Читать книгу Lågomby - Felix Maier-Lenz - Страница 10
Mittwoch
ОглавлениеSchwungvoll rollte der kleine Corsa durch den Kreisverkehr. Marie drehte eine Extrarunde, um sich zu orientieren, dann nahm sie die Ausfahrt mit dem Richtungshinweis „Norwegen“.
Die Polizeistation von Lågomby lag etwas außerhalb des Zentrums, am nordwestlichen Ende der Storgata, kurz bevor diese wieder in die Landstraße Richtung norwegischer Grenze mündete. Schon nach wenigen hundert Metern erspähte sie ein graues 50er-Jahre-Gebäude mit der Aufschrift Polis. Sie bog auf den Parkplatz ein, lenkte ungebremst auf einen der freien Plätze und hielt dort ruckartig.
Sie war am Morgen nur kurz ins Büro gefahren, um Lennart Bescheid zu sagen, und dann direkt weitergefahren, weil Kommissar Holmgren sie zu einem Gespräch gebeten hatte. Lennart hatte das Büro schließen und sie begleiten wollen. Doch Marie hatte darauf bestanden, alleine zu gehen. Warum, wusste sie selbst nicht genau. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie sich in ihrem neuen Leben möglichst selbstständig bewegen wollte. Es fühlte sich wichtig an, nicht auf ständige Assistenz angewiesen zu sein, egal ob diese professioneller, sprachlicher oder emotionaler Natur war. Sie wollte ernstgenommen werden und sich auf keinen Fall als die arme Deutsche, die traumatisiert aus der Begegnung mit der Moorleiche hervorging, einen Namen machen. Auch wenn da vielleicht sogar etwas dran war.
Marie stellte den Motor ab und blieb noch einen Moment hinterm Steuer sitzen. Dann stieg sie aus und ging langsam auf das unscheinbare Gebäude zu. Vom Regen des Vortages waren nur noch einige Pfützen am Bordsteinrand übrig. Der Himmel war bereits wieder blau und die Luft roch frisch. Schon als sie die wenigen Stufen zum Gebäude hinauf ging, ertönte der Türsummer. Sie sah sich unbehaglich um und blickte in eine Kamera, die direkt über dem Eingang platziert war. Dann drückte sie die schwere Tür auf. Sie betrat einen Vorraum, der von einem müde dreinblickenden Pförtner bewacht wurde. Noch bevor Marie sich mit einem sorgfältig eingeübten Satz vorstellen konnte, ertönte ein fröhliches „Hier!“ aus dem dahinter liegenden Gang. Der Pförtner nickte knapp und Marie ging weiter.
In einem Türrahmen wenige Meter entfernt wurde sie von einer jungen Frau mit kurzem, schwarz gefärbtem Bob und rot-weiß gepunktetem Rockabilly-Haarband erwartet. Mit unverhohlener Neugier sah sie Marie an und stellte sich als Holmgrens Assistentin Liza vor. Ohne Nachfrage schenkte sie Marie in einer kleinen Kaffeeküche eine Tasse ein, schob sie damit über den Flur und ein paar Türen weiter in ein Zimmer, direkt vor den Schreibtisch des Kommissars. Bengt sah auf.
„Ah, Marie. Bitte, setz dich doch. Wie geht‘s dir heute?“, begrüßte er sie in seinem leicht schleppenden Dialekt. Marie nickte nur und nahm Platz.
„Du bist noch nicht lange in Schweden, nicht wahr?“
Bengt strahlte sie an, als hätte er in ihr eine alte Freundin wiedergetroffen. Genau wie Lennart überraschte der Kommissar sie mit seiner offenen Art. Ihre Schwedisch-Lehrerin zuhause hatte ihre Landsleute immer als introvertiert und zurückhaltend beschrieben. Offensichtlich hatte es sie noch nie nach Lågomby verschlagen.
Marie schüttelte den Kopf. „Ich bin am Sonntag angekommen.“
„Und – wie gefällt es dir?“
Marie schaute ihn irritiert an. War das sein Ernst? Und was sollte diese Plauscherei überhaupt? Sie zuckte vage mit den Schultern.
Bengt wurde ernst. „Das ist keine schöne Sache. So etwas ist hier noch nie passiert. Also fast nie. Nicht, dass du glaubst, hier liegen überall Leichen im Wald rum.“
Er lachte verlegen.
„Weiß man denn schon, wer die Frau ist?“
Bengt seufzte. „Nein. Bislang hat sie niemand erkannt. Wir checken im Augenblick die Vermisstenanzeigen aus ganz Schweden.“
„Aber ich hab sie doch gesehen. Samstagnacht. Gleich nach meiner Ankunft. Und am nächsten Morgen im Ort noch einmal, glaub ich.“
Bengt hob die Augenbrauen und sah sie eindringlich an.
„Du bist die Einzige, die glaubt, sie gesehen zu haben. Und du bist dir nicht sicher.“
Er seufzte noch einmal, schwerer als zuvor. Marie lehnte sich vor und sah dem Kommissar fest in die Augen.
„Doch. Ich bin mir sicher. Es war dunkel, aber ich hab sie trotzdem erkannt.“
Bengt spitzte die Lippen und zog scharf die Luft ein.
Maries Gedanken schweiften ab: War diese nordische Eigenart immer zustimmend, oder konnte sie auch skeptisch gemeint sein? So oder so wurde sie das Gefühl nicht los, dass der Kommissar ihre Aussage nicht ganz ernstnahm. Klar – sie war bei der nächtlichen Begegnung im Haus total übermüdet und erschrocken gewesen. Dennoch war sie fest davon überzeugt, sich nicht getäuscht zu haben. Die Augen dieser Frau würde sie niemals vergessen. Nicht ihre totale Überraschung, als sie Marie im Haus gesehen und nicht ihr leeres Starren, als Marie sie wenige Tage später im Wald gefunden hatte. Beim Gedanken daran lief Marie noch einmal ein leichter Schauer über den Rücken. Sie spürte Bengts Blick auf sich und bereute sofort, dass sie sich nicht besser unter Kontrolle hatte.
„Und was ist mit der Wunde am Kopf?“, bemühte Marie sich wieder zu den Fakten zurück zu kehren.
„Das untersuchen wir noch.“
„Ist sie gestürzt?“
„Wenn, dann nicht dort. Am Fundort waren keinerlei Hinweise darauf zu finden.“
„Also hat sie jemand dort hingelegt.“ Maries Augen weiteten sich. „Dann war es Mord?!“
Bengt räusperte sich. Es war ihm anzusehen, dass er seine letzten Sätze am liebsten zurückgenommen hätte. Er betrachtete Marie mit ehrlicher Besorgnis.
„Ich habe dich hierher gebeten, weil ich dir die Möglichkeit geben wollte, ganz offen über das zu sprechen, was du gesehen hast.“
Marie wusste nicht so recht, was sie dazu sagen sollte.
„So etwas ist nicht leicht, für niemanden“, fügte Bengt hinzu.
Marie sah ihn nur unverwandt an. Sie wollte jetzt kein Mitleid, sondern Erklärungen.
„Ich bin okay“, murmelte sie schließlich und ließ ihren Blick auf die Tischplatte zwischen ihnen sinken.
Bengt nickte, als wüsste er genau, was in ihr vorging.
„Oft spürt man die Nachwirkungen von so einem Ereignis erst viel später, das ist ganz normal.“
Er beobachtete Marie, doch die reagierte auch darauf nicht.
„Ich möchte dir nur sagen, dass du jederzeit zu uns kommen kannst. Wir haben hier Spezialisten. Die kennen sich bestens mit Traumata dieser Art aus.“
Marie probierte es mit einem Lächeln, ließ es aber gleich wieder bleiben, als sie merkte, wie gequält es sich anfühlte. Die Situation war ihr unangenehm. Warum interessierte sich Holmgren überhaupt für sie? Er sollte sich lieber um die unidentifizierte Leiche kümmern.
„Vielen Dank. Aber ich bin wirklich okay.“ Sie rückte an den Rand ihres Stuhls vor. „War das alles?“
Bengt lächelte. „Ja. Ja, das war schon alles.“
Marie stand auf. An der Tür hielt sie noch einmal inne.
„Kommissar Holmgren?“
„Bengt. Nenn mich Bengt. Das machen hier alle.“
Marie nickte. „Sagt ihr mir Bescheid, wenn ihr wisst, wer die Frau ist?“
Bengt verzog das Gesicht.
„Das geht leider nicht. Nicht, solange die Ermittlungen laufen.“
Marie lächelte schwach.
„Und wenn es mir helfen würde? Das Ganze zu verarbeiten, meine ich.“
Bengt sah sie erstaunt an. Dann lächelte er zurück.
„Ich kann nichts versprechen, Marie. Aber wir sehen uns die nächsten Tage bestimmt noch.“
Marie nickte und verließ das Büro.
Marie ließ das Auto auf dem Polizeiparkplatz stehen und schlenderte ein bisschen ziellos durch die Straßen. Lennart hatte ihr eindringlich versichert, dass er den Vormittag problemlos alleine übernehmen könne und sie sich bloß nicht beeilen solle.
Das Treffen mit dem Kommissar hatte sie aufgewühlt. Bis jetzt hatte sie sich an die Möglichkeit geklammert, dass die Frau durch einen unglücklichen Sturz im Wald ums Leben gekommen war. Nun war klar, dass die Polizei von Mord ausging.
Zudem ärgerte Marie sich darüber, dass Holmgren – Bengt – ihre Aussage gar nicht richtig ernst genommen hatte.
Aber was hatte sie auch erwartet? Selbst wenn es stimmte, dass die Frau am Haus die gleiche war wie die unbekannte Tote, half das bei der Suche nach ihrer Identität kein bisschen weiter.
Marie sah sich um. Hier am nordwestlichen Stadtrand hatte sich während des Bergbau-Booms nach dem zweiten Weltkrieg eine Wohnsiedlung für die Arbeiter gebildet. Sie fand einen kleinen Supermarkt und ging hinein – jetzt brauchte sie dringend etwas Süßes.
Tatsächlich ließ das skandinavische Süßigkeitensortiment sie für kurze Zeit ihren Unmut vergessen. Statt der üblichen Auswahl an Gummibärchen und Schokoriegeln erstreckte sich vor ihr eine ungewohnte Vielfalt an Lakritzmischungen, sauren Fruchtgummis, Zuckerstangen und Schokoladensorten, die sie noch nie gesehen hatte. Marie entschied sich für eine ungefährlich wirkende Tüte mit sauren Drops.
Auf dem Weg zur Kasse fielen ihr zwei Mädchen auf, die sich laut lachend unterhielten und sich im Vorbeigehen an einem mannshohen Kühlschrank bedienten, in dem kleine runde Plastikdosen in unterschiedlichsten Farben ausgestellt waren. Neugierig betrachtete Marie den Inhalt des Kühlschranks. Sie öffnete ihn und nahm eine Dose mit der Aufschrift Original heraus. Am Rand befand sich ein Aufdruck, der den Warnungen auf Zigarettenschachteln ähnelte. Jetzt erinnerte sie sich daran, dass ihre Lehrerin etwas über diese „schwedische Unart“, wie sie es nannte, erzählt hatte. Snus war ein speziell präparierter Tabak, den man sich in kleinen Päckchen zwischen Oberlippe und Zahnfleisch schob.
Zuhause war Marie die klassische Party-Raucherin gewesen. Zumindest als sie noch auf Partys gegangen war. Mit einem verheirateten Mann ließ man sich schließlich nicht allzu oft in der Öffentlichkeit blicken. Die letzten Jahre hatte sie keine Zigarette mehr angerührt. Trotzdem ging sie nun mitsamt der kleinen Dose zur Kasse. Schließlich wollte sie sich nicht den Sitten des Landes verschließen.
Die Kassiererin scannte die Ware und bat um Maries Personalausweis. Marie sah sie überrascht an. Das war ihr schon ewig nicht mehr passiert. Sie kramte hektisch in ihrem Portemonnaie und fragte sich, ob sie sich nun geschmeichelt fühlen sollte oder nicht. Endlich fand sie ihren Ausweis, reichte ihn der Kassiererin und wartete gespannt ab, wie die reagieren würde. Die Frau starrte erstaunlich lange auf Maries Geburtsdatum. Dann reichte sie ihr wortlos den Ausweis zurück, kassierte das Geld und wandte sich gelangweilt ihren Nägeln zu.
Draußen öffnete Marie neugierig die Dose. Die Portionen waren wie Mini-Teebeutel abgepackt und strahlenförmig aufgereiht. Marie roch daran und hielt die Dose dann angeekelt von sich weg. Der Tabak gab einen feuchten und stechenden, fast Urin-artigen Geruch von sich. Etwas zögerlich nahm Marie einen Beutel und schob ihn sich unter die Oberlippe. Sie spielte mit der Zunge daran herum, um ihn an eine passende Stelle zu schieben, doch es fühlte sich weiterhin an wie eine unglücklich positionierte Zahnspange. Dass sich so überhaupt eine Wirkung entfalten würde, konnte sie sich kaum vorstellen.
Zurück am Auto hatte Marie einen Plan gefasst. Die Identität der toten Frau ließ ihr keine Ruhe. Immer wieder beschäftigte sie die Frage, wer sie war und was sie in der Nacht an ihrem Haus gesucht haben konnte. Könnte das vielleicht sogar etwas damit zu tun haben, dass sie jetzt tot war?
Sie wollte unbedingt mit Lennart darüber sprechen. Er war in Lågomby aufgewachsen und gut vernetzt. Entschlossen startete sie den Wagen und fuhr los.
Sie war erst auf halber Strecke, als ihr plötzlich schlecht wurde. Ihr Kopf fühlte sich merkwürdig leicht an, während sich in ihrem Bauch alles drehte. Sie schaffte es gerade noch, rechts ranzufahren, lehnte sich über den Beifahrersitz und übergab sich durch die geöffnete Tür in den Straßengraben. Erschöpft blieb sie einen Augenblick quer über die beiden Sitze ausgestreckt liegen. Das war knapp gewesen. Dann fischte sie den ausgelutschten Beutel Tabak unter der Lippe hervor. Angewidert warf sie das Ding in den Graben. Sie raffte sich auf, schloss die Tür und fuhr langsam weiter.
Im Büro angekommen, steuerte Marie zielstrebig den Besucherstuhl vor Lennarts Arbeitsplatz an. Der sah überrascht von einer Kalkulation der verfügbaren – und größtenteils ungenutzten – Besucherunterkünfte in der Region Lågomby auf.
„Hej Marie!“
Marie lächelte kurz. Sie mochte es, wie Lennart ihren Namen aussprach. Das weich gerollte R verlieh dem bisher immer so unspektakulären Marie eine fast exotische Note.
„Alles okay? Du bist ja ganz blass.“
„Mir ist nur ’n bisschen schlecht. Hab zu viele Süßigkeiten gegessen.“
Sie hob die Tüte mit den sauren Drops in die Höhe.
„Ah ja, Schweden und seine Süßigkeiten. Da braucht man jahrelange Erfahrung, um damit umgehen zu können.“
Lennart schmunzelte. „Wie war‘s bei Bengt?“, fragte er nach einer kurzen Pause in einem so beiläufigen Tonfall, als sei Marie bei ihrer Oma zum Kaffeeklatsch gewesen.
Sie seufzte. „Keine Ahnung. Ich weiß eigentlich gar nicht, was er von mir wollte.“
Lennart hob die Augenbrauen. „Du bist immerhin eine wichtige Zeugin. Die die Leiche gefunden hat.“
„Ja, eben. Aber er wollte gar nichts von mir wissen. Er hat mir nicht einmal geglaubt, dass ich die Frau vorher schon mal gesehen habe.“
Marie ließ sich frustriert gegen die Stuhllehne zurückfallen. Sie wünschte sich einfach nur noch, dass das alles nie passiert wäre. Dass sie sich nicht im Wald verlaufen hätte, dass sie dabei nicht über eine Leiche gestolpert wäre, und vor allem, dass sie nicht immer wieder diese verdammten Augen vor sich sehen müsste, sobald sie auch nur für eine Sekunde aufhörte, ihr Gehirn aktiv zu beschäftigen. Aber weil das alles nicht rückgängig zu machen war – vielleicht auch, weil es ihr zunehmend schwerer fiel, positiv zu bleiben –, wollte sie wenigstens wissen, was genau passiert war.
Sie suchte Lennarts Blick. „Was ist das eigentlich für ein Haus, in dem ich wohne? Ich meine, wer wohnt da sonst?“
„Im Waldhaus? Das wird für alles Mögliche genutzt. Früher war es ein Gästehaus der Alfredssons. Als der alte Pärre gestorben ist, hat er das Haus der Gemeinde vermacht. Seitdem ist es eine Gelegenheitsunterkunft für jeden, der eine braucht. Waldarbeiter, Jäger, … Vor ein paar Jahren hat sich eine Langläuferin dort eingemietet, die hier ungestört trainieren wollte.“ Lennart grinste. „Da hat halb Lågomby sich schon als Olympiastützpunkt gesehen. Leider hat sie sich nach wenigen Wochen den Knöchel gebrochen. Damit war die Saison für sie gelaufen. Und für uns auch.“
„Das war nicht zufällig die unbekannte … ?“ Marie stockte. Das Wort Tote wollte ihr nicht über die Lippen kommen.
Lennart schüttelte den Kopf. „Anna Larsson hat ihre Karriere danach an den Nagel gehängt. Ich glaube Lågomby war von vornherein ihr letzter verzweifelter Versuch, es ins Nationalteam zu schaffen. Inzwischen arbeitet sie bei der Nachwuchsförderung in Umeå.“
„Vielleicht wollte die Frau ja jemanden besuchen, der dort mal gewohnt hat. Einen … Waldarbeiter oder Jäger oder so?“
Ächzend unterbrach Marie ihren eigenen Gedankengang. Beinahe entschuldigend sah sie zu Lennart auf, der sich nun von seinem Bürostuhl erhob und neben Marie an den Schreibtisch lehnte.
„Ich möchte doch nur wissen, was sie bei mir gesucht hat. Vielleicht hätte ich ihr ja helfen können.“
Sie ärgerte sich, dass ihre Stimme nun doch weinerlich klang. Aber als Lennart sich zu ihr herunterbeugte und sie vorsichtig an sich drückte, gab sie endlich nach. Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter und drückte ihre Tränen in sein noch neu riechendes Hemd.