Читать книгу Shana, das Wolfsmädchen - Federica de Cesco - Страница 9
ОглавлениеDann begann das Tanzfest. Zuerst bildeten alle Gruppen einen Umzug, der sich zum Klang der Trommeln zu einem großen Kreis formte. Wenn Musik ertönte – egal, welche –, bekam ich immer eine Gänsehaut. Irgendwie glaubte ich, dass die Musik das Wichtigste war, was es gab. Ich spürte die Klänge buchstäblich bis ins Knochenmark. Aber es ging mir nicht ums Tanzen, um die rhythmische Bewegung zur Musik. Tanzen würde ich auch, aber nur zum Vergnügen. Nein, Musik war etwas anderes für mich, ich konnte es nicht beschreiben. Oder vielleicht doch: Es war, als ob ich eins mit der Musik wurde. Und das Merkwürdige: Ich spürte genau, wenn der Rhythmus stimmte und wenn nicht. Manchmal kam es vor, dass Sänger eine falsche Note sangen oder die Trommler aus dem Takt gerieten. Dann fühlte ich einen feinen Schmerz, als ob mich innerlich eine Nadel stach. Musik muss genau stimmen, dachte ich, das spürt man doch, oder? Nein, die meisten spürten es nicht.
Und jetzt ertönte die Trommel und die erste Frauengruppe tanzte. Da – schon wieder die Gänsehaut! Die zwei Trommler waren Brüder und perfekt im Rhythmus. Der Gesang schwoll an. Keine falsche Note, diesmal! Ich sang innerlich mit. Ein alter Mann gab mit einer Kürbisrassel den Takt an. Über dem Chor erhob sich die Stimme der alten Rosalie, unserer besten Vorsängerin. Es war eine herbe, erdige Stimme, fast die Stimme eines Mannes, und sie folgte genau dem Rhythmus. Mein Blick fiel auf Lela Woodland. Wie schön sie war! Sie setzte den linken Fuß seitlich vor, ging leicht in die Knie, zog dann den rechten Fuß in einer fließenden Bewegung nach; sie schien die Erde kaum zu streifen und doch war ihr Tanz voller Energie. Ihre Fransen flatterten, die beiden Adlerfedern wippten im Wind. Wenn ich sie ansah, spürte ich ein besonderes Schwingen in mir. Ihr Tanz war wie Musik und ich empfand ein starkes Glücksgefühl. Bevor sich die Paare bildeten, waren jetzt die Männer an der Reihe. Alec war unter ihnen, funkelnd wie ein farbenprächtiger Vogel, wobei er die Flagge unserer Schule schwenkte. Er tanzte sehr aufrecht, fast steif, seine Beine stampften wie Keulen: ein Kreisel wirbelnder Bewegungen. Dabei spürte ich plötzlich ein leichtes Unbehagen: Alec war nicht völlig im Takt! Eigentlich schwachsinnig, dass ich mich von solchen Lappalien ablenken ließ. Aber ich konnte nichts machen, es war eben so.
Nach dem Tanzfest wusch er sich die Farbe aus dem Gesicht und vertauschte sein Kostüm gegen Jeans. Dazu trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift »Skinanarchist«.
»Toll!«, meinte ich.
»Ich interessiere mich eben für Politik. Fahren wir?«
»Wohin?«, fragte ich.
»Zum Ellison’s Lake«, sagte Alec. »Nach dem Powwow, da ist man in besonderer Stimmung. Als ob man Flügel hätte. Ehrlich, das ist so. Vielleicht haben wir eine Vision?«
»Du bist auf den Kopf gefallen«, sagte ich.
Er lachte und ich lachte auch.
»Du brauchst einen Helm«, sagte Alec. »Nimm meinen.«
»Und du?«
»Macht mir nichts ohne.«
Ich streifte mir den Helm über. Er kam mir schwer und beengend vor und das Glas war zerkratzt. Ich atmete den Geruch von Alecs Haut ein und spürte wieder das Kribbeln in der Magengrube. Inzwischen schob Alec die Maschine auf die Straße. Er bestieg das Motorrad und ich setzte mich hinter ihm auf den angenehm federnden Sattel. Alec drehte den Kontaktschlüssel und startete. Wir fuhren los; wegen des verschmutzten Helms war ich fast blind, ich sah die Scheinwerfer der Pick-ups wie geheimnisvolle gelbe Augen durch die Dunkelheit streifen. Der Motor summte gleichmäßig und kraftvoll, ich spürte den Wind auf meinen Armen. Manchmal, wenn Alec stärker Gas gab, knatterte und zuckte die Maschine, aber die Federung fing die Stöße gut auf. Nach etwa zehn Minuten verließ Alec die Hauptstraße und bog in einen Waldweg ein. Dunkle Bäume und Büsche rasten dicht an uns vorbei. Nach einer Weile verlangsamte er das Tempo, fuhr etwas seitwärts und hielt vor einem Gebüsch. Als Alec den Motor abstellte und den Stützfuß senkte, schlug uns eine atemlose Stille entgegen. Ich nahm meinen Helm ab und schüttelte mein Haar. Ellison’s Lake war eigentlich kein richtiger See, eher ein Tümpel, aber sehr fischreich. Am Wochenende wimmelte es hier von Anglern, die alle am Ufer saßen und stundenlang auf die Angelschnur glotzten. Ich hätte nie die Geduld dazu aufgebracht.
»Willst du angeln?«, fragte ich.
Seine weißen Zähne blitzten in der Dunkelheit.
»Nee. Lieber ein bisschen knutschen.«
Es war einfach, zu wissen, woran man mit Jungen war, und ich hatte nichts dagegen. Alec reichte mir die Hand. Wir stiegen die Böschung hinunter bis an den See. Das Wasser gluckste leise. Gleich hinter den Bäumen fiel der Hang fast senkrecht ab.
Alec und ich setzten uns an einen Baumstamm. Erst nach einer Weile brach ich das Schweigen.
»Es ist ganz schön hier.«
»In der Stadt verdienen die Leute ’ne ganze Menge Kohle«, sagte Alec. »Das habe ich auch im Sinn. Aber Geld ist nicht alles. Der Wald, die Seen, die brauche ich einfach. Jedes Fleckchen der Welt, wo kein Baum wächst, ist mir zuwider. Nur Beton überall, das macht die Menschen kaputt.«
»Wirst du zurückkommen?«, fragte ich.
»In den Ferien, ja sicher. Und ich will bei jedem Powwow dabei sein.«
»Ich auch. Ich liebe Musik. Am besten gefallen mir die Trommeln. Die höre ich sogar nachts im Traum.«
Er schnalzte mit der Zunge.
»Etwas geht mir nicht aus dem Kopf.«
»Was denn?«
»Dass du nicht tanzen willst.«
»Meine Mutter ist tot.«
»Warum tanzt du nicht für sie? Das würde ihr sicher Freude machen.«
Mein Atem stockte. Der Gedanke war mir nicht gekommen. Der Ehrentanz für die Verstorbenen war eine alte Tradition.
»Aber dann muss ich es dem Komitee sagen.«
»Wo ist das Problem?«
Der Ansager würde ankündigen, dass ich für meine Mutter tanzte. Die Musiker würden ein besonderes Lied anstimmen und die Teilnehmer einen Kreis bilden, während ich eine Runde allein tanzte. Alle Augenpaare würden auf mich gerichtet sein. Da wurde jede Sekunde zur Ewigkeit.
Meine Wangen glühten.
»Ich weiß nicht, ob ich gut genug tanze.«
Er legte mir den Arm um die Schulter.
»Das schaffst du schon.«
»Vielleicht«, sagte ich schließlich.
»Bloß vielleicht?«, erwiderte er zärtlich.
Ich antwortete nicht. Alecs Hand wanderte zu meinem Nacken, unter mein Haar. Seine Finger tasteten über meine Kopfhaut, dann über meine Wangen. Langsam näherte er sein Gesicht, streichelte mich mit seinem Atem. Wir küssten uns, zuerst verhalten, dann lange und heftig, bis unsere Lippen taub wurden und pochten. Ich hatte schon ein paar Jungen geküsst, aber zu mehr war es nicht gekommen. Die Bäume standen dicht, der Nadelteppich auf dem Boden war weich und trocken. Ich sah über mir das Flirren der Sterne, ein Sprühfeuer aus Gold und Nacht. Trommelwirbel gingen durch unsere Herzen und jeder fühlte die Wärme des anderen. Als wir uns trennten, hatte ich ein merkwürdiges Gefühl; auf der einen Seite war es gut und richtig gewesen, was wir getan hatten, auf der anderen Seite wusste ich nicht einmal, ob ich in Alec verliebt war. Aber das Gefühl, das ich für ihn empfand, war aufrichtig und schön. Die Temperatur war gesunken, wir zogen uns hastig an. Meine Finger waren steif vor Kälte. Alec drückte die Druckknöpfe meiner Jeansjacke zu.
»War es das erste Mal für dich?«
Ich nickte wortlos.
»Hat es weh getan?«
»Nein, eigentlich nicht. Und für dich? War es auch das erste Mal?«
Er blinzelte mir zu.
»Nein, eigentlich nicht!«
Dass ich weinte, merkte ich erst, als mir eine Träne auf die Hand fiel. Ich fuhr mit dem Handrücken über mein nasses Gesicht. Alec sah betroffen aus.
»Tut mir Leid, ich wollte dich nicht kränken!«
Ich wollte etwas erwidern, als Alec heftig meine Hand drückte … »Da – was ist das?«
Aus der Ferne erscholl ein merkwürdiger Laut, eine Art lang gezogenes Schluchzen, einsam und wild. Das Heulen sank und stieg, sank tiefer,stieg höher. Es klang geisterhaft und traurig wie der Nordwind, wenn er durch Bergschluchten und vereiste Wälder streift.
»Könnte ein Hund sein«, meinte Alec. »Hat sich verlaufen, scheint mir …«
Doch ich hatte feinere Ohren.
»Nein, so heult kein Hund. Das ist ein anderes Tier. Ein Wolf, vielleicht …«
»Ein Wolf?«, sagte Alec. »Die wagen sich nicht in die Nähe der Dörfer.«
Das seltsame Klagen brach ab; wir lauschten mit angehaltenem Atem. Doch alles blieb still, als ob wir das Geräusch nur erfunden hatten.
»War doch ein Hund«, sagte Alec.
Er küsste mich und ich küsste ihn wieder. Es war schon fast Morgen, der Himmel war dunkel mit einem bleichen Mond, tief hinter den Bäumen. Alec fasste mich an der Hand.
»Komm, ich bringe dich nach Hause. Sonst kannst du morgen nicht tanzen.«
Ich hielt mich an seiner Schulter fest. Mein ganzer Körper schmerzte, besonders die Beine und der Bauch. Auch meine Augen waren trocken und brannten. Ich war so müde, dass ich kaum den Kopf hoch halten konnte.
»Fall nicht!«, warnte er und führte mich durch die Dunkelheit.
Überall zirpten jetzt Grillen. Das Zirpen verstummte, wenn wir vorübergingen, und begann wieder, sobald wir vorbei waren.
»Morgen tanzt du mit mir, ja?«, sagte Alec. »Womöglich gewinnen wir einen Preis!«
Ich machte ein zustimmendes Zeichen. Der Gedanke, mit Alec zu tanzen, gefiel mir. Melanie war tot, daran konnte ich nichts ändern. Aber ich konnte ihr Kleid tragen und für sie tanzen. Vielleicht machte ich ihr wirklich eine Freude damit.