Читать книгу Avatar - Der Herr der Elemente: Der Schatten von Kyoshi - F.C. Yee - Страница 8
UNERLEDIGTE GESCHÄFTE
ОглавлениеBRUDER PO hatte Kuji einmal erzählt, der Spitzname des Dao sei »Mut aller Männer«: Nahm man das robuste Schwert in die Hand, mit dem sich der Feind hingebungsvoll niedermetzeln ließ, fühlte man sich sogleich tapferer.
Kuji fühlte sich jedoch keineswegs tapferer, als er mit klammen Fingern das Heft seines Dao umklammert hielt und die Tür bewachte. Zudem kam ihm die Klinge auch nicht sonderlich robust vor. Es war ein rostiges, abgestoßenes Exemplar, das so aussah, als würde es zerspringen, wenn er allzu kräftig damit in der Luft herumfuchtelte. Als jüngstes Mitglied der Triade der Goldenen Schwinge musste er am Ende der Schlange warten, wenn die Waffen ausgehändigt wurden. Dieses Schwert stammte vom Boden der Kiste.
»Jetzt bist du ’n richtiger Soldat, was?«, hatte jemand gewitzelt, als man ihm das Schwert in die Hand gedrückt hatte. »Nicht wie wir Mordgesellen.«
Bruder Po stand mit seiner kleinen Axt in der Hand an der Tür. Es war die Lieblingswaffe der meisten gestandenen Kämpfer der Triade. Nach außen hin wirkte er ruhig, doch Kuji konnte sehen, wie sein Kehlkopf beim Schlucken auf und ab hüpfte, wie er es immer tat, wenn er beim Pai-Sho einen riskanten Zug spielen wollte.
Wenn irgendetwas Kuji Sicherheit gab, dann war es das Revier seiner Bande: Loongkau war praktisch eine Festung. Auf den ersten Blick sah der Häuserblock nicht anders aus als die Nachbardistrikte in Ba Sing Ses Unterem Ring. Der sichtbare Teil wuchs planlos wie ein Pilz ein paar Stockwerke in die Höhe. Er trotzte der Schwerkraft und spottete jeder vernünftigen Architektur.
Es war jedoch ein offenes Geheimnis, dass der Komplex sich illegalerweise Ebene um Ebene tief in die Erde hinein fortpflanzte. Immer neue Untergeschosse waren gegraben worden, ohne dass dem Ganzen ein solider Plan oder ein Verständnis für Sicherheit zugrunde gelegen hätte. Alles wurde nur behelfsmäßig durch Holzreste, Lehmziegel und zusammengeklaubte, rostige Metallstücke abgestützt. Dennoch bestand Loongkau nach wie vor und war noch nicht in sich zusammengebrochen, was das Wirken der Geister sein mochte.
Das Innere des Komplexes bestand aus gewundenen Gängen, verschachtelten Räumen, Treppen und leeren Schächten. Armselige Kammern, die den Bewohnern als Behausungen dienten, saßen hier dicht an dicht wie Waben in einem Bienenstock und ließen nur Platz für enge Gassen. Loongkau war voller Fallen, so auch das Zimmer, in dem Kuji und Po warteten. Das war einer der Gründe, warum sich die Gesetzeshüter der Stadt nie an diesen Ort wagten.
Bis jetzt. Der Boss hatte einen Hinweis bekommen, dass die Festung der Goldenen Schwinge genau heute angegriffen werden würde. Jeder Bruder hatte Posten zu beziehen, bis die Bedrohung abgewehrt war. Kuji wusste nicht, was für ein Feind die Ältesten so in Aufregung versetzt haben vermochte. Um Loongkau zu belagern, schätzte er, wären mehr Polizisten nötig, als der Untere Ring zur Verfügung hatte.
Der Plan war dennoch solide. Wenn Eindringlinge in die unteren Etagen gelangen wollten, mussten sie einer nach dem anderen durch einen Engpass, der an diesem Zimmer vorbeiführte. So konnten sich Kuji und Ning jeden von ihnen einzeln vorknöpfen.
Es war zudem unwahrscheinlich, dass sie in einen Kampf geraten würden – zumindest redete Kuji sich das ein. Ein Stockwerk über ihnen schlich Halsabschneider Gong umher, der beste Attentäter, den der Boss hatte. Gong konnte einen Mungodrachen in seinem Versteck im Dschungel aufspüren und töten. Mit all den Köpfen, die er schon abgeschlagen hatte, hätte er eine ganze Scheune füllen können …
Im Stockwerk über ihm knallte etwas. Eine Stimme war nicht zu hören. Das kleine Zimmer fühlte sich plötzlich weniger wie ihr Revier und mehr wie ein Verschlag an, in dem sie wie eingepferchte Tiere festsaßen. Po gestikulierte mit seinem Beil. »Wir werden hören, wenn sie die Treppe runterkommen«, flüsterte er. »Dann schlagen wir zu.«
Kuji neigte seinen Kopf in die Richtung und lauschte angestrengt. Er wollte unbedingt mitbekommen, wenn sich jemand näherte, also lehnte er sich vor – und verlor prompt das Gleichgewicht, sodass er stolperte. Po verdrehte die Augen. »Du bist zu laut«, zischte er.
Wie um ihm Recht zu geben, flog plötzlich die Tür aus den Angeln, und jemand kam hereingeschossen und prallte mit Kuji zusammen. Der kreischte und fuchtelte mit seinem Dao, traf den Angreifer jedoch nur mit dem Knauf am Kopf. Po schnappte sich den Kerl und holte mit dem Beil aus, doch im letzten Moment hielt er inne.
Es war Halsabschneider Gong. Er war bewusstlos und blutete. Seine Handgelenke waren in die falsche Richtung verbogen und seine Knöchel waren mit seinem eigenen Würgedraht zusammengeschnürt. »Bruder Gong!«, rief Po und vergaß dabei selbst, leise zu sein. »Was ist passiert?«
Ein Krachen ertönte – nicht vom Flur her, den sie bewachen sollten, sondern von der gegenüberliegenden Wand. Zwei Arme mit Panzerhandschuhen an den Händen waren dort durch die Backsteine gebrochen und hatten sich in einem Würgegriff um Pos Hals gelegt. Kuji sah, wie seine Augen weiß vor Angst wurden, dann wurde Po mitten durch die Wand aus dem Zimmer gezerrt.
Kuji starrte ungläubig und wie betäubt das Loch an. Po war ein großer Mann, doch innerhalb eines Wimpernschlags war er fort gewesen, als wäre er einem Rabenadler zum Opfer gefallen. Hinter dem Loch, durch das er verschwunden war, war nichts als Finsternis.
Draußen knarrten die Dielen, als jemand darüber hinwegschritt, als wäre völlige Stille ein Mantel, den der Feind nach Belieben anlegen und abwerfen konnte. Tritte schwerer Stiefel kamen näher und näher.
Etwas schob sich durch den Türrahmen, sodass vom schwachen Licht des Flurs fast nichts mehr zu sehen war: Eine große, unglaublich große Gestalt trat herein. Eine schmale Spur aus Blut zog sich quer über ihre Kehle, als wäre ihr der Kopf abgeschlagen und wieder festgeklebt worden. Unter der Wunde bauschte sich ein Gewand aus grüner Seide. Das Gesicht war eine weiße Maske, die Augen nichts weiter als rote Striche – wie die eines Ungeheuers.
Zitternd hob Kuji sein Schwert. Er bewegte sich so langsam, als würde er durch Schlamm schwimmen. Das Wesen sah zu, wie er sein Schwert schwang, den Blick auf die Klinge geheftet, und irgendwie wusste Kuji, dass es ihn ohne Schwierigkeiten würde abwehren können. Wenn es denn wollte.
Die Klinge des Dao grub sich in die Schulter seines Gegners. Ein metallenes Knacken erklang, dann fuhr ein jäher Schmerz in Kujis Wange. Das Schwert war zerbrochen und die Spitze war zurückgeprallt und hatte ihn im Gesicht getroffen.
Das war ein Geist, musste einer sein. Einer, der durch Wände gehen und über Böden schweben konnte, eine Bestie, der man mit Klingen nichts anhaben konnte. Kuji ließ den Griff seines nutzlosen Schwertes fallen. Seine Mutter hatte ihm einmal erzählt, man könne sich gegen das Böse schützen, indem man den Avatar anrief. Schon als Kind hatte er gewusst, dass sie sich das nur ausgedacht hatte. Aber das hieß ja nicht, dass er sich nicht in diesem Augenblick entscheiden könnte, daran zu glauben.
»Der Avatar behüte mich«, flüsterte er, solange er noch sprechen konnte. Er fiel auf den Hintern und krabbelte rückwärts in die Zimmerecke. Der Schatten des Geistes bedeckte ihn vollständig. »Yangchen, behüte mich!«
Die Geisterfrau folgte ihm und senkte ihr rot-weißes Gesicht zu seinem herab. Ein Mensch hätte sich sicher abfällig über Kuji geäußert, so wie er mit eingezogenem Kopf dort kauerte. Die kalte Missachtung in ihren Augen war jedoch schlimmer, als Mitleid oder sadistisches Belustigung es je hätten sein können.
»Yangchen ist gerade nicht hier«, sagte sie mit voller, gebieterischer Stimme. Ihr Klang hätte schön sein können, wäre die Gleichgültigkeit darüber, ob er lebte oder starb, nicht so deutlich darin zu hören gewesen. »Dafür bin ich hier.«
Kuji schluchzte auf, als sie sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger ihrer großen, kräftigen Hand packte. Ihr Griff war behutsam, ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass sie ihm ohne Mühe den Unterkiefer herausreißen könnte, wenn ihr danach verlangte. Die Frau hob sein Gesicht. »Und jetzt sag mir, wo ich deinen Boss finde.«
Kyoshis Hals juckte furchtbar. Die Garrotte war mit gemahlenem Glas überzogen gewesen, und obwohl sie keine tiefen Schnitte abbekommen hatte, reizten die winzigen scharfen Splitter noch immer ihre Haut. Recht geschah es ihr – wie nachlässig sie gewesen war! Der Drahtmann der Bande war zwar leise gewesen, aber keinesfalls so lautlos wie die Gesellschaft, in der sie sich während ihrer Daofei-Tage bewegt hatte.
Außerdem war sie ein Risiko eingegangen, den Jungen nicht ebenso auszuschalten, wie sie es mit seinen Älteren getan hatte. Aber er hatte sie an Lek erinnert: Wie er versucht hatte, mit seinem dummen Milchgesicht hart auszusehen, während man ihm ansehen konnte, wie sehr er nach der Anerkennung seiner eingeschworenen älteren Brüder lechzte. Sein purer, idiotischer Wagemut. Er war zu jung, um Mitglied einer Bande in den Slums von Ba Sing Se zu sein.
Heute keine Ausnahmen mehr, dachte sie, als sie über den rostenden Müll und die Trümmer hinwegstieg. Sie hatte noch immer die Gewohnheit, alle Gleichaltrigen als Jungen und Mädchen anzusehen. Diese Wortwahl machte sie weich, und das war gefährlich. Ihr würde bestimmt niemand Gnade erweisen, nur weil sie noch keine achtzehn war. Der Avatar konnte sich den Luxus, einfach ein Kind zu sein, nun mal nicht leisten.
Sie bahnte sich ihren Weg durch den Flur, der kaum breiter war als sie. Durch Risse in den Wänden fiel nur wenig Licht. Leuchtkristalle waren teuer und Kerzen ein Brandrisiko, daher war Licht in Loongkau Luxus. Die Rohre, die sich wie ein verschlungenes Netzwerk aus Wurzeln über ihr entlangzogen, waren an vielen Stellen undicht. Tropfen landeten auf ihrem vergoldeten Haarschmuck, den sie trotz der Enge trug. Sie hatte sich daran gewöhnt, die zusätzliche Höhe auszugleichen, und schließlich musste sie sich seit ihrer Kindheit ohnehin ständig bücken.
Der Gestank von Schweiß und trocknender Farbe waberte durch die Korridore, zeugte von den eingepferchten Verhältnissen, in denen die Leute hier hausten. Was ihr wohl erst auf den tieferen Ebenen für Gerüche in die Nase steigen würden? In diesem Block drängten sich mehr Menschen zusammen als in jedem anderen des Unteren Rings und nicht alle Einwohner waren Verbrecher.
Loongkau war ein Auffangbecken für die Ärmsten der Armen. Menschen, die sonst nirgendwo hingehen konnten, hockten hier zusammen und wendeten all ihren Fleiß auf, um sich als Müllsammler, Schwarzhändler (»Das ist vom Wagen gefallen!«), Ärzte ohne Zulassung oder schmierige Futterbudenbetreiber durchzuschlagen. Sie waren gewöhnliche Bürger des Erdkönigreichs, die versuchten, am Rande des Gesetzes über die Runden zu kommen. Im Großen und Ganzen also Kyoshis Leute.
Im Zwielicht dieses Baus fanden auch gewaltsamere Naturen ein Zuhause: Die Banden aus dem Unteren Ring wurden immer größer, je mehr Daofei zuströmten. Banditen, die ihr Territorium auf dem Land nicht mehr behaupten konnten, suchten Schutz in Ba Sing Se und anderen großen Städten. Sie mischten sich unters Volk und verbargen sich unter den einstmaligen Schutzsuchenden, die sie in vergangenen Jahren drangsaliert hatten.
Die gehörten nicht zu Kyoshis Leuten. Tatsächlich waren viele von ihnen vor ihr auf der Flucht. Da jedoch jedes Apartment ebenso gut verängstigte Anwohner beherbergen konnte, die nichts mit den Schurken, die sie jagte, zu tun hatten, hielt sie sich zurück. Wenn sie mit herkömmlichem Erdbändigen große Brocken aus ihrer Umgebung riss, könnte es zu gefährlichen Einstürzen kommen und Unschuldige könnten verletzt werden.
Sie verließ den Flur und gelangte in einen kleinen Marktbereich. Sie kam an einer Kammer voller Fässer vorbei, aus denen helle Farbe auf den Boden tropfte – eine Heimfärberei –, und an einem verlassenen Schlachterstand, in dem Schwärme von Ameisenfliegen surrten. In Jianzhus Arbeitszimmer hatte es Aufzeichnungen über die politische und wirtschaftliche Situation in Ba Sing Se gegeben und Kyoshi hatte auch eine kleine Anmerkung über die äußerst geschäftstüchtigen Bewohner dieses Wohnblocks gefunden. Kurioserweise besaß das Land, auf dem er erbaut war, wegen seiner günstigen Lage im Unteren Ring anscheinend sogar einigen Wert. Händler des Mittleren Rings hatten in der Vergangenheit versucht, den Komplex zu kaufen und die Anwohner zu vertreiben, doch wegen der Bedrohung, die von den Banden ausging, waren solche Projekte immer gescheitert.
Kyoshi hielt an einem Bottich voller verdorbenem Mangotrester an. Das war die Stelle. Sie bändigte sich einen kleinen Kreis aus Steinen und Schutt und stellte sich darauf. Dann verschränkte sie die Arme über der Brust und machte sich so schmal wie möglich.
Sie wollte gerade ihren Plan in die Tat umsetzen, da bemerkte sie ein winziges Objekt in der Ecke. Es war ein Spielzeug, eine Puppe, die aus den Resten des Kleides einer feinen Dame gefertigt war. Jemand hatte großen Aufwand betrieben, um seinem Kind eine Puppe aus Stoff zu nähen, der aus dem Oberen Ring stammte.
Kyoshi starrte sie an, bis sie blinzeln musste, dann rief sie sich in Erinnerung, weswegen sie hier war. Sie stampfte mit dem Fuß auf.
Ihre kleine Erdplattform, die nur durch ihr Bändigen zusammengehalten wurde, wurde so hart wie die Spitze eines Bohrers. Sie brach durch die Tonplatten und verrotteten Holzstreben und sank so rasch in die Tiefe, dass ihr Magen einen Satz machte. Sie gelangte ins nächste Stockwerk, dann ins nächste darunter, immer weiter hinab.
In Jianzhus taktischen Anleitungen hieß es, bei Kämpfen in beengten Verhältnissen gebe es die meisten Opfer an bestimmten Stellen wie Türen und Treppen. Kyoshi hatte beschlossen, diese Teile des Gebäudes auszulassen und sich ihren eigenen Weg zu bahnen. Sie zählte vierzehn Stockwerke – mehr, als sie geschätzt hatte –, dann krachte sie durch eine letzte Zimmerdecke und kam auf festem Erdboden auf. Der tiefste Punkt von Loongkau.
Kyoshi trat von ihrer Plattform, Staub und Reste vom Mauerwerk rieselte von ihren Armen. Sie blickte sich um. Hier gab es keine Wände, nur Stützpfeiler, die das große Gewicht der Stockwerke darüber hielten. Hier gibt’s ja sogar einen Ballsaal, dachte sie ironisch. Der leere Saal ähnelte den Empfangshallen reicher Adliger wie Lu Beifong. Im Avatarsanwesen in Yokoya gab es einen ähnlichen Raum.
Sie konnte bis zum Ende blicken, da leuchtende Kristalle in die Wände eingelassen waren. Es war, als hätte jemand sämtliches Licht des Gebäudes in diesem Raum gehortet. Es gab einen Schreibtisch, der wie eine hölzerne Insel in der Leere stand. Und hinter dem Schreibtisch saß ein Mann, den Kyoshi kannte und der seine Ambitionen offenbar noch immer nicht aufgegeben hatte.
»Hallo, Onkel Mok«, sagte Kyoshi. »Lange nicht gesehen, was?«
Mok, dem früheren zweiten Mann der Gelbnacken, traten vor Überraschung beinahe die Augen aus dem Kopf. Kyoshi war wie ein Fluch, den er nicht loswurde. »Du!«, fauchte er und sank ein wenig hinter seinem Schreibtisch zusammen, als ob ihn das imposante Möbelstück irgendwie beschützen könnte. »Was willst du hier?!«
»Ich hab Gerüchte gehört, dass sich ein neuer Boss in Loongkau eingenistet hat und die Beschreibung kam mir bekannt vor. Da wollte ich selbst mal nachsehen. Ich hab gehört, diese Gruppe bezeichnet sich jetzt selbst als Dreieck oder so? Hab ich das richtig verstanden? Irgendwas mit drei Seiten.« Kyoshi fand es schwer, den Überblick zu behalten. Die ganzen Daofei, die in die Städte strömten, trugen ihre hochtrabenden Gebräuche in die Welt der städtischen Kleinkriminellen hinein: ihre Geheimniskrämerei, ihre Traditionen.
»Die Triade der Goldenen Schwinge!«, schrie er, wutentbrannt über ihr Desinteresse am Zeremoniell seiner Bande. Aber Kyoshi scherte sich schon lange nicht mehr um die Gefühle von Männern wie Mok. Sollte er sich ruhig ordentlich aufregen.
Das Trommeln der Schritte wurde lauter. Die Männer auf den mittleren Etagen, die Kyoshi auf ihrem Weg nach unten umgegangen hatte, kamen nacheinander in den Raum geströmt und umzingelten sie. Sie reckten ihr Äxte, Hackmesser und Dolche entgegen. Als Moks Männer noch durchs Land gezogen waren, hatten sie ausgefallenere Kampfgeräte vorgezogen, doch hier in der Stadt hatten sie ihre Neun-Ringe-Schwerter und Meteorhämmer gegen schlichtere Waffen eingetauscht, die sich in einer Menschenmenge leichter verstecken ließen.
Mit der Verstärkung von mehr als zwei Dutzend Männern fühlte Mok sich sichtlich wohler und fragte in ruhigerem Tonfall: »Also, Mädchen, was willst du nun? Abgesehen davon, mal bei deinen Ältesten vorbeizuschauen?«
»Ich will, dass ihr alle eure Waffen niederlegt, das Grundstück räumt, freiwillig zum Gerichtshaus eines Magistrats marschiert und euch verurteilen lasst. Das nächste ist nur sieben Blöcke entfernt.«
Ein paar Schergen brachen in Gelächter aus. Einer von Moks Mundwinkeln hob sich. Kyoshi mochte der Avatar sein, aber sie war weit in der Unterzahl und in einem geschlossenen Raum gefangen. »Wir weigern uns«, sagte er und machte eine ausladende Handbewegung.
»Na schön. Wenn das so ist, hätte ich nur noch eine Frage.« Kyoshi blickte von einem zum anderen. »Gibt’s wirklich nicht mehr von euch?«
Die Triadenmitglieder warfen sich gegenseitig verwirrte Seitenblicke zu. Mok machte dicke Backen vor Wut und wurde rot wie eine Beere in der Sonne.
Sie wollte nicht unverschämt sein, es war reiner Pragmatismus. Ihr Sinn für Ordnung und Effizienz drang an die Oberfläche. »Sonst kann ich auch warten, bis alle da sind«, sagte sie. »Ich will nicht noch mal zurückgehen und jedes Stockwerk absuchen müssen.«
»Reißt sie in Stücke!«, kreischte Mok.
Die Mordgesellen drangen von allen Seiten auf sie ein. Sie zog einen ihrer Fächer. Beide wären etwas übertrieben gewesen.
Kyoshi trat über den Haufen stöhnender Triadenmitglieder hinweg. Immer wenn einer sich nicht regte, stupste sie ihn mit dem Schuh an, bis sie sah, dass er noch atmete.
Moks Robe, die über der Stuhllehne gehangen hatte, war während der Schlägerei heruntergefallen. Er hatte seinen Stuhl ein paar Handbreit nach hinten gerückt, um die Flucht zu ergreifen, da legte ihm Kyoshi die Hand auf die Schulter und drückte ihn wieder auf die Sitzfläche zurück.
»Bleib ruhig sitzen, Onkel«, sagte sie. Bei aller Feindschaft war er schließlich immer noch älter als sie.
Zorn und Furcht rangen in Mok um Vorherrschaft, das konnte Kyoshi bis in die Fingerspitzen spüren. »Jetzt willst du mich also kaltblütig ermorden, wie du’s mit Xu gemacht hast. Blitze und zahllose Messer sollen dich zerfetzen, weil du deine eingeschworenen Brüder erschlagen hast!«
Dass Mok sie eine Mörderin nannte, störte sie mehr, als sie erwartet hätte. Xu Ping An hatte sich auf ein Duell eingelassen und er hatte sofort versucht, sie umzubringen. Sobald sie die Oberhand gewonnen hatte, hatte sie ihm Gelegenheit zur Kapitulation gegeben. Aber der frühere Anführer der Gelbnacken hatte ihr deutlich gezeigt, dass es für ihn keine Rettung geben konnte.
Trotz alledem dachte sie in schlaflosen Nächten immer wieder an Xu. Ständig stahl sich der niederträchtige Mann in ihren Geist, wenn sie eigentlich von denen, die sie liebte, hätte träumen können. Ja, sie dachte viel über Xu nach: Wie schwer er sich in ihrem Griff angefühlt hatte und wie sie am Ende des Kampfes einen Entschluss gefasst hatte.
Kyoshi schüttelte den Kopf. »Beim Lei Tai ist alles erlaubt«, sagte sie. Ihr Handeln laut zu rechtfertigen war eine bittere, unwirksame Medizin, die sie sich dennoch zu schlucken zwang. »Ich werde dich nicht umbringen. Du und deine Männer habt hier hinter den Mauern überraschend schnell Fuß gefasst, wenn man bedenkt, dass ihr den größten Teil eurer Zeit damit verbracht habt, als Banditenbande auf dem Land die Bauern zu drangsalieren. Du hast einen Kontaktmann in Ba Sing Se – und ich will wissen, wer das ist.«
Mok straffte sich und presste die Lippen aufeinander. Wahre Daofei gaben der Obrigkeit gegenüber niemals Informationen preis, selbst dann nicht, wenn es ihnen Vorteile bringen würde. »Mädchen, der Tag, an dem du mich zum Singen bringst, ist der Tag, an dem ich … auaaa!«
Kyoshi packte mit den Fingern zu und erinnerte ihn auf diese Weise daran, dass sich die Dinge geändert hatten, seit sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Sie drückte auf die Nerven in seinem Arm, bis ihm klar wurde, wie ihre neue Beziehung zueinander aussah.
»Es war jemand aus dem Mittleren Ring!«, gestand Mok, sobald er aufgehört hatte, vor Schmerz zu quieken. »Wir haben nur über Mittelsmänner kommuniziert. Ich kenne seinen Namen nicht!«
Kyoshi ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. Sie hatte erwartet, er würde ihr einen Verbrecher aus dem Unteren Ring nennen, jemanden von hier, der ihm vielleicht früher die Bruderschaft geschworen hatte. Der Mittlere Ring war die Domäne der Händler und Akademiker. Irgendetwas passte hier nicht zusammen.
Mok umklammerte seine Schulter und zog sich hastig vom Schreibtisch zurück. »Wai!« rief er in Richtung der Tür hinter sich. »Jetzt!«
Kyoshi hatte sich ablenken lassen und den dritten großen Bruder der Gelbnacken vergessen. Die Tür flog auf und Kyoshi blieb keine Zeit zu reagieren.
Bruder Wai kam mit erhobenem Messer und gefletschten Zähnen auf sie zugesprungen. Den Lederriemen, den er sonst über dem Loch getragen hatte, wo einmal seine Nase gewesen war, hatte er abgelegt, was sein ausgemergeltes Gesicht umso mehr wie einen Totenschädel aussehen ließ. Schon damals bei den Gelbnacken war Wai ein schneller, bösartiger Mann gewesen, und daran hatte sich nichts geändert.
Als er allerdings erkannte, dass es sich bei dem Eindringling um Kyoshi handelte, mit Make-up und in voller Montur, da keuchte er und erstarrte mitten im Ansturm. Wai war einer der wenigen Augenzeugen gewesen, die sie im Avatarzustand gesehen hatten, und diese Erfahrung hatte den spirituellen Mann tief beeindruckt. Er trat zurück, um ihr mehr Raum zu geben, stieß dabei fast seinen Bruder um und fiel auf die Knie. Das Messer, das er gerade noch auf Kyoshi gerichtet hatte, legte er wie eine Opfergabe vor ihr nieder.
»Das ist doch nicht dein Ernst!«, schrie Mok, doch Wai senkte sein Haupt und warf sich dem Avatar zu Füßen.
Kyoshi trat aus dem Inneren des Wohnblocks auf die Straße hinaus. Der Tag war heller und heißer geworden. Eine Polizeieinheit, uniformierte Wachen aus Ba Sing Se, wartete bereits auf sie. Links und rechts vom Ausgang hatten sie sich aufgereiht. Junge Beamte, die den Avatar noch nie gesehen hatten, starrten Kyoshi an, als sie aus der Dunkelheit hervorkam. Einer ließ seinen Schlagstock fallen und hob ihn hastig wieder auf. Kyoshi ging an den einfachen Wachleuten vorbei, beachtete das Geflüster nicht, nahm ihre Verbeugungen kaum zur Kenntnis, und trat zu Captain Li an der Tür. Er war ein blässlicher Mann, der diesen Job offensichtlich schon zu lange machte, wegen seiner Spielschulden aber noch nicht in den Ruhestand gehen konnte. »Die Absperrung ist eingerichtet«, keuchte er mit seiner Pfeifenraucherstimme. »Hier draußen gibt’s so weit keine Schwierigkeiten.«
Die meisten Bewohner des Unteren Rings gingen ihren Geschäften nach und kümmerten sich nicht um die anwesenden Gesetzeshüter, doch Kyoshi bemerkte ein paar, die mit gespieltem Desinteresse zusahen, wahrscheinlich Kundschafter anderer fragwürdiger Organisationen. Mit Captain Li zusammenzuarbeiten hieß, dass Kyoshi ihren Daofei-Eid stark strapazierte. Niemals würde sie ein Lakai des Gesetzes werden, das hatte sie ihrer älteren Daofei-Schwester Kirima geschworen, während ihr älterer Daofei-Bruder Wong eine Klinge über ihren Kopf gehalten hatte.
Allerdings war Li ihr Werkzeug, ihr Informant gewesen – nicht andersherum. Von ihm hatte sie alles erfahren, was sie gebraucht hatte, um ihre Rechnung mit Mok zu begleichen, und er hatte auch die nötigen Leute für die anschließende Razzia bereitgestellt. »Ist das Gebäude sicher?«, fragte Li. Er schob seinen Hut zurück und tupfte sich die Stirn mit dem Ärmelaufschlag ab.
»Die Triadenmitglieder sind alle besiegt und können weggeschafft werden«, sagte Kyoshi. »Ihr solltet einen Arzt kommen lassen.«
»Ich kümmere mich natürlich sofort darum«, antwortete Li. Am gelangweilten Tonfall konnte Kyoshi klar erkennen, wie wenig ernst er ihren Vorschlag nahm. Er hob die Finger an die Lippen und stieß einen Pfiff aus. »In Ordnung, Jungs! Holt das Gesindel da raus!«
Die Wachleute stürmten in den Wohnblock hinein. Sie hatten freie Bahn, nun, da Kyoshi jeden Winkel auf Gefahren überprüft hatte. Sie wartete geduldig auf das Ergebnis ihrer Arbeit. Die Triade der Goldenen Schwinge musste bei Tageslicht gezählt und katalogisiert werden. Alles Geheimnisvolle würde sich verflüchtigen, wenn man sie erst mal wie Reissäcke wegschleppte. Das hoffte sie zumindest.
Aus dem Dunkel Loongkaus drangen laute Stimmen und Kampfeslärm hervor. Zwei Polizisten zerrten einen Mann ins Freie, der nicht unter Kyoshis Angreifern gewesen war. Er war ärmlich gekleidet, allerdings fiel ihm eine Brille von der Nase. Er musste ein Juwelier oder Schneider gewesen sein, dass er sich so etwas Teures hatte leisten können.
Bevor sie etwas sagen konnte, wurde die Brille von einem Stiefel zermalmt. Mit wachsendem Schrecken sah Kyoshi zu, wie weitere Polizisten herauskamen. Sie führten eine Frau vor sich her, die Hand in ihrem Genick. Sie hatte ein weinendes Kind auf dem Arm. Der Mann mit den schlechten Augen hörte das Kind und fing an, sich im Griff der Wachleute zu winden.
Das waren keine Mitglieder der Triade. Es war eine der armen Familien, die in diesem Block lebten. »Was machen Eure Leute da?«, schrie Kyoshi in Lis Richtung.
Er blickte sie verwirrt an. »Wir entfernen das kriminelle Element. Gewisse Leute warten schon lange darauf, diesen Schandfleck abzureißen.« Er zögerte wie ein Feilscher, der nicht zu viel Geld ausgeben wollte. »Wollt Ihr auch einen Anteil? Da müsst Ihr meinen Ansprechpartner im Mittleren Ring fragen.«
Der Mittlere Ring. Auf einen Schlag begriff sie.
Jemand mit großen, lukrativen Plänen für Loongkau hatte die Einwohner aus dem Block entfernen wollen, hatte dafür aber einen Vorwand gebraucht. Diese Person hatte zugelassen, dass die Triade sich dort niederließ, damit das Gesetz und der Avatar sich einmischen würden. Und dann hatte er Captain Li bestochen, damit er Unschuldige und Verbrecher gleichermaßen herausschaffte.
»Hört auf!«, befahl Kyoshi. »Hört sofort damit auf!«
»Ach je«, jammerte Li ohne einen Funken Ehrlichkeit. »Das tut mir leid, Avatar, aber ich erfülle nur meine Pflicht. Ich habe die Befugnis, im eigenen Ermessen diese Räumlichkeiten von Verbrechern zu befreien.«
»Mama!«, schluchzte das kleine Mädchen – das war mehr, als Kyoshi ertragen konnte. »Papa!«
Kyoshi zog ihre Fächer und ließ sie aufschnappen. Dann hob sie aus der Schicht direkt unter dem Staub der Straße, wo der Lehm noch feucht und formbar war, Erdbrocken herauf. Faustgroße Klumpen schossen davon und klatschten Li und seinen Männern auf Mund und Nase, wo sie wie Maulkörbe haften blieben.
Die Wachen ließen die Familie los und griffen sich panisch ins Gesicht, doch gegen Kyoshis Erdbändigen konnten sie mit bloßen Fingern nichts ausrichten. Li sank auf die Knie, seine Augen traten hervor.
Allzu bald würden sie nicht ersticken. Kyoshi steckte ihre Fächer weg. Dann schritt sie langsam die Reihe der Wachen ab, riss jedem das Stirnband herunter und überprüfte die quadratischen Metallsiegel des Erdkönigs, die am Stoff befestigt waren.
In die Abzeichen aller Beamten von Ba Sing Se waren Identifikationsnummern eingraviert, ein Beleg für die ungeheure Bürokratie der Stadt. Obwohl diese Männer gerade immer weniger Luft bekamen, verstanden sie doch, was es bedeutete, dass sie ihnen ihre Stirnbänder abnahm und unter ihrer Robe verstaute. Sie musste nur zu einer Verwaltungsbehörde gehen und sich nach ihrer Identität erkundigen, dann würde sie sie später problemlos wiederfinden können. Die meisten Einwohner von Ba Sing Se hatten die Gerüchte gehört, was Avatar Kyoshi ausmachte und wie sie mit Menschen umging.
Li hob sie sich bis zum Schluss auf. Als sie die Runde gemacht hatte und endlich bei ihm ankam, war er bereits puterrot angelaufen. Sie riss ihm das Stirnband unter der Mütze hervor, dann ließ sie den Lehm von seinem Mund herabfallen und befreite auch seine Männer von ihren Knebeln. Lis Einheit stürzte geschlossen zu Boden, alle rangen nach Atem. Der Captain landete auf der Seite, sein Atem rasselte wie Würfel in einem Becher. Sie beugte sich über ihn, doch bevor sie etwas sagen konnte, schleuderte er ihr einen Namen entgegen, in der Hoffnung, dass sie ihn dann verschonen würde. Er hatte wirklich kein Rückgrat. »Wo – so lautet sein Name! Der Mann, der mich bezahlt, ist Minister Wo!«
Kyoshi musste die Augen schließen, um ihre Frustration zu verbergen. In Ba Sing Se musste es mindestens ein Dutzend Minister mit dem Namen Wo geben. Der Name allein brachte ihr gar nichts. Die Stadt war zu groß. Das Erdkönigreich war zu groß. Sie konnte mit der Korruption nicht Schritt halten, die aus allen Löchern drang.
Sie holte tief Luft. »Jetzt hört mir mal genau zu, Captain«, sagte sie, so ruhig sie konnte. »Ihr werdet die Triadenleute wegschaffen und sonst niemanden. Dann treibt Ihr Papier und Pinsel auf und schreibt mir ein umfassendes Geständnis, in dem Ihr von diesem Wo erzählt und jede Bestechung auflistet, die Ihr jemals von ihm gekriegt habt. Und jeder Pinselstrich nichts als die Wahrheit. Haben wir uns verstanden, Captain Li? Ich werde es mir hinterher ansehen. Und ich will, dass Ihr Euer ganzes Herzblut in dieses Geständnis legt.«
Er nickte. Kyoshi richtete sich auf und bemerkte, dass die Frau und ihre Tochter sie mit großen angsterfüllten Augen anstarrten. Sie machte einen Schritt auf sie zu, wollte sie fragen, ob sie verletzt waren.
»Fasst sie nicht an!« Der Mann, der seine Brille verloren hatte, warf sich zwischen Kyoshi und seine Familie. Nahezu blind, hatte er wohl nicht erkannt, dass sie nur helfen wollte. Oder er hatte es erkannt, glaubte aber dennoch, dass sie eine Bedrohung darstellte.
Weiter entfernt, um die Absperrung herum, hatte sich eine Schar von Schaulustigen versammelt. Sie tuschelten und frische Gerüchte nahmen ihren Anfang: Der Avatar hatte nicht nur die Bewohner Loongkaus auseinandergenommen, Kyoshi hatte auch ihren unersättlichen Zorn gegen die Polizisten des Erdkönigs gerichtet.
Die Blicke der gewöhnlichen Bürger und der verängstigten Familie ließen ihre Haut kribbeln, verursacht durch ein Gefühl, das korrupte Männer wie Li oder Mok nie bei ihr hätten auslösen können. Es war Scham. Sie schämte sich dessen, was sie getan hatte, was sie war.
Ihr Make-up verbarg die Röte ihrer Wangen und die Furchen in ihrer Stirn. Ein letztes Mal legte sie Li vielsagend die Hand auf die Schulter, dann ging sie so gemächlich, wie sie gekommen war. Sie ließ Loongkau zurück wie eine teilnahmslose Statue auf dem Rückweg zu dem Altar, der sie zum Leben erweckt hatte. Die Farbe in ihrem Gesicht verbarg jedoch die Wahrheit, die sich auf ihren Zügen abzeichnete: Sie floh vom Schauplatz ihres Verbrechens, während ihr Herzschlag drohte, ihren Brustkorb zu zertrümmern.