Читать книгу Avatar - Der Herr der Elemente: Der Schatten von Kyoshi - F.C. Yee - Страница 15
KULTURDIPLOMATIE
ОглавлениеKYOSHI VERGAß SCHLAGARTIG, warum sie eigentlich hier war. Wo sie war. Wo oben und unten war. Rangi küsste all ihre Erinnerungen fort. Sie verschmolzen miteinander, bildeten eine Legierung.
Und dann brach Rangi den Kuss ab und trat einen Schritt zurück – womit sie aus Kyoshis Sicht ungeheure Grausamkeit an den Tag legte. »Willkommen in der Feuernation, Avatar«, sagte sie, wieder ganz professionell. Sie glättete eine Haarsträhne, die verrutscht war, verhielt sich aber sonst so, als hätte sie Kyoshi nicht gerade allein mit ihren Lippen um den Verstand gebracht.
Der Avatar taumelte noch immer, war zu benommen, um zu antworten. »Herrin Rangi, sagte Jinpa und lief flink um Kyoshi herum, um ihre Gastgeberin zu begrüßen. Auf Luftnomadenart legte er die Handflächen zusammen und verbeugte sich vor ihr. »Schön, Euch endlich persönlich kennenzulernen.«
Kyoshi wurde unwillkürlich rot. Jinpa wusste, wer Rangi war, aber sie war nicht sonderlich begeistert, dass ihr Sekretär einen solch intimen Moment mitbekam. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was er später in seine Notizen schreiben würde: Tag eins von Kyoshis erstem Besuch der Feuernation, würde er für die Nachwelt festhalten. Avatar Kyoshi küsst unangemessenerweise die Liebe ihres Lebens, auf der Schwelle zur sichersten Festung der Welt.
»Bruder Jinpa«, sagte Rangi so freundlich, wie sie es selten gegenüber jemandem war. »Ihr beehrt mich mit Eurer Anwesenheit. Ihr könnt den Bison ruhig am Tor lassen: Unsere Stallmeister wissen, wie man sich um die Reittiere jeder Nation kümmert.« Sie beugte sich vor und zwinkerte ihm zu. »Ich werde sie wissen lassen, dass ich ihnen das Leben zur Hölle mache, wenn sie Euren Gefährten schlecht behandeln.«
Jinpa lachte, bis er Kyoshis Blick auffing und begriff, dass das kein Scherz gewesen war. Das Lachen blieb ihm im Hals stecken. Er ging zurück und löste Yingyongs Zügel. »Sei ein guter Junge und bleib«, hörte Kyoshi ihn dem Bison ins Ohr flüstern, woraufhin das Tier kummervoll brummte. »Ja, ich weiß, sie ist Furcht einflößend. Mir passiert schon nichts.«
Sobald sie Yingyong in guten Händen wussten, gingen Kyoshi, Rangi und Jinpa den Tunnel entlang. Er war dafür entworfen, Menschen darin umzubringen. Die Wände waren mit Eisenplatten ausgekleidet, in die kleine Löcher gebohrt waren, durch die man Pfeile und Feuerstöße schießen konnte. Der Boden wirkte solide, allerdings schien sich darunter ein Hohlraum zu befinden, was wohl bedeutete, dass die Verteidiger sie mit einem Hebel plötzlich in die Tiefe stürzen lassen konnten.
Ein kurzes Husten echote durch den Gang, dann wurde es gewaltsam unterdrückt. Es stammte weder von Kyoshi noch von ihren Begleitern. Ihr Blick zuckte umher, glitt erneut über die Wände. Wenn hinter jedem Loch ein Soldat stand, dann schaute ihnen gerade ein ganzer Trupp dabei zu, wie sie vorbeigingen.
Kyoshi versuchte nervös, alles in diesem eisernen Schlund im Auge zu behalten, bis sie endlich auf der anderen Seite der Mauer auf einen gepflasterten Platz herauskamen. Das karge Grün des Gartens ließ keinerlei beruhigende Wirkung entstehen. Ein einzelner Minister erwartete sie. Er war in die rote und schwarze Seide der Zivilbehörden gekleidet und machte einen ganz und gar unglücklichen und verspannten Eindruck.
»Avatar Kyoshi«, sagte er. Er verbeugte sich tief und sein langer Schnurrbart hing schlaff herab. »Ich bin Kanzler Dairin, der oberste Palasthistoriker. In Feuerlord Zoryus Namen begrüße ich Euch in unserem Land.«
»Die Ehre ist ganz meinerseits, Kanzler«, erwiderte Kyoshi. »Wo ist der Feuerlord? In seiner Nachricht hieß es, wir hätten wichtige Angelegenheiten zu besprechen.«
Dairins Miene wirkte noch säuerlicher als zuvor. »Im Moment ist er … indisponiert. Ihr werdet Feuerlord Zoryu heute Abend kennenlernen.«
Eine derart brüske Begrüßung hatte Kyoshi nicht erwartet. Andererseits musste sie zugeben, dass gerade sie nicht das Recht hatte, jemanden für seinen Mangel an Diplomatie zu kritisieren.
Rangi schritt ein, um von der peinlichen Stille abzulenken. »Ich glaube, der erste Punkt auf der Agenda ist die Palasttour, Kanzler«, sagte sie. »Kyoshi hat mir ständig damit in den Ohren gelegen, dass sie unbedingt mehr von einem der führenden Avatargelehrten unserer Welt erfahren will.«
Ihre Schmeichelei wirkte, als würde man einem wütenden Kind ein Bonbon in den Mund stecken. Dairin konnte nicht zeigen, wie sehr er sich freute, ohne zu riskieren, albern auszusehen. »Natürlich«, sagte er und gab sich redlich Mühe, eine noch missmutigere Miene aufzusetzen. »Ich kann Euch versichern, die Führung ist sehr lang und umfassend. Hier entlang, bitte.«
Gemeinsam mit den anderen schritt Kyoshi feierlich durch die königlichen Korridore, wie es schon ihre Vorgänger seit der Vereinigung der Feuerinseln getan hatten. Die großen Hallen des Palastes waren völlig verwaist, was nur eine Möglichkeit zuließ: Die Dienerschaft beobachtete sie und ging ihnen aus dem Weg; Wachen und Bedienstete verschwanden hinter Ecken, um die Augen des Avatars nicht mit ihrer Anwesenheit zu beleidigen. Diesen Trick kannte Kyoshi sehr gut. Er erzeugte die Illusion von Ruhe und Abgeschiedenheit, obwohl es einer ganzen Armee an fleißigen Leuten bedurfte, um ein derart großes Anwesen in Schuss zu halten.
Während sie weitergingen und dabei so taten, als wären sie allein, wies Dairin sie auf Kästen aus klarem Kristall hin, in denen Schriftrollen mit Poesie und Leitsätzen lagen, die von diversen Feueravataren stammten. Kyoshi nickte, wie es sich gehörte, als er ihr in Nischen ausgestellte Juwelen und vergoldete Haarnadeln zeigte, die sie in früheren Leben getragen haben musste.
Kein einziges Spielzeug, stellte sie fest. Dafür viele Jians, Daos, Dolche mit Gravuren. Die Relikte jeder Nation besaßen ihre eigene Persönlichkeit und Feuer und Luft hätten nicht unterschiedlicher sein können.
Jinpa stellte Dairin allerlei Fragen und bat nach jeder Antwort wie ein eifriger Student um weitere Ausführungen. Die beiden gingen voraus und Kyoshi und Rangi fielen ein wenig hinter ihnen zurück. Jinpa zwinkerte Kyoshi über die Schulter verstohlen zu, um sie wissen zu lassen, dass er den beiden Bummlern absichtlich die Gelegenheit verschaffte, miteinander zu reden.
Kyoshi musste ihm unbedingt eine Gehaltserhöhung geben. Sie zahlte ihm zwar gar nichts – der Mönch diente dem Avatar aus einem selbst auferlegten Pflichtgefühl heraus –, aber eine Gehaltserhöhung hatte er trotzdem verdient. »Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Kyoshi Rangi im Flüsterton. Das letzte Mal, als sie Hei-Ran gesehen hatte, hatte ihr Leben am seidenen Faden gehangen.
»Gut genug, dass sie heute Abend mit dir sprechen will, auf deinem Empfang«, erwiderte Rangi ebenso leise.
Als wäre dieser Besuch nicht ohnehin schon nervenaufreibend genug. Gleichzeitig war sie unendlich froh zu hören, dass Hei-Ran wieder gesund war. Das erklärte auch, wie ungezwungen Rangi sich verhielt, wie es ihr gelang, einfach dort anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatten. »Und wer ist nun dieser Dairin?«, fragte Kyoshi. »Ich dachte, es gäbe in der Feuernation einen speziellen Minister, der für die Beziehungen zum Avatar zuständig ist.«
»Eigentlich ist das auch so. Ich weiß nicht, warum nur Dairin geschickt wurde, um dich zu begrüßen. Vielleicht hat Lord Zoryu irgendwelche Probleme mit seiner Dienerschaft, aber ich trau mich nicht zu fragen. Dank meiner Verbindung zu dir hab ich hier ein paar Privilegien, aber in Wirklichkeit bin ich im Palast nur eine Oberleutnantin.«
Kyoshi musste beinahe lachen. »Nur« eine Leutnantin, ein Rang, nach dem viele Erwachsene in der Feuernation vergeblich strebten. Rangis auf so beiläufige Weise überambitioniertes Wesen war eines der vielen kleinen Dinge, die Kyoshi an ihr vermisst hatte.
»Erzähl mir von deinem Sekretär.« Rangi machte eine Kopfbewegung in Jinpas Richtung.
Was gab es da zu erzählen? »Er ist in irgendeinem geheimen Pai-Sho-Klub und manchmal verhält er sich völlig anders als andere Luftnomaden. Ich werde noch nicht so recht schlau aus ihm. Aber er hat mir bisher gut …«
»Und nun gelangen wir zur Königlichen Porträtgalerie«, sagte Dairin laut und blieb abrupt stehen.
Kyoshi wäre um ein Haar mit ihm und Jinpa zusammengestoßen. Rangi konnte sie gerade noch an der Rückseite ihrer Tunika festhalten. Sie stellte sich vor, wie sich diese Neuigkeit in der Feuernation verbreitet hätte: Der Avatar hat seine gesamte Entourage beim Palastrundgang umgekegelt.
Der Kanzler hatte jedoch nicht bemerkt, dass er beinahe niedergetrampelt worden wäre. Voller Stolz blickte er an den Wänden empor. »Ich könnte Tage hier verbringen und würde es nicht müde«, seufzte er schwärmerisch.
Die Galerie hatte seine Verehrung durchaus verdient: Sie gehörte zu den beeindruckendsten von Menschenhand errichteten Werken, die sie bisher gesehen hatte. Gemälde der Feuerlords zierten die eine Seite, sie reichten vom Boden bis zur Decke und waren dreimal so groß wie ihre lebendigen Vorbilder. In rot-schwarzer Gewandung und von goldenem Glorienschein umgeben blickten die Herrscher der Feuernation wie ein Geschlecht von Riesen auf ihr Publikum herab.
Obwohl es ihr erster Besuch hier war, erkannte Kyoshi sofort, dass jedes Porträt Jahre an Arbeit gekostet haben musste, vielleicht sogar das Werk einer ganzen Künstlerlaufbahn war. Das Porträt des verstorbenen Feuerlords Chaeryu, das jüngste Werk der Galerie, war noch nicht vollendet. Vorzeichnungen im Hintergrund des Bildes, in der Nähe der Füße, warteten darauf, mit Goldeinlegearbeiten und Orangetönen gefüllt zu werden.
Rangi stupste sie an und zeigte zur anderen Seite der Galerie. Den Feuerlords gegenüber standen die Feueravatare, in entsprechender Größe und Pracht gemalt und ebenso atemberaubend in ihrer künstlerischen Herrlichkeit. Zwischen diesen Porträts gab es mehr Platz. Es kam grob ein Avatar auf vier Feuerlords und die Lücken waren nicht ganz ebenmäßig, was Kyoshi darauf schließen ließ, dass die Bildnisse ihrer Vorläufer eine Chronik abbildeten, die sich durch die Halle erstreckte.
Vor Avatar Szeto blieb die Besuchergruppe stehen. Auf dem Porträt trug er sein Markenzeichen: seinen hohen Ministerhut. Im Gegensatz zu den meisten anderen Figuren, Feuerlords wie Avataren, ließ er keinen Feuerball über seiner Handfläche schweben, sondern hielt einen Abakus empor, der ebenso liebevoll ausgearbeitet war wie all die abgebildeten Flammen oder Waffen, die seine Landsleute führten. Das Rechenwerkzeug war mit echten Perlen versehen und das Rechenergebnis zeigte eine Zahl, die Glück verheißen sollte.
In der anderen Hand hielt er einen Stempel: Der Künstler hatte sich die Freiheit genommen, ihn riesengroß zu machen. Es war unwahrscheinlich, dass der echte Stempel derart gigantisch oder aus solidem Zinnober gewesen war, wie es das Bild zeigte: Szeto hätte jedes Schriftstück, das er bewilligen wollte, von oben bis unten zugestempelt.
»Und hier haben wir den Namensgeber unseres Festes«, erklärte Dairin. »Diesem Mann verdankt die Feuernation unendlich viel.«
»Könnt Ihr mir mehr von Avatar Szeto erzählen?«, fragte Kyoshi. »Ich fürchte, ich weiß nicht so viel über ihn, wie ich sollte.«
Der Kanzler räusperte sich und setzte zu einem langen Vortrag an.
»Während Szetos Kindheit stand die Feuernation am Rande des Abgrunds: Sie wurde von Seuchen und Naturkatastrophen geplagt«, begann er. »Der Zorn der Geister war fürchterlich und Feuerlord Yosor war kaum in der Lage, der Spaltung des Landes entlang der alten Bruchlinien der Klans Einhalt zu gebieten.«
»Der Klans?«, fragte Kyoshi.
Dairin seufzte, als er begriff, dass er nun auch noch eine Förderstunde in Geschichte geben müssen würde. »Jedes Adelsgeschlecht der Feuernation stammt von einem der alten Kriegsherren ab, aus der Zeit, bevor das Land geeint war. Aus dieser Zeit besitzen die Geschlechter nach wie vor gewisse Rechte, etwa die Regierungsgewalt über ihre Heimatinseln und das Recht, Haustruppen zu unterhalten. Während Lord Yosors Regentschaft sandten die Klans ihre Krieger gegeneinander aus: Mit ihrem vergeblichen Ringen um Macht und Ressourcen verheerten sie das Land. Viele Historiker, ich selbst eingeschlossen, sind der Ansicht, dass die Feuerinseln ohne Szetos Intervention zersplittert und in ihrer Entwicklung weit zurückgeworfen worden wären – in die finstere Zeit von Toz dem Grausamen und der anderen Warlords der Voreinheitszeit, die so viel Leid über unser Volk gebracht haben.«
Kyoshi war überrascht, wie sehr diese Geschichte dem Aufstand der Gelbnacken ähnelte. Als jemand, der unter gewöhnlichen Leuten aufgewachsen war, hatte sie immer nur gehört, die Feuernation sei ein Vorbild für Harmonie und Effektivität, ein Kontrapunkt zum Gezanke in den politischen Kreisen des Erdkönigreichs. Allzu weit lag die Ära Szetos nicht zurück.
Für diesen Teil der Tour musste sie kein Interesse heucheln oder auf Jinpa bauen. »Was hat er getan, um die Ordnung wiederherzustellen?«, fragte sie.
»Er hat sich für eine Anstellung beworben«, sagte Dairin. »Er war der Avatar, daher wäre für all seine materiellen Bedürfnisse gesorgt gewesen und all seine Erlasse wären beherzigt worden; dennoch nahm Szeto einen Regierungsposten als Minister des Königshofs an und unterstand damit prinzipiell denselben Regeln und Vorschriften wie jeder andere Bürokrat. Er nahm seine Regierungsarbeit auf und saß an einem Schreibtisch. Überdies bestand er darauf, dass er allein aufgrund seiner Leistung befördert würde und seine Karriere nicht auf Kosten der Dienstälteren vorangetrieben wurde, nur weil er der Avatar war.«
»Und das hat geholfen?«, fragte Kyoshi ungläubig.
»Es hat sich als brillante Strategie erwiesen«, sagte Rangi. »Statt überall in der Nation von einer Notlage zur nächsten zu hetzen, konzentrierte er seine Anstrengungen auf einen einzigen zentralen Ort, von dem aus er seinen Einfluss allmählich ausweitete. Szeto war ein extrem fähiger Bürokrat, Buchhalter und Diplomat. Und da er für die königliche Familie arbeitete, gab es keinerlei Trennung zwischen der legalen und der spirituellen Autorität im Land. Seine Siege waren zugleich die Siege des Feuerlords.«
Dairin nickte, zufrieden, dass die Jugend von heute angemessen über die Vergangenheit der Nation unterrichtet wurde. »Sobald er zum Großen Ratgeber befördert worden war, sah sich Avatar Szeto in der Lage, die offenen Feindseligkeiten zwischen den rivalisierenden Adelshäusern zu beenden. Ein andauernder Frieden folgte, während er weiterhin mit Würde und Exzellenz dem Land diente.«
»Er hat der Wertminderung des Münzgeldes ein Ende gesetzt«, sagte Rangi. »Das hat die Wirtschaft im letzten Moment vor dem Zusammenbruch bewahrt.«
»Eine der Schriftrollen, an denen wir auf dem Weg hierher vorbeigekommen sind«, fügte Jinpa hinzu, »besagt, dass die ersten offiziellen Programme, die er aufgesetzt hat, dazu bestimmt waren, die Bauern in Zeiten der Hungersnot zu entlasten.«
»Und was am wichtigsten war: Er hat über alles ordentlich Protokoll geführt«, sagte Dairin. Wie aus einer Gewohnheit heraus wischte er sich mit dem Finger den Augenwinkel, als hätte es ihn in der Vergangenheit schon zu Tränen gerührt, über Szeto nachzusinnen, und er wollte nun auf Nummer sicher gehen. »Wahrlich, Avatar Szeto ist zu einem Ideal geworden, dem wir Beamten seither nacheifern, und er ist im Allgemeinen ein strahlendes Beispiel für die Werte der Feuernation: Effizienz, Präzision, Loyalität.«
Kyoshi blickte mit frischer Bewunderung zu dem mürrischen Mann mit dem langen Gesicht auf, zu dessen Ehren sie hier ein Fest feiern würden. Dieser Szeto, beziehungsweise diese Version ihrer selbst, gefiel ihr. Eine starke Arbeitsmoral und ein Händchen fürs Organisatorische waren Eigenschaften, für die sie Respekt empfand. Vielleicht hätte sie lieber versuchen sollen, mit ihm zu kommunizieren, statt sich so sehr auf Yangchen zu versteifen.
Dairin erlaubte ihnen gnädigerweise, sich alle Kunstwerke anzuschauen, die sie interessierten. Kyoshi kehrte noch einmal zum Porträt Lord Chaeryus zurück. Mehr über ihn zu wissen konnte ihr nur helfen, sich bei seinem Sohn, dem gegenwärtigen Feuerlord Zoryu, beliebt zu machen.
Sie versuchte, etwas von der Symbolik zu interpretieren. Chaeryus Thema schien die Pflanzenwelt zu sein. Sie sah gebündelte Reishalme, eine reiche Ernte. Es gab einen skizzierten Umriss, der noch ausgemalt werden musste, ein detailliertes Arrangement mit zwei Blumen in einer Vase: In dem Pflanzgefäß stellte eine große Steinkamelie eine kleinere Pfingstrose in den Schatten.
Das war seltsam. Kyoshi war mit den Grundlagen des Blumensteckens im Feuernationsstil vertraut und eine solch unausgewogene Aufteilung war eigentlich verpönt. Im echten Leben würde die größere Pflanze sämtliches Sonnenlicht bekommen und die kleinere würde eingehen.
»Kanzler«, sagte sie. »Darf ich Euch etwas zu diesen Blumen fragen?«
Bei dem Wort Blumen verkrampfte sich Dairin eigentümlicherweise und kam mit besorgter Miene zu ihr herübergeeilt. Er wartete gar nicht erst auf ihre Frage, sondern starrte fieberhaft die Vorzeichnung an, als erwartete er eine unerfreuliche Enthüllung.
Er brauchte etwas länger als Kyoshi, um die Umrisse zu erkennen, doch als es ihm schließlich gelang, war seine Reaktion unverkennbar: Der Kanzler wurde bleich, fing an zu zittern und Schweißperlen traten auf seine Nase.
»Sprecht abgesehen vom Feuerlord mit niemandem darüber«, wisperte Dairin ihr eindringlich zu.
»Moment mal, was?« Kyoshi hatte ihn deutlich gehört, verstand aber nicht, warum er sich so verhielt, als ginge es hier um Leben und Tod.
Der Kanzler klatschte so laut in die Hände, dass Rangi und Jinpa, die sich noch Gemälde anschauten, zusammenzuckten. »Die Führung ist vorbei!«, verkündete er. Sein Blick zuckte zum Eingang der Galerie hinüber, als würde er sich vor dem leeren Raum fürchten. »Avatar, bitte entschuldigt: Ich rede und rede, dabei seid Ihr bestimmt müde von der Reise. Ich werde Euch Eure Unterkünfte zeigen. Unverzüglich.«
Die Böden und Wände des Avatarsquartiers im Feuerpalast waren so überfrachtet mit Antiquitäten und Kunstwerken, dass es sich gut und gerne um ein kleines Museum hätte handeln können. Kyoshi konnte sich schon darauf freuen, die restliche Zeit ihres Besuches über Landschaftsgemälde in Scharlachtönen, zinnoberrote Skulpturen von sich putzenden Vögeln und aus karminrotem Garn gewobene Wandteppiche anzustarren. Alles war so überwältigend rot, dass es ihr schwerfiel, Entfernungen richtig abzuschätzen. Das Zimmer, in dem sie schlafen würde, kam ihr so groß vor wie die unterste Etage von Loongkau.
»Es ist, als würde man direkt in die Sonne gucken«, sagte Jinpa. Er presste sich die Handflächen auf die Augen und blinzelte.
»Selbst ich musste mich erst wieder an so viel Rot gewöhnen«, sagte Rangi. Sie setzte sich auf die Ecke von etwas, das für Kyoshi wie eine große Plattform aussah und leicht federte. Dieses scharlachrot bezogene Quadrat, groß genug, um darauf ein Lei Tai abzuhalten, musste das Bett sein. »Agna Qel’a ist genauso überwältigend, nur ist es dort das Eis. An den hellsten Stellen muss man eine Spezialbrille tragen, sonst wird man schneeblind.«
Als sie den Norden erwähnte, krampfte sich Kyoshis Magen zusammen. Es erinnerte sie daran, wie weit Rangi gereist war, damit die Heiler vom Wasserstamm die Vergiftung ihrer Mutter behandeln konnten. Zudem diente es als Warnung, dass sie als Avatar jederzeit abrupt gefordert sein könnte und mit einem Wimpernschlag keine Zeit mehr haben würde. Kyoshi war noch nicht am Nordpol gewesen und auch nicht zu Besuch gekommen, als Rangi sich dort aufgehalten hatte – sie konnte von Glück sagen, dass Rangi deshalb nicht wütend auf sie war.
Sie fragte sich, ob sie Dairins geheimnisvolles Verhalten in der Galerie ansprechen sollte, ließ es dann aber, weniger, um seinen Wunsch nachzukommen, sondern eher, weil Rangi und sie Wichtigeres zu besprechen hatten. Sie wandte sich Jinpa zu. »Kannst du uns eine Weile allein lassen?«, fragte sie und machte eine Geste zur Tür.
»Nicht so schnell«, sagte Rangi. »Bitte berichtet, Bruder Jinpa.«
Der Mönch trat vor wie ein Rekrut an seinem ersten Tag und begann zu berichten, ohne Kyoshi zu beachten. »Trotz meiner wiederholten Ermahnungen hat sie nicht ordentlich gegessen.«
»Hmm.« Rangi presste missbilligend die Lippen aufeinander. »Ja, sie ist manchmal störrisch.«
»Hey!«, sagte Kyoshi. »Hört auf, über mich zu reden, als wäre ich nicht da!«
Jinpa fuhr fort, allerlei Fälle von Fehlverhalten an den Fingern abzuzählen. »Sie kriegt kaum Schlaf. Nachts finde ich sie dann zusammengesunken über einem Buch, einer Karte oder einer Anleitung. Sie nimmt sich nicht genug Zeit, um sich von ihren Verletzungen zu erholen. Und sie besteht darauf, wahllos irgendwelchen Berichten von Gewaltausbrüchen überall im Erdkönigreich persönlich nachzugehen! Wisst Ihr eigentlich, wie schwer sie es mir macht, ihren Zeitplan zu verwalten?«
Kyoshi hatte sich angesichts des Besuchs vor allem Möglichen gefürchtet. Dieses Szenario hingegen, in dem ihr Sekretär und ihre Leibwächterin sich gegen sie verbündeten, hatte sie nicht vorhergesehen. »Habt ihr beide hinter meinem Rücken Nachrichten ausgetauscht?!«
»Nur das eine Mal«, sagte Rangi. »Als ich deine Einladung abgeschickt hab, hab ich auch ihm einen Brief geschrieben. Nur so konnte ich einen ehrlichen Lagebericht darüber bekommen, ob du gut auf dich achtgibst. Und das hast du ja offenbar nicht gemacht.«
»Hat sie nicht«, bestätigte Jinpa. »Ganz im Gegenteil. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie pickt sich absichtlich die gefährlichsten Situationen raus und stürzt sich hinein, ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit!«
»Gar nicht wahr!«
»Ach, dann bist du wohl aus Versehen mit dem Hals voran auf einen scharfen Gegenstand gestürzt?«, fragte Rangi und funkelte Kyoshi böse an. »Hast du gedacht, mir wären deine neuen Narben entgangen? Kommt mir ganz so vor, als würdest du meine Lieblingsstellen absichtlich kaputt machen.«
Dass er sich diese Last endlich mal von der Seele reden konnte, machte Jinpa ganz emotional. Er wischte sich die Augen. »Sie ist so anstrengend«, murmelte er in seine Faust und schniefte leise.
Rangi erhob sich vom Bett und tätschelte ihm den Rücken. »Ich weiß. Ich weiß, dass sie das ist. Sie ist unmöglich. Du hast dich heldenhaft um sie gekümmert und jetzt bin ich da, um dir zu helfen.«
»Ich bin der Avatar!«, rief Kyoshi, ein letzter verzweifelter Versuch, sich vor weiteren Vorwürfen zu schützen. »Nicht irgendein hilfloses Kind!«
Dabei stampfte sie mit dem Fuß auf und untergrub sich damit selbst. Rangi und Jinpa kniffen die Augen zusammen und tauschten einen vielsagenden Blick. Sind wir da auch sicher? Ich bin mir nicht so sicher.
Kyoshi tat der Kopf weh. Sie hatte viele Monate damit verbracht, dicke Schutzwälle um sich herum zu errichten, hatte sich im Königreich den Ruf erarbeitet und das Selbstbild entwickelt, dass mit ihr nicht zu spaßen sei. Nicht einmal eine Stunde hatte Rangi hier in der Feuernation gebraucht, um diese Mauern niederzureißen und Jinpa hereinzulassen.
Sein Grinsen zeigte ihr, dass dies seine Rache war, so herrlich wie ein guter Wein, den man bis zum richtigen Moment reifen lässt. So zahlte er es ihr heim, dass sie ihm so oft befohlen hatte, nicht über ihre Verletzungen zu sprechen, dass sie seine Ermahnungen, die Bücher wegzulegen und sich ein wenig auszuruhen, immer wieder in den Wind geschlagen hatte. Endlich wusste sie, was sie von dem jungen Mann zu halten hatte, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten und sich mit Anstand und Mitgefühl um sie gekümmert hatte.
Eine dreckige Petze war er. »So kannst du nicht über mich sprechen!«, fuhr sie ihn an. Dem Daofei-Kodex zufolge wurden Petzen mit Blitzen und Messern bestraft. »Ich bin deine Vorgesetzte!«
»Das mag ja sein, aber das Sagen hat offensichtlich sie.« Er neigte seinen kahlen Kopf in Rangis Richtung, augenscheinlich hocherfreut, dass er diese neue Methode gefunden hatte, den Avatar zu bändigen. »Wenn nur Quieken hilft, damit Ihr gesund bleibt, dann haut mich mit einer Feder und nennt mich ein Schweinehuhn.«
»Raus hier«, schnauzte Kyoshi ihn an.
Jinpa wechselte wieder einen Blick mit Rangi, während er rückwärts durch die Tür hinausging. Schaut nur, wie sie versucht, hart zu sein. So niedlich.
Und dann, plötzlich, waren Kyoshi und Rangi zum ersten Mal nach langer Zeit endlich allein. Es war, als hätte ein Geist ihr einen Wunsch gewährt, ehe sie bereit dafür war. Sie hatte das Gefühl, ihre Worte sorgsam wählen zu müssen, um ihn nicht zu vergeuden.
Rangi nahm ihr die Entscheidung ab. »Wie läuft alles im Herrenhaus?«, fragte sie ruhig. Sie hatte zusammen mit Kyoshi dort gelebt. Yokoya war auch ihr Zuhause gewesen, bis zu jener Nacht, in der sie mitten im Sturm geflohen waren.
»Es ist weniger los.« Das Anwesen war nicht mehr so voller Leben und Trubel wie zu Kyoshis Dienstzeit. Der größte Teil der Belegschaft hatte sofort gekündigt, nachdem die Ermittler des Erdkönigs den Vergiftungsfall abgeschlossen hatten. Kyoshi, die neue Herrin, hatte sie nicht ersetzt, da sie ohnehin keinen großen Haushalt führen wollte. Daher blieben die meisten Flure leer und die Gärten wurden vernachlässigt. Die Dörfler mieden das größtenteils verwaiste Haus und munkelten, es würde Pech bringen. »Tante Mui ist noch da und tut, was sie kann. Ich weiß nicht, warum sie noch nicht gegangen ist.«
»Na wegen dir!« Rangi blickte sie schmerzerfüllt und frustriert an, als hätte jemand in einer alten Wunde herumgestochert, die schon längst hätte verheilt sein sollen. »Sie will dir beistehen, Kyoshi.«
Sie schien mehr dazu sagen zu wollen, entschied sich jedoch dagegen. Sie mussten alle anderen Dinge ausräumen, um so viel Platz wie möglich zu schaffen, damit sie zu ihrem nächsten Thema gelangen konnten. Eine Zeit lang starrten sie beide dieselbe Ansammlung blutroter Fäden an, die in den Teppich eingewebt worden waren.
Wieder einmal ergriff Rangi zuerst das Wort. »Und Yun?«
Sie erinnerte sich gut an eins der Versprechen, die sie Rangi damals gegeben hatte, bevor sie an Bord des Schiffes gegangen war, das sie in den eisigen Norden bringen würde: Was es auch kosten möge, sie würde ihren gemeinsamen Freund finden. Diesen Schwur hatte sie irgendwie zwischen all den Tränen und festen Umarmungen untergebracht, von denen ihre Schultern noch Tage später geschmerzt hatten. Die Hafenarbeiter und Matrosen auf dem Pier, die murrend einen Bogen um sie hatten schlagen müssen, weil beide nur noch aneinander gedacht hatten, waren ihre einzigen Zeugen gewesen.
Doch in den Weiten des Erdkönigreichs hatte sich die Kraft ihres Schwurs alsbald verflüchtigt. Schnell hatte sie begriffen, dass es tatsächlich unmöglich war, jemanden ohne jeden Ansatzpunkt auf dem größten Kontinent der ganzen Welt zu finden – nicht einmal, wenn die Person so berühmt war wie Yun. Sie hatte keinen Shirshu, um seine Witterung aufzunehmen, keine spirituellen Trigramme, mit denen sie seinen Aufenthaltsort hätte bestimmen können. In den Dörfern, durch die sie wegen ihrer Avatarpflichten kam, die einfachen Leute zu fragen, ob sie einen gewissen Erdbändiger gesehen hatten, war lachhaft. Eine graue Hand hat er? Kenn ich, mein Cousin hat auch solche Hautprobleme.
Rückblickend war von ihren großartigen Absichten nicht mehr übrig geblieben, als ihre kurzen Briefe an Weise zu schreiben, denen nicht mal in den Sinn kam, ihr zu helfen. Warum sollten sie auch? Nicht nur Lu Beifong zog es vor zu glauben, dass Yun tot war.
»Ich dachte, wenn ich rauskriege, wie er überlebt hat, finde ich vielleicht einen Hinweis«, sagte Kyoshi. »Aber ich hab nur Dokumente zu Volkserzählungen gefunden, in denen berichtet wurde, dass Menschen in körperlicher Form von Geistern verschleppt wurden, und keiner von ihnen hat überlebt. Ich hab keine Erklärung dafür, wie er zurückkommen konnte.« Oder warum er sich verändert hat.
Sie rieb sich die Augen. Es schmerzte sie so sehr, ihr Scheitern noch einmal zu durchleben, dass sie kaum geradeaus schauen konnte. »Am nächsten dran war noch die Erzählung über den Sohn eines Provinzstatthalters während der Hao-Dynastie. Er war von einem Geist besessen. Seinem Bericht nach ist ein Drachenvogel durch seinen Körper geflogen, hat sein körperliches Erscheinungsbild verändert und ihm ungewöhnliche Fähigkeiten verliehen.«
»Ist das die Lösung?«, fragte Rangi. »Vielleicht fällt es Menschen, die von Geistern berührt worden sind, leichter als anderen, die Grenze zwischen der Geisterwelt und dem Reich der Menschen zu überschreiten.«
»Schwer zu sagen. Der Text hat von keinem Übertritt zwischen den Welten berichtet. Es heißt nur, dem Jungen wären Federn und ein Schnabel gewachsen, als der Drachenvogel in seinen Körper gefahren ist. Äußerlich hat Yun nicht anders ausgesehen als damals in Qinchao. Aber er ist nicht mehr derselbe. Das weiß ich einfach.«
Kyoshi war in ihrem roten Gemach nach Schreien zumute. Mehr hatte sie nicht zusammenkratzen können, um ihren Freund aufzuspüren: eine alte Geschichte und eine wilde Vermutung. Rangi konnte sie nichts vormachen. Das ganze Gewicht ihrer vergeblichen, vergeudeten Bemühungen lastete auf ihren Schultern.
»Kyoshi … hast du je in Erwägung gezogen, dass er sich abgewandt haben könnte?«
Sie schaute bei Rangis Frage verwirrt auf. »Wovon?«
»Von uns.« Rangi schluckte, es schien sie zu schmerzen, die Worte auszusprechen. »Nach allem, was du mir erzählt hast, glaube ich, er will gar nicht gefunden werden.«
Als Kyoshi protestieren wollte, hob Rangi die Hand. »Denk mal drüber nach. Er hätte auf so viele Arten mit dem Avatar in Kontakt treten können. Er kennt die Weisen des Erdkönigreichs. Er hätte ihnen eine Nachricht hinterlassen können. Dass du nichts von ihm gehört hast, spricht Bände.«
Kyoshi konnte glauben, dass die Adligen des Erdkönigreichs, was Yun betraf, lieber ihre Köpfe in den Sand steckten. Aber Rangi? Wie konnte sie nur?
»Du meinst also, dass wir ihn vergessen sollen«, sagte Kyoshi. Sie spürte, wie ihr die Brust eng wurde. »Ihn aus unserem Gedächtnis zu tilgen, wie Lu Beifong und der Rest der Weisen es wollen.« Wie Jianzhu es wollte.
»Nein, Kyoshi, das meine ich nicht. Ich spreche davon, dass wir unserem Freund erlauben sollten, zu uns zurückzukehren, weil er es will, nicht weil wir es fordern. Ich will, dass die Menschen, die mir was bedeuten, auch mal ihre Ruhe haben, statt ständig zwanghaft über andere nachzudenken.« Sie seufzte.
»Du hast gesagt, es wäre ihm gut gegangen, als du ihn gesehen hast«, fuhr Rangi fort. »Ich glaub, wir müssen uns über sein Überleben keine Gedanken machen. Jemand mit Yuns Talenten kommt überall im Erdkönigreich blendend zurecht. Ich würde meine Ehre dafür verwetten, dass er auftaucht, sobald er bereit ist. Und wenn’s so weit ist, dann nehmen wir ihn für alles, was passiert ist, ins Gebet.
Und danach«, verkündete sie mit der Kraft eines frischen Schwurs, »kehren wir drei gemeinsam nach Yokoya zurück und lassen uns von Tante Mui das größte Abendessen kochen, das wir je gegessen haben. So sollte unser Plan aussehen.«
Kyoshi rang sich ein Lächeln ab. Jianzhu. Das Teehaus in Qinchao. Wie Yun dem Griff jenes infernalischen Geistes entkommen und ins Tageslicht zurückgekehrt war. Vielleicht wäre es möglich, den Knoten zu lösen – vorausgesetzt, dass sie es immer noch mit ihrem alten Freund zu tun hatten.
Alle drei vereint, so wie damals, bevor die Avatarschaft eine Ecke des Dreiecks abgetrennt hatte. Sie wollte jene alte Zeit wiederhaben, mehr als alles andere auf der Welt. Doch im Innersten fürchtete sie sich vor der Wahrheit, die die Welt ihr immer wieder aufzwingen wollte: Kyoshi bekam selten, was sie wollte, wenn überhaupt jemals.
Rangi sah, dass sie nicht zu ihr durchdrang. Sie beschloss, etwas anderes zu versuchen, und näherte sich, wobei sie die Hüfte betont hin und her schwingen ließ. »Weißt du, bis zur Feier sind’s noch ein paar Stunden«, hauchte sie mit glühender Stimme. Sie streckte den Arm aus und fuhr mit Daumen und Zeigefinger sanft über den Aufschlag von Kyoshis Waffenrock. »Ich hab eine Idee, wie ich dich bis dahin auf andere Gedanken bringen kann.«
Ein dummes Grinsen breitete sich auf Kyoshis Gesicht aus. Sie beugte sich hinunter, bis sie an ihrem Ohr Rangis Lippen spürte.
»Stand-Training«, flüsterte Rangi. Plötzlich hatte sie Kyoshi fest an den Kleidern gepackt. Mit einer raschen Bewegung trat sie Kyoshis Füße auseinander, bog ihre Knie mit Gewalt durch und zwang sie in einen tiefen Stand.
»Weißt du, wie leicht es war, dich am Tor aus dem Gleichgewicht zu bringen?!«, schrie Rangi. »Du hast nicht geübt! Ich dachte, ich könnte darauf bauen, dass du in meiner Abwesenheit nicht verweichlichst, aber da hab ich mich wohl geirrt!«
Kyoshi stotterte bestürzt: »Aber … ich dachte, wir …«
»Was wir tun, wenn niemand zusieht, bestimmt, wer wir sind!« Rangi schien entschlossen, ihr die verpassten Trainingsmonate aus dem Leib zu prügeln, so oder so. »Zwanzig Minuten ohne Pause, sonst landest du wieder bei null, was dein Training angeht! Dann kannst du zusammen mit irgendwelchen zehnjährigen Versagern von der Akademie Feuerkniebeugen machen. Willst du das? Na?«
Als sich das Brennen in ihren Beinen und in ihrem unteren Rücken auszubreiten begann, begriff Kyoshi, dass es ein Fehler gewesen war herzukommen. Wieder mit Rangi vereint zu sein bedeutete, dem grausamsten und strengsten Menschen, den sie kannte, ausgeliefert zu sein: dem Feuerbändigungs-Sifu des Avatars.
»Tiefer!«, brüllte Rangi.