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ОглавлениеDie Großmutter war eine sparsame Frau. Die Sparsamkeit hörte allerdings da auf, wo die Frömmigkeit begann.
Als der Tag meiner Erstkommunion näher kam, fuhren wir mit dem Bähnle in die Kreisstadt in ein weithin bekanntes Bekleidungshaus. Dort wurde ich von einer der Verkäuferinnen mit einem Zollstock vermessen und dann mit einem dunkelblauen Bleyle-Anzug mit Matrosenkragen ausstaffiert.
»Das gehört sich so«, sagte sie, als die Eltern fragten, warum sie nicht selbst einen Anzug geschneidert habe. Das ginge ihr doch leicht von der Hand.
Ostern lag früh im Jahr. Die Mutter hatte eine Sonderration Mandeln ergattert und zwei Linzer Torten damit gebacken, eine für den Osterkaffee und eine für meinen Erstkommunionstag, den »Weißen Sonntag«, der eine Woche darauf folgte. Ins neue Gebetbuch, das ich von der Großmutter zu diesem Tag geschenkt bekam, konnte ich schon meinen Namen in Sütterlin-Buchstaben eintragen.
Es schneite an diesem Apriltag, als ich mit den anderen Kommunionskindern, die Mädchen in langen weißen Kleidern, am feierlich geschmückten Hochaltar vom Pfarrer die Oblate auf die Zunge gelegt bekam und einen Schluck aus dem goldenen Kelch nehmen durfte. Vorsichtshalber schenkte man aber Apfelsaft aus statt des Weins, von dem in der Heiligen Schrift die Rede ist. Ich empfand bei der heiligen Handlung durchaus, dass da etwas Außergewöhnliches geschehen war, obwohl ich mir trotz der vielen Gedanken, die ich mir darüber machte, einfach nicht vorstellen konnte, das Blut und den Leib Christi in mich aufgenommen zu haben. Der Pfarrer, den ich im Religionsunterricht daraufhin ansprach, wand sich ein wenig, dann stampfte er mit dem Fuß auf, als ob er mich zurechtweisen wollte: »Das ist einfach so. Da gibt es nicht viel zu erklären. Das musst du glauben, wenn du ein Katholik sein willst.«
Damit gab ich mich zufrieden. Ich war schließlich in die katholische Glaubensgemeinschaft aufgenommen worden und nun so etwas wie ein Festangestellter der Kirche. So kommt es mir heute noch vor.
Zuhause wurde dieser Tag mit einem Festmahl gefeiert, zu dem ein paar Verwandte eingeladen worden waren. Die Großmutter tischte Hasenbraten mit Bandnudeln auf. Dazu gab es den sauren Riesling aus Vaters Rebberg. Ich glaube, ich habe erstmals am Weinglas nicht nur gerochen, sondern auch genippt.
Wie immer, wenn an Fest- und Feiertagen die Familie zusammenkam, holte auch an meinem Erstkommunionstag der Vater die Spielkarten aus dem Wohnzimmerschrank, nachdem der seltene Bohnenkaffee getrunken und die Linzer Torte gegessen war. »Ja, heute gibt es Bohnenkaffee«, hatte die Großmutter Aufmerksamkeit heischend gesagt. Der Onkel, der auf Fronturlaub war, die Tante, Vater und Mutter droschen bis tief in die Nacht hinein mit »Oh!« und »Ah!« die Cego-Karten auf den Tisch, ein vor allem in Baden verbreitetes Spiel, bei dem immer einer gegen alle anderen spielt. Es wurde dabei auch immer ein wenig politisiert. Der Vater hatte ja stets etwas Spannendes zu erzählen, schließlich drehte er am Knopf des Radios so lange, bis er den Sender mit den Paukenschlägen empfangen konnte.
An diesem Nachmittag schnappte ich die Bemerkung auf, dass die Ostfront nicht mehr zu halten sei. Immer wieder erwähnte der Vater einen Ort namens Stalingrad. Der Onkel auf Fronturlaub verdrehte die Augen, während der Vater immer weiterredete, um ihm zu verstehen zu geben, dass er mit seiner Darstellung nicht einverstanden war.
Es dauerte nur noch ein paar Wochen, bis die Prophezeiung des Vaters sich erfüllte. Die Rote Armee durchbrach an sämtlichen Frontabschnitten die deutschen Stellungen. Im Eiltempo warfen die Sowjets die geschwächten deutschen Infanteriedivisionen zurück. Ich konnte dem, was der Vater über den Krieg erzählte, nur mühsam folgen. Ich begriff immerhin so viel, dass wir ihn mit Sicherheit verlieren würden. Den Vater schien das zu erfreuen, was ich nicht verstand und wogegen ich mich innerlich auflehnte. Mir gefiel auch der höhnende Ton nicht, den der Vater anschlug, wenn er über die SS sprach, mir missfiel die Abneigung, die er dem Führer entgegenbrachte, von dem es doch in der Schule hieß, dass er Deutschland aus dem Sumpf gezogen habe, in den die Juden das Vaterland hineingeritten hätten und wofür wir dem Führer ewig dankbar sein müssten. Der Lehrer liebte es, diesen Satz ein paar Mal zu wiederholen. Er war genauso einprägsam, wie die Wochen-Losung, die er vor Jahren schon in Sütterlinschrift auf die kleine Wandtafel geschrieben hatte. Er konnte von seinem Pult aus, auf dem eine Hakenkreuzfahne im Miniformat stand, mit dem Zeigestock auf den Spruch tippen, der darauf stand: »Der Führer hat immer recht.« Jetzt konnte ich das Menetekel an der Wand, das ich bei meiner Einschulung nicht hatte entziffern können, bereits gut lesen.