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Ich habe diesem Tag gleich beim Aufstehen nicht getraut.

Der leichte röchelnde Schlaf, die quälenden Gedanken an Krankheit, die Bilder von Corona-Patienten auf den Intensivstationen schrecken mich immer wieder hoch. Um sechs bin ich schon auf den Beinen und versuche die Unruhe der Nacht mit Entspannungsübungen und einer halben Alprazolam zu dimmen. Beim Frühstück stoße ich die Teetasse um, aber das ist nichts Neues.

Als ich zum Taxistand am Adenauerplatz laufe, muss ich auf halbem Weg zurück, weil ich die Mundschutzmaske vergessen habe. »Ich muss in zwanzig Minuten in der Charité in Mitte sein«, sage ich zum Fahrer, als ich den Matsch vom Aprilschnee am Trittbrett von den Schuhen klopfe. Der Fahrer lässt einen Wortschwall auf mich nieder. Ich verstehe nur, dass ich früher hätte aufstehen sollen. Für ihre ruppige Anschnauzerei sind die Berliner Taxifahrer ja bekannt.

Dann aber manövriert er mich ortskundig an den verstopften Hauptstraßen vorbei und setzt mich vor einem Zugang der Charité ab, der wegen der Pandemie »aus Sicherheitsgründen« geschlossen ist. Ich laufe, nein ich renne von einem zum anderen Ende des Campus, der die Ausmaße eines mittleren Dorfes hat. Die Arzthelferin schaut streng auf die große Wanduhr vor dem Arztzimmer: »Sie sind aber arg verspätet.«

In kribbeliger Erwartung betrete ich das Zimmer des Professors. Es ist so weiß wie sein tadelloser Arztkittel und so karg möbliert, dass es ortlos wirkt. Das Gesicht des Arztes, der einen internationalen Ruf genießt, kenne ich nur von Fotos aus dem Internet. Jetzt verbirgt er seine freundlichen Züge hinter einer Maske, die wie ein Schalldämpfer auf seine Stimme wirkt.

Mit einem süddeutschen Akzent erkundigt er sich nach meinem Befinden. Er lässt die Blätter des Laborberichts ein paar Mal zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her gleiten, bis er die Stelle findet, die er mit einem roten Filzstift gemarkert hat.

Die Pause empfinde ich als beängstigend. In die Stille hinein empfiehlt er eine Rückenmarkbiopsie und spricht davon, dass die Blutwerte eine monoklonale Gammopathie anzeigen.

»Was ist das?«, frage ich.

»Wir müssen ausschließen, dass es sich um etwas Bösartiges handelt.«

»Krebs?«

Der Professor deutet ein Nicken an.

Kaum ist das Wort heraus, wird es dunkel vor meinen Augen. Es ist, als ginge schlagartig das Licht im Arztzimmer aus an diesem düsteren Apriltag. Eine finstere Macht krallt sich um mein Herz. Der Puls klettert bis zum Hals. Die Wörter laufen mir weg, ohne dass ich sie kontrollieren kann, als ich mit der resoluten Arzthelferin einen Termin für die Biopsie vereinbare.

Da ist es wieder, dieses Gefühl. Es ist so betagt wie ich, es ist mein lebenslanger Begleiter. Ich kenne das alles. Es ist wie das Crescendo in der Musik, steigt langsam an, erreicht einen Höhepunkt und verebbt dann wieder. Es verändert für Wochen und Monate mein Leben, wie damals, als meine Frau mich verlassen hat, oder wie jetzt, wenn das böse Wort Krebs fällt. Es ist ein diffuses Gefühl existenzieller Bedrohung, dem man hilflos ausgeliefert ist. Es ist so, als hechle ein großer bissiger Hund ständig hinter einem her. Es ist Grauen, Lähmung und Panik in einem und kommt von tief unten aus einer Seelenschicht, in die das, was man mit dem Allerweltsbegriff Angst umschreibt, nicht hinabreicht. Es ist ein Seelengefängnis. Wie nur bin ich da hineingeraten?

Ein paar Tage später nehme ich dieses Gefühl aus dem Arztzimmer mit auf die Reise, dorthin, wo es vermutlich herkommt: in meine Kindheit. Ich will es zuordnen, Licht in die Zeit bringen, als sich der Alb auf meine Brust gesetzt hat. Ich will das Erbgut sequenzieren, um festzustellen, was ich vom Elternhaus mitbekommen habe. Während ich den Koffer packe, keimt die Hoffnung in mir auf, dass es eine Reise werden könnte, die zu mir hinführt.

Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte

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