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V
ОглавлениеUlrike Braunholz war, objektiv gesehen, keine makellose Schönheit. Das Gesicht etwas länglich und pausbäckig, die Nase schmal, die Wangenknochen slawisch ausgeprägt, die Figur unauffällig. Sie war nicht der Typ Mädchen, dem alle Jungs mit offenem Mund hinterherstarrten. Aber Didi war seit der ersten Begegnung an der Bushaltestelle vollkommen besessen von ihr. Unerfahren im Umgang mit dem anderen Geschlecht grübelte er Tage und Nächte nach einer Möglichkeit, sie kennenzulernen. Er wartete oft Stunden an der Haltestelle alle Busse ab, die in die Richtung fuhren wie bei der ersten Begegnung mit Ulrike. Nach einigen Tagen hatte er den Rhythmus ihrer Fahrten herausgefunden, registrierte, woher sie kam und wusste bald, dass sie am Mädchengymnasium war. Oft stand er seitdem hinter Büschen oder Bäumen und beobachtete sie, wie sie die Schule verließ oder morgens die Schule betrat. Bei ihrem Gang erschauerte er jedes Mal, mehr Schmerz als Freude empfand er. Das Nachstellen entwickelte sich zu einer Droge, ein Verhalten, das sich von Tag zu Tag steigerte. Mit der Zeit stieg er an ihrer Haltestelle mit aus, verfolgte sie in gehörigem Abstand und wusste bald über ihr Herkommen Bescheid: Ihr Vater war der bekannte Arzt und Stadtrat Dr. Friedrich Braunholz, Internist und CDU-Mitglied. Über die Gartenhecke erkannte er ein grün gefliestes Hallenschwimmbad, das an das Wohnhaus angebaut und am Abend exotisch beleuchtet war. Wenn er Personen durch die Glasbausteinwand schemenhaft ins Bad steigen sah, stellte er sich Ulrike im Bikini vor und bekam ein Gefühl, das mit Wollust nur unzureichend erfasst ist.
Manchmal fragte er sich, ob Ulrike sein Spannen und Nachstellen nicht schon bemerkt hatte. Der Gedanke war ihm gar nicht unrecht, ergäbe sich doch, sollte sie ihn darauf ansprechen, endlich eine Gelegenheit, sie kennenzulernen. Aber nur selten hatte er Blickkontakt, und wenn, sah Ulrike sogleich auf den Boden, wie sie es auch tat, wenn andere in ihre Augen sahen. Sie war scheu, sagte er sich, und mit ihren braunen Kulleraugen erinnerte sie ihn auch optisch an ein Reh.
Um einen Fortschritt zu erzielen, begann er, morgens um 5.00 Uhr aufzustehen und das Haus zu verlassen. Seine Mutter wunderte sich, aber er konnte ihre neugierigen Fragen gut abwenden. Er behauptete, sich am Morgen am besten auf die Schulaufgaben zu konzentrieren. Das Lernen in der Natur falle ihm leichter. In Wirklichkeit begab er sich auf eins der Felder vor der Stadt und pflückte jeden Tag einen kleinen Sommerstrauß, den er vor der Haustür der Angebeteten niederlegte. Allerdings tat er das, ohne eine Nachricht beizugeben, dazu fehlte ihm der Mut. Rational gesehen eine völlig unsinnige Aktion. Aber was ist in dieser Lebenssituation schon rational? Er freute sich, Ulrike später aus dem Bus aussteigen zu sehen und zu wissen, sie hatte sich am Morgen schon über sein Blumengeschenk gefreut. Irgendwie hoffte er auf ein Wunder, auf eine Begebenheit, die die Dinge zum Guten wendete. Das Wunder geschah, aber nicht in der Weise, wie er es sich erhofft hatte. Eines Tages legte er ein Sträußlein aus Klatschmohn und Kornblumen gegen 6.00 Uhr vor den Eingang. Er trat ganz vorsichtig auf die Treppenstufen, um jedes Geräusch zu vermeiden. Doch trotzdem öffnete sich plötzlich die Tür und heraus trat ein älterer, sehr rüstiger Herr, der ihn festhielt und fragte, warum er jeden Tag das Unkraut hier ablege. Es war Ulrikes Großvater, der im Erdgeschoss wohnte und als Frühaufsteher jeden Tag zuerst die Blumen entdeckt und sofort entsorgt hatte. Mühsam riss sich Didi von ihm los und suchte das Weite. Die Aktion, ein totaler Fehlschlag, ein Debakel, von dem er nur hoffte, Ulrike möge es nicht mitbekommen. Denn einen so feigen und anonymen Verehrer, wieso sollte sie den erhören?
So sah er nur noch einen Ausweg: Hubert. Er war der unbestrittene Flirtkönig der Klasse, hatte mit fünfzehn Jahren schon ein gutes Dutzend Freundinnen und mit den meisten „etwas gehabt“, wie er das geheimnisvoll umschrieb. „Jedenfalls mehr als Knutschen“, erläuterte er im Kreis der Mitschüler und genoss die bewundernden Blicke. Ihm, Didi, gegenüber zählte er nicht zu den Oberlästerern, ja, manchmal hatte er das Gefühl, Hubert hege sogar ein paar Sympathien für ihn. Immerhin hatte er ihn bei der letzten Englisch-Arbeit, bei der Hubert neben ihn strafversetzt wurde, ein paar Vokabeln spicken lassen und einen dankbaren Blick geerntet.
Hubert Knabe, der Liebesexperte, der Casanova, der wusste, wie das andere Geschlecht tickte, ihn bewunderte er insgeheim und von ihm erhoffte er sich Rat.
„Hubert, ich habe da so ein Problem“, fing er den Dialog nach der Schule an und nahm in Kauf, Ulrike und ihren Bus an diesem Tag zu verpassen.
„So, na dann schieß mal los!“, ermunterte ihn Hubert.
Didi erläuterte ihm in aller Kürze seine Lage, ohne seine Nachstellungen zu erwähnen, ganz zu schweigen von der misslungenen Blumenaktion.
„So, also einen Rat möchtest du!“, unterbrach Hubert im Stile eines angehenden Eheanbahnungsinstitutsbesitzers endlich die Stille, die nach Didis aufgeregter Rede eingetreten war. „Was ist dir denn der Rat wert?“
Unsicher sah Didi in Huberts Augen, der dem Blick standhielt.
„Möchtest du Geld, Hubert?“
Hubert legte die rechte Innenhand an sein ausladendes Kinn und strich darüber.
„Ja, gute Idee, oder warte. Du hast doch einen neuen Füller, von Pelikan. Hab ich doch bei der Englisch-Arbeit gesehen. Das neueste Modell. Der M150 mit vergoldeter Edelstahlfeder. Mit Tintensichtfenster. Da kenn ich mich aus. Also, ich will dich ja nicht ausnehmen, mit Geld und so. Aber der Füller, der wär nicht schlecht. Hast ja sicher noch den alten!“
Ja, schoss es Didi durch den Kopf, den alten hatte er noch. Aber der kleckerte manchmal und der neue, das war sein Geburtstagsgeschenk. Hatte ihm die Mutter direkt bei Pelikan besorgt, wo ihr Cousin in der Chefetage arbeitete. Sonderpreis und so. Den sollte er abgeben? Aber viel stand auf dem Spiel, alles! Wenn Hubert ihm dafür den todsicheren Tipp gab! Für Ulrike war nichts in der Welt kostbar genug!
„Okay, kannste haben. Dann sag mal an!“
„Erst mal den Füller!“, gab Hubert die Bedingung vor. Bei ihm galt, wie bei Partnerschaftsagenturen, Vorauskasse ohne Anspruch auf Rückzahlung bei Misserfolg.
Nervös kramte Didi den Füller aus seinem Mäppchen hervor und reichte ihn Hubert, der ihn eilig einsteckte. Didis Hände zitterten.
„Na gut, also das läuft so mit den Frauen.“
Hubert holte zu einem umständlichen Exkurs aus, deutete manch gelungene Eroberung an und gab sich wie ein Gunter Sachs oder ein Julio Iglesias auf dem Zenit ihrer Verführungskunst. Ein Charmeur vor dem Herrn, und das mit fünfzehn Jahren. Das jedenfalls legte der gockelhafte Blick in die Ferne nahe, mit denen er die Namen seiner Eroberungen erinnerungstrunken preisgab: Sabine, Linda, Conny, Andrea, jeden Namen mit einem Seufzer versehen, ach, war das schön mit ihr. Die Methode, die er schließlich Didi benannte, um ein Mädchen zu erobern, reichte allerdings nicht an Casanova und seine modernen Nachfahren heran. Nein, sie erwies sich als ausgesprochen schlicht, um nicht zu sagen: primitiv.
„Wo triffst du deinen Schwarm immer?“
„Treffen ist zu viel gesagt“, gab Didi kleinlaut zu, „ich sehe sie halt immer am Bus. Morgens, vor der Schule, und auch am Nachmittag.“
„Ha, stellst ihr wohl nach? Aber egal. Sie geht allein zur Schule? Keine Freundinnen? Und du hast ein Mofa?“
Didi nickte.
„Dann geht das so. Du fährst nicht mit dem Bus in die Schule, sondern mit dem Mofa. Wenn sie den Bus verlässt und zur Schule läuft, fährst du wie zufällig mit dem Mofa seitlich an sie heran.“
Hubert stand auf. Didi sah ihn entsetzt an. Sollte das alles gewesen sein?
„Und dann, was mache ich dann?“, fragte er panisch den Casanova.
„Na, dann ist doch klar, was du machst. Du gehst zum Totalangriff über. Fragst sie: Eh, hallo, willst du mit mir gehen?“
„Wie, so direkt?“
„Na, was denkst du denn! Wer nichts wagt, der gewinnt nicht. Glaub mir, die meisten Weiber sind froh, wenn sie einen abkriegen. Sogar …“, jetzt zögerte er etwas, „sogar einen wie dich.“
„Aber, ich mein, das …“ Didi stammelte nur noch, während Hubert sich entfernte. Der neue Füller war weg. Er hatte keine Ahnung, wie er das seiner Mutter erklären sollte. Und wenn der Vater das erfuhr, setzte es was. Im Hinblick auf Ulrike war er kaum einen Schritt weiter. Sie einfach so anzumachen, mit so einem blöden, frontalen Satz! Darauf wäre er auch von alleine gekommen. Das traute er sich nie! Andererseits: Nichts ging voran. Seit Wochen war er liebeskrank, hatte abgenommen, obwohl sowieso nicht viel an ihm dran war. Kein Appetit, kein Schlaf, in der Schule nur noch schlechte Noten und bei Ulrike kein Millimeter Bewegung nach vorne, nur solche bescheuerten Blumenaktionen mit Totalrückschlägen. Und Hubert war nun mal vom Fach. Ein Flirtprofi. Er musste es wissen.
So wartete er mit springendem Herzen und laufendem Mofamotor etwa dreißig Meter von der Haltestelle entfernt. Ulrike stieg pünktlich aus. Ihre langen, kastanienbraunen Haare wehten im Wind. Langsam fuhr er an. Noch zwanzig Meter. Noch fünfzehn. Ob sie nicht vom plötzlichen Motorengeräusch erschreckt? Das wäre der Supergau. Nein, er schaltete den Motor aus. Sanft rollte er heran, um dann mit leiser Stimme die Frage der Fragen zu stellen. Russisches Roulette. Es gab keine Alternative. Noch zehn Meter. Fünf. Das Mofa glitt lautlos heran. Schon wehten einzelne Haare fast in sein Gesicht. Jetzt, die Wangenknochen, die Augen von der Seite, hatte sie Kontaktlinsen?
„Willst du …“
„Huaaaachhh, Hiiilfeee, uuuaaaaaaah!!!!“
Sie zuckte mit dem ganzen Körper zusammen, drückte sich mit beiden Händen an die Brust, ja ging sogar kurz in die Knie und drohte auf den Asphalt des Fußweges zu stürzen. Mit einem Flackern in den Augen sah sie ihn kurz an. Dann begann sie zu rennen, wie um ihr Leben. Immer schneller, schulwärts. Nichts wie weg von diesem gespenstischen Kerl, der sie da so irrsinnig erschreckt hatte.
Didi schlug mit beiden Fäusten auf das Lenkrad seines Mofas ein, schrie mit undefinierbaren Lauten sein ganzes Elend heraus, nicht ahnend, dass Ulrike, an der Schule angekommen, einen Blick zurückgeworfen hatte und ihn nun so sah. Ein irre zuckender und wild brüllender Junge, der, so vermutete sie, dringend einer psychischen Behandlung bedurfte.
Mit dieser Einschätzung lag sie nicht ganz verkehrt. Didis Noten in der Schule verschlechterten sich nochmals. Am Ende des Schuljahres erfuhren Christel und Erich Dollmann vom Klassenlehrer Weschke, Didis Noten reichten nicht für die Versetzung in die nächste Klasse.
„Wissen Sie denn, was er hat, Frau und Herr Dollmann? Er ist immer so unkonzentriert. Wenn ich nur wüsste, wo er mit seinen Gedanken spazieren geht?“
Mit siebzehn hatte Didi seine erste Freundin, Lisa, die sich ins Kino, in die Eisdiele einladen ließ. Sie war ein Jahr jünger und durfte noch nicht in die Disco. So sagte sie. Strenge Eltern und so. Bei einem Discobesuch auf eigene Faust entdeckte er sie und wusste, warum sie ihn nicht dabeihaben wollte. Sie knutschte mit dem Discjockey wild hinter der Musikanlage. Danach kam Babsi, 18 Jahre, mit großer Brille, vielen Pickeln und ziemlich korpulent. Sie war das Mauerblümchen der Schule. Zum ersten Mal schlief er mit einer Frau oder, besser gesagt, er versuchte es. Aber er war zu nervös, das mit dem Kondom gestaltete sich schwierig, und so blieb ihm nur Petting, die libidinöse Magerkost der Generation Mofa.
Sein Außenseiterdasein in der Schule, seine Misserfolge in der Liebe, die fehlende Nestwärme im Elternhaus, sie stürzten ihn in depressive Phasen. Nach dem mühselig erworbenen Abitur streifte er stundenlang über die Felder um Bruchköbel und um den Schmelz-Weiher, oft mit der Gitarre unter dem Arm. Er improvisierte, dachte über die Zukunft nach. Langsam wandelte sich der Frust in Trotz. Ja, wartet nur ab, ihr alle, die ihr mich so demütigt! Euch allen werde ich es noch zeigen! Jedem von euch! Wartet nur ab!