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IV
ОглавлениеUrlaub, Zeit zum Ausschlafen. Nicht so auf der NOFRETETE. Vor Sonnenaufgang, exakt um 5.15 Uhr, joggte auf Deck 15, dem Sonnendeck, die sehnige, drahtige, stirnbandgezierte Gazelle Gesine Harms aus Harrislee an der dänischen Grenze, das blonde Haar zu einem Hochzopf zusammengeflochten, die Ohren iPod-bestöpselt, ihre Runden um den Schornstein. Das war nur das Vorspiel zur einstündigen Übungseinheit an den Foltergeräten des Fitness-Centers. Auf diese Art bereitete sie vielen, in die Restaurants zum Frühstück strömenden Gästen am Rand der Adipositas ein schlechtes Gewissen. Nicht ohne Absicht. Die erwünschte Wirkung war aber fragwürdig, hörte sie doch einen schmerbäuchigen Herrn mit tiefsitzender Cordhose Worte wie „Fitness-Terroristin“ und „Schau dir das Wäschegestell an“ zu seiner ebenfalls kugelrunden Gattin nicht gerade leise sprechen. Gesine Harms belegte Kurse in Tae Bo, Ballooning Ball, Power Dumbell, Step, Yoga und Pilates, um dann zur Mitternachtsstunde am Indoor-Cycling auf dem Sonnendeck teilzunehmen. Am Abend zuvor, beim Auslaufen aus Palma de Mallorca, hatte sie sich beim Buffet auf den Caesar Salad, die gebratene Ananas mit Kokossorbet und die glasierten Perlzwiebeln gestürzt. Dabei fragte sie den philippinischen Buffethelfer, dem ein Schild den in diesem Zusammenhang irritierenden Namen „Bonsai“ zuwies: „Ist die Geflügelbrust auf dem Caesar auch schön mager?“ „Ja, Mam“, kam es zurück. Gesine Harms war nicht überzeugt, er habe sie verstanden. Bonsai hatte offenbar die Anweisung, die Fragen der Gäste stets zuvorkommend, mit einem Lächeln und zustimmend zu beantworten. Sein freundlicher Blick verleitete die Fastdänin, die etwas Sinnenverachtendes verströmte, zu einem Augenaufschlag und einem Deut mit dem rechten Zeigefinger auf ihr eigenes karges Dekolleté, das sich in einer lila Strickweste verlor. Gerade wollte sie zu formulieren beginnen, wie man es Fremdsprachigen gegenüber gelegentlich tut: „Ich“ (Zeigefinger), „ich“ (noch mal Zeigefinger) „nix fett essen ...“, da sah er auf ihren Oberkörper und sagte mit breitem Lächeln: „Ah, verstehe, ja, Hühnerbrust, mager, Mam“. Kurz überlegte sie, ob sie da was falsch verstanden hatte. Dann war ihr klar, dass die Äußerung des Kochs mit ihrer Handbewegung zusammenhing. „Unerhört“, sagte sie vor sich hin, „Was dieser Bonsai sich wohl untersteht!“ Kurz überlegte sie, sich beim Front Office Manager zu beschweren, unterließ es aber angesichts der kompromittierenden Beweisführung, die anzutreten ihr nicht erspart bliebe. Dafür bekommt der kein Trinkgeld, nicht einen müden Cent, schwor sie sich.
Während sie ihre Runden drehte, hatte sich an exponierter Stelle auf Deck 13, dort, wo sich auf anderen Kreuzern Liebende das Weiterschlagen des Herzens Hüfte an Hüfte und unter elegischen Klängen zusichern, eine Armada von Photographen aufgebaut. Mit ihren Stativen und überdimensionierten Objektiven erweckten sie den Anschein, neue Galaxien, das Heranrücken der mittelalterlichen Türkenflotte oder zumindest den Start der Air Force 1 auf der anderen Seite des Erdballs einzufangen. In Wirklichkeit ging es ihnen, mit dem Sinn für außergewöhnliche, einmalige, noch nie dagewesene Naturereignisse, um den Aufgang der Sonne, den sie in Myriaden von Fotos festhielten. Bedauernswert die Verwandten und Bekannten, die, an verregneten Abenden in muffigen Wohnstuben in Hoyerswerda oder Hanau mittels dieser Aufnahmen das millimeterweise Aufsteigen eines roten Punktes am Horizont nachzuvollziehen gezwungen waren, begleitet von einem emphatischen „Da, da, da ist sie, seht ihr sie, da, da, die Sonne, da, seht ihr sie …“ des Photographen.
An einer abgelegenen Stelle des Decks stand Wolle Luther. In der rechten Hand hielt er eine Plastiktüte von Aldi. Seine Blicke schweiften über das Deck. Niemand durfte ihn bei der Aktion beobachten. Umständlich kramte er ein schwarzes Kleidungsstück hervor. Sein Lutherrock war es, den ihm ein Kirchenvertreter während der Zeit geschenkt hatte, als er glaubte, Martin Luther höchstselbst zu sein. Nein, das war er nicht. Aber er fühlte sich als Luthers Anwalt. Dem Reformator sollte Gerechtigkeit widerfahren. Keine Anachronismen! Keine Luther-Sätze aus der Reformationszeit, die heute noch genauso gelten sollen! Schutz des Reformators vor seinen blinden Verehrern! Um diese Aufgabe umzusetzen, um seine neue Rolle anzunehmen, brauchte Wolle eine Symbolhandlung. Er sah ein letztes Mal, nicht ohne Wehmut, den Lutherrock an und packte ihn dann wieder in die Plastiktüte. Auf einen Zettel schrieb er: „Zur allgefälligen Benutzung. Wolle Luther.“ Den Zettel gab er ebenfalls in die Tüte, verschnürte und verklebte sie und holte weit aus. Der so eingetütete Lutherrock schwebte in die von den Schiffsschrauben aufgewühlten Wellen. Ein kurzer Tanz auf den Schaumkronen, und Neptuns Kleiderkammer hatte sich erweitert.
Das eigentliche Leben bei aufgehender Sonne spielte sich auf dem Pooldeck ab. Die Philippina Mary Ann, die gerade die Handtuchausgabe eröffnete, sah sich verschlafenen, aber dennoch nicht aggressionsfreien Gesichtern ausgesetzt. Die drei Söhne der Familie Becker aus dem Saarland; Jupp Schmitz aus Köln mit der elfjährigen Tochter Julia; die mit zwei anderen Witwen verreisende Helga Haseneier aus Offenbach, die ihren Namen, um anzügliche Gedanken zu vermeiden, seit Kindheit an „Hase-neier“ aussprach; Ottilie Greis und zwei andere Mitglieder des Frauenkneippvereins Harmonie Stuttgart-Bad Cannstatt; Pfarrer Cornelius Schwacke, Leiter einer Luthertagung (auch das war auf der NOFRETETE mit ihrem hochmodernen, allen technischen Wünschen gewachsenen Conference Center möglich); Hugo Frank mit Panamahut als Vertreter der Sächsischen Imker. Bis auf Schwacke, der abwartete, entrissen sie Mary Ann geradezu die Pool-Handtücher, um sie, ergänzt mit Sonnenbrillen, vergilbten Bastei-Lübbe-Schmökern und fast leeren Cremetuben auf die in geordneter Phalanx stehenden Liegen zu werfen. Die Handtuchholer waren nach einem undurchschaubaren, aber effizienten Selektionssystem von ihrem Clan oder ihrer Stammesgemeinschaft auserkoren, stellvertretend für die anderen die besten Plätze für die Vergnügungen des ersten Tages, eines Seetages, also das Animationsprogramm mit Gewinnmöglichkeiten, das Freibier des Kapitäns und andere Lustbarkeiten, zu okkupieren. In an paramilitärische Operationen erinnernden Formationen gingen sie vor und binnen weniger Minuten hatte die Pooldeckguerilla den ersten Grabenkampf gewonnen. Alle Liegen vor den diversen Pools und der später als Bühne dienenden Freitreppe hatten sie unter Zeugen belegt. Kein Zweifel, hier waren Wiederholungstäter am Werk, notorische NOFRETETE-Reisende, die auf der ersten Fahrt leer ausgegangen waren und auf einem abgelegenen Liegestuhl fernab des Geschehens unter der prallen Sonne dahindarbten. Aus dieser frustrierenden Erfahrung klug geworden, hatten sie jetzt das kryptische Motto verinnerlicht, das Darwins survival of the fittest nur unwesentlich nachstand: Der frühe Vogel fängt die Liege.
Ab 7.00 Uhr füllten sich die Restaurants mit Frühstücksgästen, denen der viele Gratis-Wein beim Buffet des ersten Abends anzusehen war. Der in Zivil umherstreifende Schiffsarzt Dr. Moll, ein Ruheständler, der im Gegenzug für seine Leistungen kostenfrei reiste, erspähte erste Opfer und gab beim Frühstück Ferndiagnosen. Ein Spiel, das er sich seit Jahren mit seiner Gattin, einer Krankenschwester, die er in vierter Ehe geheiratet hatte und die also auch vom Fach war, gönnte. Gastritis, Bluthochdruck, Fettleber, Reflux, Gallensteine, das ganze Programm war abzusehen. Einmal kam beiden gleichzeitig die Anorexia nervosa über die Lippen, als sich nämlich Gesine Harms an ihnen vorbei zur Obstbar schlängelte.
Die Sonne war ein gutes Stück am Horizont hochgeklettert, eine leichte Brise wehte. Auf dem Pooldeck erschien das strahlend weiß gekleidete Animationsduo: Jenny, 25 Jahre, Studienabbrecherin aus der Hansestadt Bremen, die einfach gerne was mit Menschen machen wollte und mal gucken wollte, was sich beruflich vielleicht so ergibt, und die NOFRETETE ist ja irgendwie toll, da sind so viele spannende Leute und immer schönes Wetter und das Meer und mit der Crew einen Cocktail zwischendurch trinken und, ach, ich weiß auch nicht. Kai aus Leipzig, sein Abitur lag schon acht Jahre zurück, wollte nur mal ein paar Monate nach den Prüfungen relaxen, war ja echt Stress, auch wenn’s nur mit dem Notendurchschnitt drei Komma zwei endete, aber dann waren die Fristen zum Einschreiben an der Uni verstrichen, BWL und so, und dann hat ein Kumpel in einem Hotel auf Ibiza den Animateur gegeben und geschwärmt und dann hat sich das mit der NOFRETETE ergeben und ist ja auch total cool, obwohl, ich mein, manchmal geht’s auch ganz schön auf den Geist, jede Woche das gleiche Programm abziehen, den ganzen Sommer über, und manchmal gibt’s richtig Ärger mit Gästen, die rummaulen, und was soll aus mir werden, frag ich mich schon und überhaupt, und, ach, ich weiß auch nicht.
Mit ein paar launigen Floskeln weckten die beiden Animateure die vom Frühstück erschöpften Beckers, Schmitz’, Haseneiers (gesprochen Hase-neiers), Greis’, den Frauenkneippverein, die sächsischen Imker und all die anderen. Wie dösende Seelöwen, speckig glänzend von der ersten Sonnenmilch, hatten sie dagelegen. Jetzt stellten sie die Liegen in die Sitzposition um. Jenny piepste begeistert: „Nun präsentieren wir Ihnen unseren Neuzugang. Wir, Kai und ich, wir haben unser Team erweitert. Freuen Sie sich mit uns über unseren neuen Animationsassistenten, Wolle Luther!“
Bei diesen Worten trat Wolle aus der Pool-Bar hervor und zeigte sich der Menge. Der anfangs noch sehr spärliche Applaus ging, für ihn rätselhafterweise und ohne, dass er etwas getan hatte, in ein Gelächter über, das sich wie ein Lauffeuer über das ganze Deck verbreitete. Wie er aus manchen witzig gemeinten Äußerungen mitbekam, war es seine Kleidung, die diese Wirkung erzielte. Wie seine beiden Kollegen hatte er eine weiße kurze Hose und ein gleichfarbiges T-Shirt an, beides mit dem marineblauen Emblem der NOFRETETE. Bei der Bestellung der Größen war man offenbar von Bonsai und seinen Kollegen ausgegangen. Die riesigen Bestände an Mannschaftsbekleidung auf der NOFRETETE reichten nicht über die Größe XL hinaus. So hing das T-Shirt an Wolle mit seinen stattlichen 150 Kilogramm eher wie ein Lätzchen am Säugling. Nicht mal bis zum Bauchnabel reichte der Stoff, darunter quoll die gewaltige Plautze in mehreren Wulsten hervor. Die Hose war an Wolles Körper nur ein Höschen und erinnerte fatal an einen String-Tanga, bedeckte sie gerade mal das Geschlecht und einen Teil des Gesäßes, nicht den größten.
„Wolle, wenn wir absaufen, leihst du mir dann einen deiner Rettungsringe?“, prustete Hans Blumenstiel los, einer der Imker.
„Sexy, sexy“, riefen die drei Becker-Söhne fast unisono frech.
„Is dat Hagrid, Rubeus Hagrid?“, staunte Julia Schmitz, die ausgewiesene Harry-Potter-Expertin an der Seite ihres zähnebleckenden Vaters.
Nur Pfarrer Cornelius Schwacke, der mit seinen raspelkurzen Haaren und seiner rauhen Stimme verblüffend an den Sänger Sting erinnerte, fragte ernst hinter seiner Sonnenbrille hervor, einem Gucci-Imitat: „Schreibt er sich wirklich Luther? Wie der Reformator?“
„Ja, ihr Lieben“, griff Kai die Worte auf, „ich merke, Wolle schlägt voll bei euch ein. Mit seinen 51 Jahren ist er im Herzen jung geblieben, wie ihr seht. Sonst hätte er sich nicht auf so einen Job beworben. Ha, ha. Vielleicht sagst du mal selbst was zu deiner Person. Ich meine, wer du so bist, Wolle, und wo du herkommst und so. Echt cool, dass du hier bist, altes Haus.“
Er drückte Wolle, der auf die Freitreppe gestiegen und damit für alle gut sichtbar war, das Mikro in die Hand. Dieser stierte verärgert ins Wasser des neben ihm sprudelnden Whirlpools.
„Los, sag was, Wolle, ha, ha“, spornte Kai ihn an.
Wolle pumpte Luft in sich, das T-Shirt spannte bis zum Äußersten, dann brüllte er los:
„Ihr wollt mich hier alle verarschen, was? Lachen auf meine Kosten, oder was? Wisst ihr, wie ich das nenne? He? Gottlos ist das!“
Wolle stand auf der Freitreppe wie King Kong auf dem Empire State Building, bereit zum Sprung auf die unter ihm liegende Meute.
Gespenstische Stille trat ein. Einige klappten die Liegen wieder runter und machten den Seelöwen. Vom hinteren Teil des Pooldecks riefen einige „Pfui“, „Dafür haben wir nicht bezahlt“, „Uns noch beschimpfen lassen! Sauerei! Wir wollen Spaß haben!“, „Was soll das mit Gott? Wir sind doch hier in keiner Kirche. Unverschämt. Ich bin Atheist!“
Kai und Jenny lösten sich erst langsam aus der Erstarrung, die sich ihrer bemächtigt hatte. Sie baten um eine kurze Unterbrechung und zogen Wolle in die Küche der Pool-Bar.
„Sag mal, du bist wohl völlig bescheuert“, erregte sich Kai, „du kannst doch nicht die Leute anpflaumen. Wir müssen die unterhalten, verstehst du? Sonst verlieren wir hier alle unseren Job!“ Jenny nickte heftig. Die beiden taten Wolle leid. Er hatte sie in richtig große Schwierigkeiten gebracht, weil er die Gepflogenheiten auf dem Schiff und die strengen Anweisungen für das Personal nicht kannte. Kleinlaut fragte er die beiden, was er tun solle, um die Scharte wieder auszuwetzen. „Keine Ahnung, lass dir was einfallen! Wir machen jetzt erst mal weiter.“
Jenny und Kai sprangen wieder aufs Freideck, zeigten beste Laune und begannen ein Quiz, bei dem Cocktails und andere leckere Preise winkten. Wolle dagegen saß geknickt in der Küche der Pool-Bar. Schon mit seinem ersten Auftritt hatte er sich viele Sympathien verscherzt! Wie sollte er da seine Vision umsetzen, Luthers kreatives Denken und sein Vertrauen in die höhere Macht unters Volk zu bringen, wenn er selbst so ein Spielverderber war? Der Mann aus Nazareth, erinnerte er sich, hat auf der Hochzeit zu Kana nicht die Party mit irgendwelchen Befindlichkeiten verdorben. Im Gegenteil, als der Wein alle war, hat er noch besseren besorgt, damit die Party weitergeht.
Auf Deck war sie schnell wieder da, die unverwechselbare, einzigartige NOFRETETE-Laune. Schepperndes, brüllendes, wieherndes Lachen auch beim dünnsten Witz, gierige Blicke beim Verteilen der Strohhalme auf richtige Fragen, die den erfolgreichsten Sammlern reiche Cocktail-Ausbeute in Aussicht stellten. Jenny und Kai hatten es binnen kurzer Zeit geschafft, den von Wolle angerichteten Flurschaden nicht nur einzudämmen, sondern vergessen zu machen. Das Quiz war abgeschlossen, viele zufriedene Gesichter. Die beiden Animateure setzten an, mit Waka-Waka, This Time for Africa von Shakira auf den nächsten Hafen, La Goulette in Tunesien, einzustimmen, da ertönte Wolles ein wenig pastoral wirkende Stimme unverkennbar aus dem Poollautsprecher. „Achtung, Achtung, eine Durchsage. Hier spricht ein reuiger Sünder. Wolle Luther hat sich noch nicht akklimatisiert auf dem Schiff. Er kennt den NOFRETETE-Code noch nicht. Doch gelobt er jetzt Besserung. Hinter dem Vorhang zur Pool-Bar steht eine kleine Versöhnungsgabe. Bitte bedient euch. Ende der Durchsage. Euer Wolle.“
Zwei Philippiner zogen den Vorhang, der vor der Pool-Bar aufgebaut war, auseinander und legten den Blick frei auf einen länglichen Tisch mit Hunderten Plastebechern voller frisch gezapften deutschen Pilsbieres. Eigentlich war das der Begrüßungstrunk des Kapitäns. Wolle aber hatte das erfahren, sich vergewissert, dass dieser nicht persönlich vorbeikam, sodann das Zweitmikrophon ergattert und sich die Runde Freibier auf die eigenen Fahnen geschrieben. Jenny, Kai und der philippinische Barchef der Pool-Bar durchschauten das Manöver. Allerdings sprangen die Seelöwen jetzt erstaunlich behände von ihren Liegen hoch und sicherten sich jeder einen, manche auch zwei der Halbliterbecher. Sie stießen auf Wolle an und ließen ihn hochleben. Dieser strahlte mit den kleinen Augen hinter seinem wallenden Bart hervor, stieß mit jedem fröhlich an und hatte am Schluss selbst einige Becher bei mittlerweile starker Sonnenhitze gekippt. Jenny und Kai waren froh, den Stimmungsfauxpas auf diese Weise ausgebügelt zu wissen. Waka Waka ertönte, und Wolle schritt stark hin und her wackelnd übers Deck und lud andere ein, ihm zu folgen, eine Polonaise zu bilden. Schon bald schlängelte sich ein langer Zug, darunter alle Jüngerinnen des Gesundheitsapostels Sebastian Kneipp aus Stuttgart-Bad Cannstatt und die sächsischen Imker mit Panamahüten, über Liegen, steuerbord an den Tischtennisplatten vorbei zur Afrika-Bar und backbord zurück. Die Stimmung war prächtig. Jenny und Kai strahlten um die Wette. Wolle fühlte sich ermutigt, die Polonaise nun auch die Freitreppe hinauf an den Whirlpools vorbei zum Sonnendeck zu führen. Der Zug geriet ein wenig ins Stocken, als Wolle mit seinen kurzen Beinen Stufe für Stufe der Freitreppe erklomm. Von hinten gab es einen leichten Druck der Polonaisemasse. Plötzlich spürte Wolle ein Kitzeln an seinem Oberschenkel, verursacht durch die Yucca-Palme, die zwischen den beiden oberen Whirlpools zur Staffage stand und afrikanische Assoziationen wecken sollte. Kitzeln hatte Wolle noch nie ertragen! Hinzu kam der Druck der nachrückenden Polonaiseschar und die Wirkung der Pilsbecher. Wolle strauchelte und stürzte mit einem riesigen Platsch in einen der Whirlpools. Zuerst der Kopf und dann der ganze Körper hinterher. Gierig schlürften die Düsen des Pools nach Wasser, das aber nur noch in Restmengen im Pool selbst vorhanden war, dafür in umso größerem Maße jetzt die Freitreppe hinunterströmte. Auf ähnliche Weise musste das Nördlinger Ries entstanden sein, als ein gewaltiger Meteorit einschlug. Wer die Entstehung von Impaktkratern nachvollziehen wollte, war hier Zeuge einer beeindruckenden geologischen Demonstration geworden.
„Wat is denn da vorne los?“, krähte Jupp Schmitz vom Ende des Zuges. Vor ihm auf dem gesamten Pooldeck und oben an der Innenreling des Sonnendecks krümmten sich die NOFRETETE-Gäste vor Lachen. Wolle selbst war äußerst unglücklich mit der Nase auf einer lechzenden Sprudeldüse gelandet, die den Eindruck erweckte, sie wolle ihn in die Eingeweide des Whirlpools hineinziehen. Nur mühsam befreite er sich, richtete sich auf und sah, wieder in der King-Kong-Position auf dem Empire State, die wiehernde Masse. Dieses Mal wusste er, wie er sich zu verhalten hatte, auch wenn er zunächst nicht erkannte, warum das Lachen kein Ende nehmen wollte: Das Whirlpool-Wasser hatte die bei seiner Leibesfülle ohnehin nur rudimentären Stoffelemente der Dienstkleidung so eng an seinen Körper geklebt, dass er problemlos an jedem Wet-T-Shirt-Wettbewerb hätte teilnehmen können. Mit seinen ausgebildeten Brüsten überbot er Gesine Harms um ein Vielfaches. Auch bei einem Wet-Boxer-Short-Contest standen seine Chancen nicht schlecht, wie ein Blick auf den Bereich unterhalb des Bauchansatzes verriet. Wolle Luther, ein moderner Hermaphrodit, zwei in eins. Er blickte an sich herunter, erkannte sein Zwitterwesen und stimmte dann in das Gelächter mit ein. Als ob es die ganze nordafrikanische Festlandsbevölkerung hören sollte, brüllte er vergnügt:
„Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Dass man sie als eines kennt?
Solche Fragen zu erwidern
Fand ich wohl den rechten Sinn.
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Dass ich eins und doppelt bin?“
Lieder, das war das Stichwort für Jenny, ein paar heiße Sommerrhythmen aufzulegen. Die Stimmung war auf dem Siedepunkt. Wolle avancierte binnen kurzer Zeit vom Buhmann zum Liebling. Anerkennend klopfte ihm Kai auf die Schulter. „Gut gemacht! Echt professionell, wie du noch mal die Kurve gekriegt hast, ha, ha!“
Wolles Augen aber wanderten über das Pooldeck. Er sah, wie der Mann, der gefragt hatte, ob er wie der Reformator heiße, von einer Liege im Schatten aufstand. Mit einem Wink forderte er andere, die ebenfalls im Schatten lagen, zum Mitkommen auf. Alles Personen, die bei der Polonaise nicht mitgemacht hatten und auch nicht in Bikini oder Badehose, sondern in unauffälliger Sommerkleidung auf den Liegen unter dem Sonnendeck ausgeharrt hatten. Der Leiter der Gruppe war Cornelius Schwacke, Pfarrer und Luther-Beauftragter mehrerer Kirchenkreise der Evangelischen Kirche in Westostdeutschland, der eine Tagung auf der NOFRETETE über die Perspektiven des Lutherjahres 2017 mit Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Tourismus und Kirche durchführte. Leute, die sich bisher nur von Begegnungen in miefigen Sitzungsräumen her kannten. Kein Wunder, dass die sich nicht gleich voreinander entblößten. Perspektiven zum Lutherjahr 2017, da nehme ich teil, sagte sich Wolle. Doch wie sollte er das anstellen?
Erst einmal hatte er einen Termin beim Kapitän, wie ihm Nadja vom Key Account Management mit bedeutungsschwangerer Miene mitteilte. War es eine Einladung? Oder eher eine Vorladung? Mit vielem rechnete Wolle. Nie aber damit! Seine Vergangenheit sollte ihn auf der NOFRETETE einholen. Der Hammer!