legte flehentlich die Hände zusammen. »Genau hiervon spreche ich, Avatar. Die Vier Nationen werden es nicht zulassen, dass Ihr für immer das Licht der Öffentlichkeit scheut. Bitte sagt nicht, dass Ihr ausgerechnet den Feuerlord brüskieren wollt.«
Kyoshi grübelte. Sie bezweifelte, dass der Herrscher der Feuernation leichtfertig um ihre Hilfe bitten und ihre Zeit verschwenden würde. Und die Scherereien mit ihrem eigenen Volk sorgten dafür, dass sie nervlich ziemlich am Ende war. Ein Tapetenwechsel wäre vielleicht genau das Richtige.
»Und es ist ein Festtag«, fügte Jinpa hinzu. »Ihr könntet sogar Spaß haben. Ihr dürft nämlich gelegentlich Spaß haben!«
Man konnte sich darauf verlassen, dass ein Luftnomade auf Spaß als letztes Argument zurückgreifen würde. »Du kannst dem Feuerlord schreiben, dass ich mich geehrt fühle und die Einladung gern annehme«, sagte sie. »Morgen fangen wir mit der Reiseplanung an. Für heute hab ich genug von Geschäftsdingen, glaub ich.«
Jinpa verbeugte sich feierlich und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie froh er war, dass sich der Avatar endlich seiner Verantwortung stellte. »Niemand hat Ruhe nötiger als der Avatar.« Er verließ das Zimmer und ging zu dem Büro, das sie am Ende des Flurs eingerichtet hatten.
Wieder allein, betrachtete Kyoshi schweigend das cremefarbene Papier. Den Teil des Briefs, der für sie den Ausschlag gegeben hatte, die Einladung anzunehmen, hatte sie Jinpa verschwiegen.
Es war eine besondere Neuigkeit, ganz am Ende der Botschaft des Feuerlords. Die frühere Schulleiterin der Königlichen Akademie war endlich heimgekehrt, nach langer Genesung in Agna Qel’a, der Hauptstadt des Nördlichen Wasserstamms –, und zwar in Begleitung ihrer Tochter. Vielleicht würde der Avatar die beiden ja gern treffen, da sie miteinander in Yokoya Umgang gepflegt hatten? Die beiden würden sie jedenfalls gern wiedersehen.
Umgang gepflegt. Kyoshi hatte nicht gewusst, dass man so erleichtert und zugleich so verzweifelt sein konnte. Sie war noch nicht einmal in der Feuernation und sah schon vor sich, wer dort auf sie warten würde, jenes wilde Feuer schierer Hitze und Streitlust. In der Finsternis ihrer Erschöpfung sah sie von fern her ein Licht, das nach ihr rief.
Rangi.
Sorgfältig faltete Kyoshi den Brief zusammen und steckte ihn in ihre Robe, dorthin, wo ihr Herz vor Aufregung pochte. So sehr sich ihr Sekretär auch wünschen mochte, dass sie Ruhe bekam: Heute Nacht würde sie kaum ein Auge zutun.