Читать книгу Lågomby - Felix Maier-Lenz - Страница 6
Samstag
ОглавлениеGedankenversunken starrte Marie Richtung Horizont, wo Wasser und Himmel in einem stufenlosen Grau miteinander verschmolzen. Hin und wieder kreuzte eine Möwe ihr Gesichtsfeld. Ansonsten nahm sie nur die ermüdende Eintönigkeit der frühsommerlichen Ostsee wahr.
Der Fahrtwind legte sich feucht auf Maries Gesicht. Um sie herum tummelten sich urlaubsgestresste Familien und Skandinavien-erfahrene Rentnerpaare, die sich in ihren schlammfarbenen Funktionsjacken kaum von der Umgebung abhoben und die wettergegerbten Gesichter genießerisch in die Richtung reckten, wo sie die Sonne vermuteten.
All das drang nur wie durch einen Schleier zu Marie durch.
Erst der dumpfe Hall des Schiffhorns, der ihr mit anschwellender Wucht in den Bauch fuhr, riss sie aus ihrer Gedankenwelt. Marie atmete tief ein. Die mild salzige Luft löste ein beruhigendes Gefühl in ihr aus.
Ein paar Kinder rannten ausgelassen an die Reling, um dem entgegenkommenden Schiff zuzuwinken. Verwundert stellte Marie fest, dass sie bei ihrem Anblick fast so etwas wie Neid empfand. Es war schon komisch – als Kind konnte es einem gar nicht schnell genug gehen, erwachsen zu werden. Und wenn es dann soweit war?
Sie hob den dampfenden Kaffeebecher in ihrer Hand und atmete den flachen bitteren Geruch von Automatenkaffee ein. Seufzend nahm sie einen Schluck. Vermutlich war es symptomatisch, dass sie sich eher mit den spielenden Kindern identifizierte als mit deren Eltern, die auf verblichenen Plastiksesseln saßen und gerade die Reste eines ausgiebigen Fahrtenpicknicks von den Rettungsbojen räumten.
Hatte sie mit ihrer Abreise überstürzt gehandelt? Hätte sie Alex vielleicht doch eine Chance geben sollen, jetzt, wo er sich endlich für sie entschieden hatte?
Marie schüttelte den Kopf, wie um diese Gedanken zu vertreiben. Aufs Wasser starrend trank sie den Kaffee. Sie konnte sich selbst nicht erklären, was genau sie zu diesem Schritt veranlasst hatte. Warum sie ausgerechnet jetzt ihr Leben in die Hand nehmen und noch einmal ganz von vorne anfangen wollte. Alleine. Irgendetwas tief in ihr drin hatte diesen Entschluss getroffen, genau in dem Moment, als Alex ihr freudestrahlend von der Entscheidung erzählt hatte, sich von seiner Frau zu trennen. Noch nie zuvor hatte sie so impulsiv gehandelt.
Marie zerdrückte den leeren Becher in einer Hand, zielte und versenkte ihn treffsicher in einem nahe stehenden Abfalleimer. Ein kleiner Junge sah mit bewunderndem Blick zu ihr auf. Marie zwinkerte ihm zu, während in der Entfernung die ersten Gebäude von Trelleborg sichtbar wurden.
Nach und nach machten sich alle Passagiere auf den Weg hinunter zum Autodeck. Nur Marie blieb stehen. Bis zum letzten Moment beobachtete sie, wie sich das Schiff dem Land, der Stadt, dem Hafen näherte. Ein winziges Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Irgendwie fühlte es sich richtig an, nicht genau zu wissen, was sie auf der anderen Seite erwartete.
Maries Blick heftete schläfrig auf der Straße. Auf dem Rücksitz ihres alten Corsas standen zwei Reisetaschen. Bei ihrer Abreise hatte sie nur das Nötigste gepackt. Alles andere hatte sie kurzerhand verschenkt, gespendet oder auf dem Speicher ihrer Eltern verstaut.
Seit Stunden schlängelte sie sich nun schon auf einer immer schmaler werdenden Landstraße durch endlose Nadelwälder. Der Tacho stand stoisch auf 90 km/h, seit sie am Abend bei Umeå die Autobahn verlassen hatte. Kurz hinter der kleinen Ortschaft Vännäs schaltete sie von ihrer Playlist, die sie seit gestern mindestens drei Mal durchgehört und eigentlich von Anfang an gelangweilt hatte, auf Radio um. Sie wechselte den Sender, als Bon Jovis „Living on a Prayer“ ihr einen headbangenden Alex vor Augen führte, versuchte den allgegenwärtigen Evergreens von ABBA zu entkommen und blieb schließlich bei einem Song hängen, der in bestem Oldschool-Rock die kurzen schwedischen „Sommartider“ beschwor. Die Stimme des Sängers weckte eine unbestimmte Erinnerung in Marie.
Sie hatte schon fast aufgehört die Stunden zu zählen, als sie endlich Lycksele passierte, von wo aus es laut Navi nicht mehr allzu weit bis Lågomby war. Beim Blick aus dem Fenster stellte Marie mit einer Art unruhigem Erstaunen fest, wie klein und beschaulich hier alles wirkte. Es war kaum jemand auf der Straße zu sehen. Und das, obwohl es draußen noch beinahe taghell war.
„Kein Wunder, dass es hierhin keine Touristen verschlägt“, murmelte sie vor sich hin und versuchte vorsichtig, sich hinterm Steuer zu strecken. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass es alles andere als eine leichte Aufgabe war, für die sie sich so bereitwillig gemeldet hatte.
Wie um sich zu beruhigen, erinnerte sie sich an einen Artikel, den sie kürzlich auf der Arbeit gelesen hatte, laut dem immer mehr Menschen im Urlaub die Einsamkeit suchten.
Als sie sich der Adresse am Ortsrand von Lågomby näherte, die Lennart Sandberg ihr als Unterkunft genannt hatte, war es bereits nach Mitternacht. Trotzdem erschien der Himmel noch immer in einem schwachen Dämmerlicht.
Sie bog von der Hauptstraße ab und fand sich auf einer Art Waldweg wieder. Am Anfang des Björnvägs passierte sie noch zwei, drei Häuser, dann kam lange nichts. Eine Straßenbeleuchtung gab es nicht. So hell es ihr eben noch vorgekommen war, so sehr wurde nun das fahle Nachtlicht durch die immer dichter stehenden Bäume geschluckt.
Marie fuhr langsamer. Genau in dem Moment, in dem der Weg als Sackgasse endete, erklang die zuversichtliche Mitteilung aus dem Navi: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“
Etwas ratlos schaute sie sich um. Weit und breit waren nur die dunklen Schatten der Bäume und der Weg, über den sie hergekommen war, zu sehen. Sie warf einen Blick auf das Navi. Sollte sie etwa ein falsches Update geladen haben?
Seufzend stieg sie aus. Die Luft war kühler als erwartet. Marie zog die Ärmel ihres Sweatshirts über die Hände und verkreuzte die Arme vor der Brust. Unsicher lief sie um das Auto herum. Mit einem Mal fühlte sie sich schrecklich einsam. Nervös spähte sie zwischen die Bäume. Björnväg – ob es hier wohl noch Bären gab? Sie fröstelte.
‚Verdammt gutes Setting für einen Thriller‘, schoss es ihr durch den Kopf. Wie auf Kommando ertönte aus dem Wald ein leises Knacken. Marie erstarrte. Sie glaubte einen Schatten zwischen den Bäumen gesehen zu haben. Konzentriert fixierte sie die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Nach und nach erkannte sie die Umrisse eines alten Tors – einer Einfahrt. Erleichtert atmete sie auf.
Schnell setzte sie sich wieder in den Wagen, manövrierte ihn herum und bog zwischen zwei hohen Fichten in einen überwucherten Weg ein. Das Auto holperte über Wurzeln und Grasbüschel. Dann lichteten sich die Bäume und machten plötzlich den Blick auf den sommerlichen Nachthimmel frei. Darunter, mitten in einem verwilderten Garten, tauchte ein kleines Haus vor Marie auf.
Sie parkte und stieg aus. Fasziniert sah sie sich um.
Am Eingang versuchte sie sich an die genauen Worte von Lennart Sandberg zu erinnern, der ihren Schlüssel irgendwo auf der Veranda hatte verstecken wollen. Marie betrachtete die Steine, die dekorativ vor dem Eingang drapiert lagen, und hob den größten an. Lächelnd zog sie einen Schlüssel hervor.
„Na klar. In Bullerbü ist die Welt noch in Ordnung.“
Marie war sich nicht sicher, ob sie von dem Geräusch wach geworden war oder vom Versuch, ihren Träumen zu entkommen. Darin war sie allein gewesen. Nicht einsam, einfach allein. Eigentlich kein Grund zur Beunruhigung. Sogar ein Zustand, den sie in den meisten Fällen genoss. Bisher zumindest. Aber irgendetwas hatte sich in diesem Fall unangenehm angefühlt. Als ob ihr etwas fehlte, von dem sie nicht wusste, was es war.
Zeit darüber nachzudenken hatte sie jetzt allerdings nicht. Denn da war es wieder, das Geräusch. Dieses Mal war sie sich sicher, es wirklich gehört zu haben. Es kam von unten, von der Eingangstür. Eine Art Kratzen oder Schleifen.
‚Ob Bären Zuflucht in Häusern suchen?‘ Marie setzte sich ruckartig im Bett auf und schaltete die Nachttischlampe an. Sie zögerte einen Moment. Dann glitt sie vorsichtig aus dem Bett. Im Aufstehen hob sie ihren Kapuzenpullover vom Boden auf und streifte ihn schnell über. Sie öffnete die Zimmertür und horchte – nichts. Leise trat sie auf den Flur. Auf Zehenspitzen schlich sie weiter Richtung Treppe. Die Treppenstufen knarrten unter jedem ihrer Schritte – ein Geräusch, das ihr bei ihrer Ankunft überhaupt nicht aufgefallen war, aber in diesem Moment kam es Marie vor, als trete sie auf einen Haufen zusammengekehrtes Herbstlaub.
Den Bären schien das jedoch nicht aufzuhalten – er war offenbar mit Türklinken vertraut war. Entsetzt sah Marie, wie diese nun von außen nach unten gedrückt wurde.
Sie hätte doch ihrem deutschen Naturell nachgeben und abschließen sollen. Stattdessen hatte sie bei ihrer Ankunft beschlossen, sich von Anfang an auf die schwedischen Gepflogenheiten einzulassen.
Marie stoppte ihren Vormarsch. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie jedweder Gefahr, die ihr durch die Tür entgegenkommen konnte, vollkommen wehrlos gegenüberstand. Alex kam ihr in den Sinn. Alex, der ihr in solchen Situationen auch nie eine Hilfe gewesen war. Wann immer sie ihn wirklich gebraucht hatte, war er bei seiner Familie gewesen.
‚Das einzig Gute an einer Beziehung mit einem verheirateten Mann ist wahrscheinlich, dass man sich danach nicht einsamer fühlen kann als währenddessen.‘ Bevor ihre Gedanken weiter abdriften konnten, wurde die Eingangstür aufgedrückt.
Vor dem einfallenden Dämmerlicht erschien eine menschliche Silhouette.
Marie hielt den Atem an. Ihre Fingernägel krallten sich ins Treppengeländer. Sie stand wie erstarrt und hoffte, mit dem Hintergrund des dunklen Wohnzimmers zu verschwimmen.
Die Gestalt verharrte im Türrahmen. Hatte sie Marie schon entdeckt?
Einen Moment schienen beide die Situation abzuwägen.
Plötzlich ertönte ein Knarzen von oben. Der Luftzug, der durch die geöffnete Eingangstür entstanden war, hatte die Tür zu Maries Schlafzimmer weiter aufgestoßen, sodass nun der schwache Lichtschein ihrer Nachttischlampe die Treppe hinunter ins Wohnzimmer fiel. Für den Bruchteil einer Sekunde blickten die beiden Frauen sich direkt in die Augen.
Dann knallte es über Marie. Alles wurde dunkel. Erschrocken drehte sie ihren Kopf nach oben und sah, dass die Schlafzimmertür zugefallen war. Der Wind musste sich in Sekundenschnelle gedreht haben.
Als Marie ihren Blick wieder zum Eingang wandte, war die Frau verschwunden.