Читать книгу Shana, das Wolfsmädchen - Federica de Cesco - Страница 11
ОглавлениеDer Sommer ging vorbei, irgendwie. Mit meinem Vater sprach ich nicht mehr. Man kann mit einem Menschen unter einem Dach leben, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Man muss nur aus dem Zimmer gehen, wenn er kommt, morgens nicht zu gleicher Stunde aufstehen, nicht zur gleichen Zeit essen. Elliot spülte sein schmutziges Geschirr, kratzte die Töpfe aus, kümmerte sich um seine Wäsche. Er wusste, dass ich für ihn keinen Finger gerührt hätte. Elliot saß vor der Glotze, ich verdrückte mich in mein Zimmer und las. Die Bücher holte ich mir aus der Bibliothek. Ich faulenzte,schlief oder verlor mich in Tagträumen. Alec war schon in Seattle. Ob er sich noch mit Donatella traf, wusste ich nicht. Es war mir auch egal. Ich jedenfalls würde nie den Mut aufbringen, ihm jemals wieder vor die Augen zu treten. Ich schämte mich viel zu sehr. Ich hatte ohnehin den Eindruck, dass alle Leute mich komisch anstarrten. Es konnte ja sein, dass Elliot die Geschichte in der Kneipe erzählt hatte und jeder im Dorf Bescheid wusste. Ich wagte mich kaum noch auf die Straße. Entsetzlich.
September. Schulanfang. Ein paar Lehrer teilten sich die oberen Klassen. Lela Woodland würde bei uns Sozialkunde, Literatur und Musik unterrichten. Ich hatte Lela nach diesem unglückseligen Powwow nicht mehr gesehen und wäre ihr am liebsten nie mehr begegnet. Ich wollte alles, was mit dieser Geschichte zusammenhing, aus meinem Gedächtnis streichen. Aber als sie in die Klasse kam und ihre merkwürdigen, goldfarbenen Augen auf mich richtete, wurde mir klar, dass sie mich total vergessen hatte. Ich war ein Stück gewachsen, trug mein Haar jetzt schulterlang. Sauber wollte ich aussehen, gut gekämmt, damit sie mich nicht erkannte. Es schien, dass es mir gelungen war. Wir waren eine kleine Klasse, fünfzehn Halbwüchsige, mehr oder weniger interessiert, aber von den Eltern dazu erzogen, sich in Gegenwart von Erwachsenen ruhig zu verhalten. Randalieren entsprach nicht unserer Art, wir neigten mehr zur Selbstzerstörung.
Bisher war es in der Schule stinklangweilig gewesen. Ich hätte nicht sagen können, warum es bei Lela anders war. Sie war nicht unsere einzige indianische Lehrerin, aber sie hatte ein geheimnisvolles Gesicht, das zu sagen schien: »Ich achte euch, aber ich verlange von euch mir gegenüber die gleiche Achtung.« Sie saß selten am Pult wie die anderen Lehrer, sondern ging mit weichen Schritten vor der Tafel auf und ab, immer in Bewegung, sehr leichtfüßig. Das Haar trug sie beim Unterricht zu einem langen Zopf geflochten. Ihre Stimme war sehr tief, so wie ein ganz tiefer Glockenton. Eine dunkle Stimme, deren Schwingungen merkwürdig auf meiner Haut prickelten. Sie brauchte nie laut zu werden. Trotzdem herrschte aufmerksame Stille in der Klasse. Lela sprach von Homer, Shakespeare und Walter Noble Burns. Sie las uns Jorge Luis Borges vor, wobei uns die »Geschichte von den Zweien, die träumten«, am meisten Spaß machte. Lela erzählte uns das Leben dieser Autoren, brachte uns die Zeit näher, in der sie gelebt hatten. Sie sprach von der geistigen Freiheit, von der Macht der Worte.
»Worte sind Träger der Freiheit und der Auflehnung. Sie lösen Freude oder Ergriffenheit aus, verursachen Liebe, Hass oder Schmerz. Sie können auch das Böse erwecken, ihm Wesen, Gestalt und Leben verleihen. Bösartigen Worten müssen wir die Kraft der gutartigen Worte entgegensetzen. Oder die Kraft der Musik.« So kam es oft vor, dass sich die Diskussion von der Literatur entfernte, in Politik, Philosophie oder Religionen abschweifte. Und irgendwann, da spürten wir es ganz deutlich: Der Funke war übergesprungen. Wir vertrauten Lela, wussten, dass sie uns ernst nahm. Klar waren manche von uns nicht bei der Sache. Aber sie brachte uns zum Nachdenken, die Bruchstücke, die wir aufschnappten, formten in unserem Kopf eine Art Puzzle, das sich allmählich, ohne dass wir es merkten, zu klar erfassbaren Bildern zusammensetzte.
Eines Tages las uns Lela einen Text von Vine Deloria vor: »Es ist nicht wichtig, dass es nur noch eine halbe Million von uns Indianern gibt. Wichtig ist allein, dass wir eine überlegene Lebensweise haben. Unsere Ideen werden eure Ideen besiegen. Wir werden das Wertesystem dieses Landes in Fetzen reißen. Wir Indianer werden diesem Land zeigen, wie man menschlich denkt, menschlich handelt. Welches ist der höchste Wert im menschlichen Leben? An dieser Frage wird sich alles entscheiden!« Sie hob den Kopf und sah in die Klasse. »Nun? Was glaubt ihr? Welches ist der höchste Wert im menschlichen Leben?« Es war halb zwölf, ein paar knurrte schon der Magen. Scott grinste und murmelte: »Das Mittagessen!« Scott hatte immer einen Witz parat. Lela sah gleichgültig über ihn hinweg.
»Simon?«
Simon nahm hastig seinen Kaugummi aus dem Mund.
»Ähm … Ehrlichkeit?«
»Ich lasse es gelten«, sagte Lela. »Will noch jemand etwas anderes sagen? «
Angeline hob die Hand.
»Freundschaft?«
Lela nickte ihr zu.
»Freundschaft zwischen den Menschen ist eine Art des Umgangs miteinander. Sie ist die Möglichkeit, einander Dinge ohne Angst zu sagen. Ja, Freundschaft ist wichtig. Aber sucht weiter!«
Kenny drehte den Kopf so, dass er mit einem Auge zur Lehrerin und mit dem anderen zu Boden schielte.
»Ich denke, Frieden?«
Sie lächelte ihn an.
»Friede ist, wenn wir richtig handeln und wenn zwischen jedem Einzelnen und jedem Volk Gerechtigkeit herrscht. Aber Friede entsteht nur, wenn wir den höchsten Wert im menschlichen Leben beachten.«
Ich hob die Hand, zog sie gleich wieder zurück. Aber Lela hatte die Geste gesehen.
»Ja, Shana? Was meinst du?«
Meine Kehle war trocken, als ob ich Sand geschluckt hatte. Alle starrten mich an. Ich konnte keine Sekunde mehr warten, sonst lachte die ganze Klasse.
»Liebe?«, flüsterte ich rau.
Natürlich kicherten ein paar im Hintergrund, doch Lela beachtete sie nicht. Sie sah mich an und ihr Blick erfüllte mein Herz mir Wärme.
»Ja, die Liebe ist der höchste Wert im menschlichen Leben. Ohne Liebe sterben wir. Die Liebe ist alles, was die Menschen menschlich macht. Unser Land wurde ohne Liebe erobert. Wir müssen diesem Land die Liebe zurückgeben, die ihm genommen wurde.«
»Wie?«, fragte Lucy.
»Indem wir gut zueinander sind«, sagte Lela. »Das Leben ist kein Videogame. Es ist überhaupt nicht ›fun‹, irgendeinem Lebewesen Schmerzen zuzufügen. Es ist überaus beschämend. Statt vor einer Kultur der Gewalt zu katzbuckeln, sollten wir unsere Mutter, die Erde, lieben und Menschen und Tiere mit Respekt begegnen. Niemandem Schmerzen zufügen, niemandem schaden, das klingt einfach, nicht? Fast kindlich. Aber wendet diese Grundregel an, ihr werdet bald sehen, wie schwierig sie ist!«
Später, auf dem Weg nach Hause, kam mir ein seltsamer und unbequemer Gedanke. Warum hatte ich meinen Vater damals geschont? Warum hatte ich ihn vor Alec nicht bloßgestellt? Nur weil ich mich schämte? Oder war etwas anderes im Spiel? Etwas, das ich kaum zu benennen wagte und irgendwie mit dem zusammenhing, was Lela gesagt hatte. Konnte es sich, auf irgendeine verdrehte Art, um Liebe handeln? Der Gedanke kam mir so albern und widersinnig vor, dass ich ihn einfach nicht weiterdachte; aber er tauchte immer wieder auf und ließ sich nicht verdrängen.