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Kapitel 2 Anuschka bei uns

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Vielleicht sollte ich hier die Anuschka erwähnen. Anuschka, was so viel wie Anna heißt, wurde in der Ukraine als Fremdarbeiterin nach Deutschland verpflichtet und als Landwirtschaftsarbeiterin nach Dirschel auf den Hof des Herrn Barons Rudno von Rudzinski gebracht.

Ich habe im 1. Kapitel seinen Sohn Joachim erwähnt. Er war ein Klassenkamerad meines ältesten Bruders Franz am Realgymnasium in Ratibor. Meine Eltern sind 1941 von Zabelkau oder Ruderswald II, wie es jetzt hieß Kr. Ratibor nach Ratibor Stadt gezogen, weil mein Vater an die Realschule, früher Ursulinenschule auf der Zwingerstraße, versetzt wurde; bzw.: er hat sich um die Stelle als Mathematik-, Chemie- und Physiklehrers beworben. Die Eltern haben in der Neugartenstraße 14 das Haus „Villa Spineviel“ erworben, ein Eckhaus, das vorher dem Ratiborer Stadtkämmerer Baurat Kammer gehörte und in seiner Eigenschaft nach Kattowitz versetzt wurde, mit 10 Zimmern, drei Toiletten, ein geräumiges Badezimmer und Bademöglichkeit im Keller in der Waschküche. Das schönste Zimmer im Haus, das Eckzimmer mit Blick nach Osten im ersten Stock gelegen, war das Fremdenzimmer. Im Zimmer brauchte man keinen Wecker, man wurde von der aufgehenden Sonne geweckt. Eines Tages, im Frühsommer 1942 nach dem Mittagessen, Bruder Franz hatte Küchendienst, was soviel heißt: Geschirr abtrocknen. Ich war wie immer bei Muttern in der Küche und hörte, wie Bruder Franz der Mutter sagte, dass wir das Eckzimmer eigentlich an den Joachim vermieten könnten. Mutter fragte: „Wer ist denn dieser Joachim?“ Franz erzählte ihr, dass dieser Joachim aus Dirschel komme, das nahe bei Katscher liege und er Logant sei im Hause, den Namen weiß ich nicht mehr. Es war ein mehrstöckiges Haus, das auf der Troppauer Straße stand, einem Bauunternehmer gehörte und im Hinterhof, gut einsehbar von der Wilhelm Busch Straße, sich der Bauhof befand und etwas schräg gegenüber auf der Troppauer Straße war die Wäscherei Schliewe. Und unten im Haus war ein Papiergeschäft, in dem wir unseren Schulbedarf kauften. Oben auf dem Balkon im zweiten Stock hing ein Vogelkäfig mit einem bunten Papagei, der den untengehenden Menschen nachpfiff.

Joachim fühlte sich dort nicht wohl. Ich bekam nur soviel mit, dass es da noch steifer zuging als im elterlichen Gemäuer. Es dauerte nicht lange und an einem der nächsten Wochentage stand Joachims Vater in der Küche. Er, Vater und Mutter gingen hinauf in den ersten Stock, begutachteten das Eckzimmer, in dem sich auch ein Waschbecken mit warmen und kaltem Wasser befand. Und ich wie immer der Lauscher an der Wand bekam auch hier alles mit – für 30 Mark Vollpension war der Vertrag per Handschlag besiegelt. Offensichtlich ist Herr von Rudzinski mit den bisherigen Vermietern einig geworden, denn Joachim stand schon am nächst Sonntag Abend, in den Händen einen Reisekoffer und die Büchertasche und am Rücken einen Rucksack, in dem sich unter anderem ein großes rundes Brot, das er zusätzlich zu den Lebensmittelmarken, an jedem Sonntag mitbrachte. Ich kann ihn nur als sehr liebenswürdig und zuvorkommend beschreiben, war aber auch für jeden Scherz zu haben. Meine zwei älteren Brüder und er haben, wenn es zum Nachtisch eine in Seidenpapier ähnliches Papier eingepackte Apfelsine gab, sie so geöffnet, dass wenn der Inhalt der Apfelsine aufgegessen war, die Leere Schale mit dem Papier und den Schalen de anderen Apfelsinen auffüllten, sie dann wieder im Apfelsinenpapier zupackten, einen dunkelgrauen Zwirnfaden an das Papier befestigten und die dann verblüffend ähnlichaussehenden Apfelsinen durch das Kellerfenster auf den Gehweg legten, das Kellerfenster wieder anlehnten und nun warteten, bis ein Vorbeigehender sich nach der Apfelsine bückte, um sie dann vor der zugreifenden Hand wegzuziehen. Das selbe machten sie auch mit leeren Geldbörsen. Die meisten Bücker haben über diesen Schabernack gelacht. Es gab auch welche, die sich darüber lautstark aufregten. Joachims Vater sagte noch zu unsern Eltern, dass für Joachim keine Extrawürste bereitet werden müssen. Er soll so wie die andern Kinder der Familie behandelt werden. Auch sagte er, dass die Kartoffeln mit der Einbrennsoße und dem Sauerkraut auch für ihn gelten sollten. Denn seine Lebensmittelkarte sollte auch für ihn reichen. Trotzdem brachte er an jedem Sonntag zusätzlich ein am Samstag gebackenes großes rundes Brot, von dem wir alle mitaßen.

Etwa zur gleichen Zeit hatte Frau Fransen aus der Waldecker Ecke langsam ihren Kriegsdienst bei uns abgeleistet. Das heißt, er langsam zu Ende ging. Frau Fransen, eigentlich Fräulein Fransen, hatte ihren Reichsarbeitsdienst abgeleistet. Im Anschluss an den Arbeitsdienst mussten die jungen Frauen irgendwie noch einen Kriegsdienst leisten, den sie bei uns in einem kinderreichen Haushalt abdiente. Frau Fransen fuhr jeden Abend mit der Bahn nach Hause, um dann frühmorgens wieder nach Ratibor zu kommen. Ich glaube, dass sie sich bei uns als quasi Dienstmädchen gar nicht wohlfühlte und nur den Tag herbeisehnte, an dem sie wieder frei war; sie jedenfalls hat es uns in jeder Beziehung merken lassen.

Joachim musste sicherlich bei seinen Wochenendheimfahrten etwas daheim zum Thema Frau Fransen erzählt haben, dass es so gar nicht mit Frau Fransen im Haushalt klappte, der es sichtlich immer schwerer fiel beim Bettenmachen, beim Hausputz, in der Küche bei den Kochvorbereitungen, beim Waschen der Wäsche – es wurde kaum etwas mit der Hand gewaschen, nur die Kochwäsche wurde in der Waschküche auf einem eiserne, vierbeinigen Ofen gekocht und dann in die Waschmaschine gekippt – helfen. Die Wäsche wurde wie schon erwähnt in einer größeren elektrisch angetriebenen Holztrommelwaschmaschine von Miehle gewaschen.

Jedenfalls, eines Tages im Spätsommer 1942 klingelte es. Herr von Rudzinski stand an der Haustier. Neben ihm eine verschüchterte Frau, für eine Frau recht kräftig gebaut, altersmäßig etwa frühes Mittelalter. In der Hand hielt sie einen nicht zu großen zugeschnürten Pappkarton, in dem sie ihre Habseligkeiten hatte. Wir begleiteten Herrn von Rudzinski mit Anuschka in das Wohnzimmer, wo er mit Mutter und Vater sprach. Wir Kinder haben anstandshalber das Wohnzimmer verlassen, um dafür im kleinen Flur bestens zu hören worum es geht.

Herr v. Rudzinski fasste sich kurz, Sinngemäße Wiedergabe: „Er wisse dass unsere Hausgehilfin, Frau Fransen bald gehen würde, und unsere Familie sich ja um einen Halbwüchsigen vergrößert hat, wenn wir einverstanden sind, überlässt er uns die ihm zugeteilte Fremdarbeiterin aus der Ukraine. Er sei überzeugt, dass sie bei uns in besten Händen sei, er müsse es uns nicht sagen, dass sie auch ein Mensch sei. Er will das irgendwie schon mit den Behörden regeln, damit das auch so seine Richtigkeit hat und es behördlicherseits keinen Ärger gibt.“

Was weiter gesprochen wurde kann ich nicht mehr wiedergeben. Jedenfalls hörte ich bald Schritte, die sich zur Tür hinbewegten, und ich so tat als würde ich die Schuhe im Schuhregal im kleinen Flur sortieren. Herr v. Rudzinski verabschiedete sich von Vater und Mutter, auch von Anuschka, klopfte ihr auf die Schulter und sagte scherzhaft: „Brav sein, Mädchen!“ Ich vermute, dass sie die zwei Wörter nicht verstanden hat. Sie reagierte darauf nur mit einem fast schmerzhaften Lächeln. Vater begleitete Herrn v. Rudzinski durch sein Arbeitszimmer und die Garderobe hinaus zur Haustür. Mutter ging mit Anuschka hinauf in das Mansardenzimmer im 2. Stock, in dem ein geräumiges Bett, ein Tisch, zwei Stühle und ein zweitüriger Kleiderschrank stand. Dann ging sie hinab in den ersten Stock, zeigte ihr das Badezimmer zum Waschen und die Toilette. Mit Worten und Händen versuchte Mutter ihr zu erklären, dass sie den Karton auspacken soll, den Inhalt im Kleiderschrank einordnen, eventuell sich umziehen und herunterzukommen. Sie kam herunter, aber in den Sachen, in denen sie angereist war.

Offensichtlich hatte Anuschka nicht viele Klamotten zum Wechseln. Mutter war bemüht erstmals ihr etwas passendes zum Anziehen zu geben. Man merkte bald wie Anuschka langsam auftaute und merkte, dass sie hier nicht eine Sklavin sei, sondern ein Mensch unter Menschen, ein Stück Familie. Am Abend half sie mit beim Kartoffel schälen, den Tisch decken, beim Auftischen; die Kartoffeln mit der Einbrennsoße und das Sauerkraut aß sie, als wenn sie ihr ganzes Leben nichts Besseres gegessen hätte. Nach dem Essen musste ihr nicht gesagt werden, dass das Geschirr abgewaschen werden muss. Sie hat sich nur zeigen lassen wie das mit dem Warm- und Kaltwasser geht und was es mit den zwei Abwaschbecken in der Küche so auf sich hat. Mutter suchte derweil im Kleiderschrank was Anuschka vielleicht noch passen würde. Auch Opa, Zimmernachbar von Anuschka, hatte nichts dagegen, wenn wir in Tante Magdas Aussteuer und Garderobe, die in zwei großen Holzkisten bei uns im Fahrradkeller standen nach etwas Passenden für Anuschka suchen. Anuschka musste bald nicht mehr gesagt werden wie der Tagesablauf so vor sich geht.

Vaters Geburtstag stand vor der Tür. Mutter wollte Tag vorher zwei Blech Streuselkuchen backen. Beim Teigmachen schaute sie sehr aufmerksam zu als wenn sie so etwas noch nicht erlebt hat. Danach hat Mutter ein Kuchenblech geputzt und eingefettet. Als sie das zweite Blech auch putzen wollte, nahm Anuschka es ihr aus der Hand, putzte und fettete es ein. Ähnlich war es auch beim Teig auf das Blech bringen. Fürs erste Blech rollte Mutter den Teig aus, brachte ihn aufs Blech, verteilte die Johannisbeeren aus dem Garten auf den Kuchenteig. Die Streusel auf das verteilte Obst auf dem Teig haben beide Frauen verteilt. Das zweite Blech, ein Mohnkuchen, hat Anuschka fast alleine fertig gemacht. Nur bei den Streuseln durfte Mutter ihr helfen, damit es möglichst gleichmäßig aussieht.

Weihnachten 1942 stand vor der Tür. Wie immer sollten in der ersten Weihnachtsdekade die Pfefferkuchen gebacken werden. Das war immer ein ganz großes Erlebnis für uns Kinder. Nicht nur dass wir schon unter der Kellertreppe den Weizen geschrotet haben, auch der Sirup aus gesammelten Zuckerrüben wurde in der Waschküche gekocht, der nicht nur auf dem Brot schmeckte, sondern auch für den Pfefferkuchenteig herhalten musste. Wir Kinder durften immer tüchtig mithelfen die Herzen, Sterne, Weihnachtsbäume, Engel, Halbmonde und so weiter nicht nur ausstechen, sondern auch aufs Blech legen. Den Backprozess im großen Küchengasbackofen überwachte Muttern. Und die gebackenen Pfefferküchlein mit Zuckerguss, und Schokoladenguss, durften wir auch bestreichen. Aber diesmal, 1942 sollte alles anders werden. Anuschka war irgendwie gespannter, aufgeladener als sonst oder als wir Kinder. Schon am Abend vorher, beim Kochen der Teigzutaten, Teig anrühren und kneten war sie irgendwie anderser, je mehr der Pfefferkuchenteig Gestalt annahm. Vielleicht war es der Duft, der schon beim Kochen des Sirups mit dem Zucker und den Lebkuchengewürzen entstand. Es war nicht leicht ihr es verständlich zu machen, der frische Pfefferkuchenteig müsse jetzt über nacht ruhen, und er erst morgen weiter verarbeitet werden kann. Offensichtlich war der Pfefferkuchenteig etwas ganz neues für sie. Ich glaub nicht das Anuschka diese Nacht viel geschlafen hat. Sie hat am nächsten Tag so komische Andeutungen gemacht; sie hatte Angst, dass wir ohne sie weiter backen würden. Der nächste Tag war ein Samstag. Am Nachmittag ging es mit der Weihnachtsbäckerei weiter. Anuschka war 200 % tig bei der Sache. Mit hochrotem Kopf knetete und rollte sie den Teig auseinander; wir Kinder durften kaum etwas ausstechen. Mit Ach und Krach konnten wir einige von ihr ausgestochene Plätzchen auf das Blech legen. Nicht nur der Pfefferkuchenteig war etwas ganz neues, auch das Ausstechen, das Ausrollen für ein ganzes Blech, das Bestreichen des Teigbodens auf dem Kuchenblech mit Aprikosenmarmelade und mit einer dünnen Pfefferkuchenteigdecke belegen, den gebackenen Lebkuchen mit Zucker- oder Schokoladenguss bestreichen und in Karrostückchen zu zerschneiden so lange das Blech noch warm war. Und als sie am Abend noch einen Teller der frischgebackenen Pfefferkuchen mit auf ihr Zimmer nahm, da schien das Glück für sie fast vollkommen zu sein, es sah so aus, als ob sie für einige Momente vergessen hätte, dass sie hier, weit in der Fremde, weit von ihren heimatlichen Gefilde leben müsse!

Soviel habe ich schon herausbekommen, dass Anuschka Witwe ist, ihr Mann sei tot; wie er zu Tode kam habe ich von ihr nicht erfahren können. Sie selbst habe unter Tage im Donezbecken in einer Grube gearbeitet, eigene Kinder habe sie keine und etwa 45 Jahre alt sei. Unsere jüngste Schwester Renate, geboren im April 1940 war ihr großer Liebling. Die kleine Renate wurde schon vor dem eigentlichen Mittagessen in der Küche gefüttert und ins Bett gebracht. Diese Fütterungsprozedur und das Zubettbringen ließ sich Anuschka nicht nehmen. Für Anuschka war Renate nur das „moju malu Cholubetschko“, was so viel heißen dürfte wie „mein kleines Täubchen“.

Beim Bäcker Tegel, zu dem wir das Hausbackbrot brachten, war auch ein Ukrainermädchen aus Rostow, das Rosa hieß. Wie sie sagte sei sie 17 Jahre alt. Sie kam oft am Abend zu Anuschka und saßen oben in ihrem Zimmer. Auch ein Ukrainer, der in den Lukawerken arbeitete gesellte sich zu den abendlichen Treffen. Das war ein Mann der so ziemlich alles konnte. Wenn bei uns eine Reparatur anstand, er packte es einfach so, als ob es nichts Leichteres gäbe. So auch eine alte Holzuhr, die von zwei Gewichten angetrieben wurde, die Mutter von ihrer Starka/Großmutter erbte, im elterlichen Schlafzimmer hinter der Tür hing und seit Jahren nicht mehr ging, sondern nur noch leblos an der Wand hing, hat er auch zum Gehen gebracht.

Opa Sobotta ist, als Oma starb, mit seinem Mobiliar von Dirschel zu uns nach Ratibor gezogen und hat in der recht großen und geräumigen Mansarde, links von Anuschkas Mansarde, sein neues Domizil gefunden. Ich glaube, es war 1942. Omas Leiche wurde nach Ratibor überführt und am evangelischen Friedhof beerdigt. Oma war von Haus aus evangelisch, hat katholisch geheiratet, ihre drei Kinder gut katholisch erzogen; wahrscheinlich viel besser als viele katholische Mütter und durfte trotzdem nicht auf dem katholischen, dem Jerusalemer Friedhof, beerdigt werden! Wenn Opa auf den Friedhof ging, um mit Oma ein bisschen zu Flirten und ihr Grab in der Reih zu halten bin ich oft mit ihm gegangen. Oft hat er dann zu mir gesagt: „Ja, wenn das Erbe der alten verbraucht ist, kümmert sich keiner mehr um den Erblasser!“ Was Opa damals damit meinte, habe ich erst viel später begriffen. Eines Tages kam Opa aus dem Keller und hielt eine leere Weinflasche in der Hand. Er zeigte Mama die leere Flasche und sagte: „Gretel, da ist schon wieder eine Flasche leergelaufen, oder ist der Inhalt etwa vertrocknet, obwohl die Flasche dicht verschlossen war? Dinge soll’s ja geben! Wie kann so was nur passieren?“ Auf die Idee, dass hier jemand nachgeholfen haben könnte, kam er noch nicht. Als Opa 1942 zu uns nach Ratibor zog, brachte er auch seinen Weinschrank mit selbstgemachten Obstweinen mit. Der Weinschrank war aus drei Zentimetern breiten Stahlblechstreifen, mehrere Etagen übereinander gebaut und etwas tiefer als eine Weinflasche lang ist. Abgeschlossen war er mit einem stabilen Vorhängeschloss. Die Abstände zwischen den Stahlblechstreifen waren so eng, dass man mit Kinderhänden gerade noch an die Flasche im Weinschrank herankam, aber die Weinflasche nicht herausziehen konnte. Ich weiß nicht ob Kalle oder ich auf die Idee kam, wenn wir ein Loch in den Korken bohren, müsste der Wein aus der Flasche heraustropfen. Und wenn wir dann ein schmales Gefäß unter das Loch im Korken stellen, können wir den heraustropfenden Wein auffangen und zuprosten. Gedacht, gesagt und getan. Einen Holzbohrer haben wir schnell in Opas Werkzeug gefunden. Die erste Flasche, wie es sich später herausstellte, war ein süßer Stachelbeerwein, die angebohrt wurde. Nur die Tropferei war ein mühsames Geschäft; bis da so ein Esslöffel voll war vergingen mitunter Stunden. Kalle kam auf die Idee, wir müssten ein Gefäß finden, dass zwischen die Stahlblechstreifen hindurchpasst. In unserem Vorratskeller, in dem auch die Einmachgläser standen, fanden wir so ein schmales, vasenähnliches bisschen höheres Glas. In Mutters Küchenschrank fanden wir einen Trichter, der nicht nur in die schmale Flasche passte, sondern auch mit vielen Verrenkungen durch die engen Stahlstreifen hindurch in den Weinschrank passte und wir es, einschließlich Tichter im Weinschrank auf den Boden stellten. In diese Trichter Glas Kombination vielen die Tropfen. Am nächsten Tag haben wir, Kalle und ich, den Wein, der wie süßer Kompottsaft schmeckte, ausgetrunken. Wie wir auch feststellten, mussten einige Tropfen übergeschwappt sein, warum, das konnten wir uns damals nicht erklären, heute weiß ich es, denn der aufschlagende Tropfen von oben herunterfallend, erzeugt beim Aufschlag einen Spritzeffekt, der bei einer gewissen Höhe über den Rand schwappt. Und diese überschwappenden Spritzer haben vermutlich durch ihren Weingeruch Opa auf die Spur gebracht. Ich glaube mehr als drei Flaschen haben wir nicht geleert, denn Opa hat nach der zweiten Flasche seine Kontrollgänge durch den Keller verstärkt und mit einer Lupe die gebohrten Löcher in den Flaschenkorken entdeckt. Mutter hatte uns beide bald im Verdacht, uns aber nicht verpetzt aber eine saftige Standpauke gehalten und wir mussten ihre hoch und heilig versprechen derartige Spitzbübereien in Zukunft zu unterlassen. Ob ihn 1945 die Russen getrunken haben, ich glaube nicht; denn ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie aus den Kellern der Nachbarhäuser volle Weinflaschen auf die Straße brachten, auf der Straße bei Tageslicht am Rinnstein den Hals abschlugen, den Inhalt probierten und böse/enttäuscht die geköpfte Weinflasche auf die Straße warfen, denn es war kein Schnaps keine Wodka drin, nur Wein.

1943 brachte einige eingreifende Veränderungen: Vater wurde im Herbst dienstverpflichtet nach Dombrowa, wie schon erwähnt, als Lehrer für die Heimatflakgymnasiasten. Franz, Joachim und Klaus kamen zur Heimatflak. Herr von Harrov, der Gutspächter von Eichendorfmühl lieferte wie im vergangenen Jahr die doppelte uns zustehende Menge an Kartoffeln und Weißkraut, die wieder von der Ukrainerin mit dem Traktorungetüm gebracht und wie im vergangenen Jahr verpackt in den Kartoffelkeller gebracht wurden. Mutter goss ihr diesmal zwei Gläschen Cognac ein und sie sich herzhaft von Anuschka verabschiedete. Ich habe diesmal nicht zuschauend am Wagen gestanden, sondern im Kartoffelkeller die Kartoffeln, die beim Ausschütten im Keller herumkullerten wieder zum Haufen gebracht. Am nächsten Tag wurde wie bisher das große Holzfass und das etwas kleinere Bunzelfass mit gehobelten Weißkraut gefüllt. Vater und die zwei älteren Brüder konnten nicht mehr wie im vergangenen Jahr mithelfen. Mutter, Käthe und Janne übernahmen das Reinigen des Krautes, schnitten es in zwei Hälften, Anuschka hobelte es, Opa stampfte das gehobelte und gewürzte und gesalzene Kraut im Holzfass und ich im kleineren Bunzelfass. Bruder Kalle belieferte beide Krautstampfer wie im Vorjahr mit seinem Eimer mit dem gehobelten, gesalzenen und gewürzten Weißkraut. Am nächsten Tag haben wir das restliche Weißkraut aus dem Keller in den Garten getragen und unter Opas Regie eingeschobert. Tags darauf kam die Hälfte der Kartoffeln in den Garten und wurden ebenfalls in einem Schober versteckt.

1943, die Adventszeit hat begonnen. An der Ecke Oberwallstraße- Troppauerstraße beim Centralkino stand wieder ein riesengroßer Weihnachtsbaum, der auch abends stundenweise beleuchtet war, obwohl sonst alles dunkel war. Wenn wir Mutter fragten, wann wir Pfefferkuchen backen werden, sagte sie wehmütig, wenn ihr genug geschrotet habt! Das Weizenmehl allein dass wir auf die Lebensmittelkarten bekommen langt nicht mehr für Pfefferkuchen, die falschen Butterkekse, Streuselkuchen und Mehlsuppe. Wir hatten den Wink verstanden. Anuschka hat bald mitbekommen was wir da unter der Kellertreppe machten und hat tüchtig mitgeholfen. Wenn ich heute so zurückdenke, ist das ja fast wie ein Wunder, dass keiner von unsern kleineren Geschwistern etwas vom heimlichen Schroten unter der Kellertreppe in der Fotodunkelkammer draußen bei den Kumpels erzählt hat. Es hätte nicht nur Vaters Kopf gekostet, sondern auch von den Bauern, von denen wir den Weizen bekamen. Als scheinbar genug geschrotet war, der nicht nur für die tägliche Morgenmehlsuppe reichen musste, sondern auch für die Weihnachtsbäckerei, meinte Mutter, der Sirup sei gekocht. Schrot und Mehl sei da, wir können am nächsten Freitag den Pfefferkuchenteig machen. Auch die Pfefferkuchengewürze, waren schon 1943 eine Riesenrarität, die nur sehr schwer zu bekommen waren. Aber irgendwie mit Bezugschein „Bz“ hat Muttern auch das Problem gelöst. Ich habe die letzte Weihnachtsküchelbäckerei ausführlich beschrieben. Auch heuer war Anuschka wieder 200% tig bei der Sache. Wir Kinder durften wie im Vorjahr nur die Zuschauer beim Pfefferkuchenteig machen und am nächsten Tag beim Aufbringen des Teiges, sei’s als ausgestochene Plätzchen oder als ganze Decke aufs Blech nur die Zuschauer spielen. Damals waren wir stinksauer auf sie. Doch schon ein Jahr später 1944 haben wir Kinder ganz anders gedacht.

Heilig Abend 43 war fast wie der ein Jahr zuvor. Vater war zwar über Weihnachten bei uns, Franz und Klaus waren bei der Heimatflak. Klaus durfte an den Feiertagen für paar Stunden nach Hause. Franz aus Reigersfeld nicht.

Das Abendessen an Heilig Abend war fast wie ein Jahr zuvor; der Karpfen wunderbar zubereitet, oder von Muttern, wie eh und je zurecht gemacht. Auch die Erbstrohsuppe zur Einleitung des Abendessen schmeckte nach mehr und roch nach noch. Auch gab es braune Butter zum Karpfen. Zum Nachtisch zauberte Mutter diesmal eine Schüssel mit Erdbeerkompott auf den Tisch – lecker! Eifersüchtig wachten wir darüber, dass möglichst alle gleich viele und gleich große Erdbeeren in der Schüssel haben, keiner mehr. Zu Bescherung gab es etwas Gestricktes, Handschuh’/Fäustlinge, lange Strümpfe oder Pudelmützen und eine Tüte mit Pfefferkuchen. Mutter hatte für Anuschka etwas warmes zum Anziehen von ihren Kleidermarken gekauft, worüber sie sehr glücklich war. Das Christkind, dass alles andere herstellte war Tante Magda, die immer bei ihren Touren mit Herrn Doktor ein Strickzeug im Auto hatte und wenn sie nicht mit zu den Patienten gehen musste, sondern im Auto bleiben durfte, strickte sie etwas für ihre zahlreichen Neffen und Nichten – fürs Christkind. Woher sie die Wolle dazu hatte, können wir uns nur denken; sicher war da auch viele getrennte Wolle wieder verarbeitet. Ich habe damals als Weihnachtsgeschenk für meine Mutter in der Kaufhalle auf der Adolf Hitler Straße, nahe des Bahnhofs für paar Mark eine bunte Brosche gekauft, die ich in unserer Garderobe im kleinen Schuhschränkchen versteckte und zur Bescherung holte. Mit Schrecken musste ich feststellen, dass beim Herausholen der Brosche einpaar bunte Tonkügelchen sich lösten, was mir sehr sehr peinlich war. Aber Mutter, meinte sie hätte sich trotzdem sehr darüber gefreut und drückte mich an sich. Wir haben dann ein paar Weihnachtslieder gesungen, die Käthe am Klavier, Vater und Janne auf der Geige und ich auf der Flöte begleiteten. Klavier- und Geigenspieler konnten zudem auch noch mitsingen. Der Weihnachtsbaum erstrahlte im Lichte echter Bienenwachskerzen. Vater hatte auch einige Bienenvölker, die draußen am westlichen Stadtrand in der Nähe der Mater Dei Kirche beim schon erwähnten Bauern Kwaschnitza standen und jetzt von Schwester Janne und ein bisschen meiner Mithilfe versorgt wurden, da Vater, der eigentliche Imker, nicht mehr zu Hause war. Besonders während der spätherbst Monate marschierten wir, Janne und ich fast jeden Abend bewaffnet mit einer Milchkanne, gefüllt mit heißem Zuckerwasser zu den Bienen beim Bauern Kwaschnitza, um die Zuckerflaschen mit heißem Zuckerwasser aufzufüllen, das die Bienen aus der Flasche saugten und dann als falschen Honig in den Waben speicherten, um damit den Winter zu überleben. Wie es dann in den Sommermonaten 1944 mit den Bienen weiterging, weiß ich nicht mehr. In den Sommermonaten schwärmen die Bienen; wer fing den Schwarm ein? Auch wer die vollen Waben mit echtem Blütenhonig aus dem Bienenstock holte und den Honig schleuderte, weiß ich auch nicht mehr. Ehrlich gesagt, die Bienen und ich, wir waren nie echte Freunde. Ich hatte immer so das Gefühl, wenn die Bienen nur konnten, haben sie ihren Frust an mir ausgelassen und tüchtig zugestochen.

Am 1. Feiertag gingen wir Kinder in die Herz Jesu Kirche um 8 Uhr zum Kindergottesdienst. Ich konnte Anuschka überreden mitzukommen, was sie auch tat. Sie blieb artig hinten stehen, während wir Kinder in die vordersten Bänke gehen mussten. Die Mädchen saßen in der rechten, die Buben in der linken Reihe. Nach der heiligen Messe wartete Anuschka hinten in der Kirche bis ich, vorne aus der 2. Bank nach hinten kam und wir beide gingen wieder nach Hause. An den kommenden Sonntagen ging sie meistens mit uns Kindern in die Kirche und auch nach Hause. Es war in den Sommerferien1944, Herr von Rudzinski kam bei uns in Ratibor vorbei und teilte mit, dass Anuschka vom kommenden Montag an nicht mehr bei uns sein kann. Sie muss ab Montag in Kuchelna im Hultschiner Ländchen, heute Tschechen, in der Munitionsfabrik arbeiten. Nicht nur unsere Anuschka musste fort, auch all die übrigen Ukrainerinnen aus ihrem Bekanntenkreis mussten mit. Am letzten Samstag bei uns hat Anuschka unter Mithilfe unsrer Mutter noch zwei Bleche Streuselkuchen, belegt mit Obst aus dem Garten, gebacken. Opa schlachtete ein Kaninchen zum Abschiedsessen am morgigen Sonntag, denn am Montag mussten sich alle Ukrainerinnen am Güterbahnhof zum Abtransport nach Kuchelna treffen. Am Sonntag ging Anuschka noch mit uns in die Herz Jesu Kirche zum 8 Uhr Gottesdienst. Zu Mittag saß sie, wie üblich auf ihrem Platz, die unterste Stirnseite am langausgezogenen Tisch im Wohnzimmer. Sie war sehr niedergeschlagen; man merkte richtig wie ihr das Essen nicht so schmeckte wie immer. Wir hatten den Eindruck, je länger sie bei uns war, um so weniger hatte sie Heimweh nach zu Hause. Montag früh, man glaubte fast der Himmel trauert mit uns, und jeden Moment anfängt zu weinen. Schwere dunkle Wolken hingen tief vom Himmel über Ratibor, als sie mit ihrem gepackten Koffer herunterkam. Sie weinte, unserer Mutter standen die Tränen in den Augen und auch uns war’s beim Abschiednehmen ganz weich ums Herz; sie war mittlerweile zu mehr als einem Stück Familie geworden. Besonders schwer fiel ihr der Abschied von unsrer kleinen Schwester Renate. Die Tränen flossen ihr wie kleine Bäche aus den Augen, als sie Renate in den Armen hielt, an sich drückte und stammelte immer wieder die drei Wörter: „Moju malu Cholubetschko.“ Ich weiß nicht mehr wer außer Mutter und mir sie zum Güterbahnhof begleitet hat. Von einem Goldfasan in Uniform bekamen wir eine Quittung, dass wir sie abgeliefert haben; gerade so als ob wir ein Stück alten Schrott oder so etwas ähnliches abgeliefert hätten und nicht einen Menschen, der auch ein Herz und eine Seele hat! Die Ukrainerinnen wurden in einen Güterwagen verladen und ab ging der Zug. Mutter und ich gingen dann zum Arbeitsamt, zeigten die Quittung, dass unsere Haushaltshilfe fort sei und wir eventuell einen Ersatz bekommen. Es dauerte nicht lange, vielleicht 2 oder drei Tage. Da klingelte es an der Haustür, eine junge Frau stand an der Tür und nannte sich Marta Jeschke. Sie sagte sie sei vom Arbeitsamt geschickt worden, um bei uns ihren Kriegsdienst im Anschluss an den Arbeitsdienst abzuleisten. Sie sagte weiter, dass sie in Großstrehlitz zu Hause sei. Offensichtlich machte sie einen sehr guten Eindruck auf unsere Mutter. Dann sagte sie: „Sie müsse allerdings heute noch mal heimfahren, denn sie habe weiter nichts dabei als das was sie am Körper trage.“ Mutter zeigte ihr noch das Zimmer unterm Dach; ansonsten alles wie gehabt, Badezimmer und Toilette. Am nächsten Vormittag erschien Marta wie gesagt. Auch Marta war eine Frau, die mit beiden Füßen im Leben stand. Man musste ihr nicht alles mehrmals erklären was wann, wo und wie gemacht werden musste. Es konnte Ende September Anfang Oktober 1944 gewesen sein. Es klingelte an der Haustür und vor der Tür stand Anuschka mit Bäcker Tegels Rosa. „Sie hätten heute einen freien Nachmittag“, sagte Anuschka, „und da wollten wir mal schauen wie’s uns so geht, denn ihr sei immer noch sehr bange, besonders nach ihrem malu Cholubetschko !“ Bei einer Tasse warmen Lindenblütentee und einer Schmorkäseschnitte verging beim Plaudern gar zu schnell die Zeit. Gegen Abend verabschiedeten sich Anuschka und Rosa auf ein baldiges Wiedersehen, aus dem leider ein Nimmerwiedersehen wurde. Nach ihren Weggang sagte jemand, ich glaube es war Käthe: „Anuschka sieht viel schlanker aus, als vorher!“ Und wenn das stimmt, was ich bei späteren Fahrten bei unseren Besuchen in Zabelkau in den 90ziger Jahren und mit Abstechern im Hultschiner Ländchen erfahren konnte, haben die Russen bei ihrem Einmarsch unter Mithilfe der verhassten Tschechen mit den Fremdarbeitern kurzen Prozess gemacht, mit denen, die sie erwischen konnten und das waren so ziemlich alle. Für die Rote Armee waren die Fremdarbeiter Kollaborateure, die statt den Feind zu bekämpfen und als Helden zu sterben – sich erschießen zu lassen, haben sie das Vaterland verraten und mit dem Feind zusammengearbeitet und Munition hergestellt, mit der ihre Landsleute im Kampf gegen den gemeinsamen Feind erschossen wurden. Arme Anuschka, was ist aus dir geworden ?

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