Читать книгу Machtergreifung - Ferdinand Schwanenburg - Страница 6
KAPITEL 1
Оглавление»Der redet doch genau wie Hitler«, sagte Vater Sehlings ziemlich laut und aufgebracht zu seinem Sohn Friedrich. »Dass solche Nazis im deutschen Fernsehen wieder reden dürfen, als sei nichts gewesen, ist ein Skandal. Das haben wir nur dir und deinen Spießgesellen zu verdanken, dass Hitler mit all seinen unsäglichen Taten wieder gesellschaftsfähig wird.«
Friedrich Sehlings blickte seinen Vater erstaunt an. Seit Jahren hatte er den Namen des Führers nicht mehr in seiner Gegenwart erwähnt. Im Fernsehen lief die Sonntagabend-Talkshow, das Wort hatte ein leicht schwitzender älterer Herr mit Gartenzwergkrawatte und anthrazitfarbenem Trachtenjanker.
»Hör dir das doch mal an, Friedrich, der redet genauso wirres Zeug wie du!« Der Vater kam immer mehr in Rage.
Den Sohn wiederum machten diese Worte stolz. Den Führer wieder gesellschaftsfähig gemacht zu haben, das war auch sein persönliches Verdienst. Wenigstens etwas hatte er erreicht! Doch auch das konnte die tiefe Enttäuschung nicht vertreiben, die er in diesem Moment verspürte. Mit dem heutigen Tag drohte seine Mission zu scheitern. Das dämmerte Friedrich Sehlings, als er den verbraucht wirkenden Alten mit der Gartenzwergkrawatte auf dem Bildschirm sah. Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen! Dieses Mal hätte es wirklich klappen können mit der Machtergreifung. Der Alte war die perfekte bürgerliche Fassade.
Dr. Adalbert Hausding, der gerade in der Sonntagabend-Talkshow über die Hitlerzeit redete, war der große Held der Deutschlandpartei. Er hatte sie gegründet, sie von Erfolg zu Erfolg getragen – und sie drei Jahre zuvor mit einem sensationellen Wahlergebnis von 13 Prozent in den Bundestag geführt. Seitdem war er nicht nur der Vorsitzende der Partei, sondern auch Vorsitzender der Bundestagsfraktion. Von Beginn an wollte Friedrich Sehlings unbedingt dazugehören, er wollte dabei sein, wenn es in Deutschland endlich wieder einen Führer gab. Doch seit dem heutigen Tag standen das Deutsche Herz, der völkische Flügel der Partei, und ihre Nachwuchsorganisation, die Jungdeutschen, unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes – ein schwerer Rückschlag im Kampf um die Macht.
Der Sohn sagte nichts und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Alten mit der Gartenzwergkrawatte zu: »Die deutsche Geschichte umfasst mehr als zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft. Und auch diese dunkle Zeit hatte ihre lichten Momente. Unter den Soldaten des Dritten Reiches waren viele Helden. Viele Deutsche denken so. Erkennen Sie das doch endlich an!«
Die letzten Worte waren an den Verteidigungsminister der Christpartei und den Chef der Ökopartei gerichtet. Mit ihnen zusammen saß Hausding im Talkshow-Studio. Die beiden galten als die kommenden Männer in Deutschland.
»So ein Nazi, so ein elender Nazi! Und diesen Fernseh-Fritzen geht es doch nur um die Quote«, schimpfte der Vater.
Friedrich Sehlings blickte auf seinen Vater. Dann streifte sein Blick die weiße Bibliothekswand in der hellen, geräumigen Münchner Altbauwohnung mit den hohen Decken, in der sein Vater seit fast fünfzig Jahren lebte und in der er selber groß geworden war. Dort standen sie, Buchrücken an Buchrücken. Der ganze in Literatur gegossene Antifaschismus Nachkriegsdeutschlands: Günther Grass, Heinrich Böll, Max Frisch, Wolfgang Borchert, Bertolt Brecht und wie sie alle hießen.
Friedrichs Mutter war promovierte Literaturwissenschaftlerin und Gründungsmitglied der Ökopartei. Sie arbeitete in einem Münchner Verlag und veranstaltete in seinem Elternhaus regelmäßig Salons, bei denen allerlei Künstler zu Gast waren und Literaten aus ihren neuesten Werken vortrugen. Friedrich selber hatte lange Klavierunterricht, und auf ausdrückliche Anordnung der Mutter hatte er den Kanon jener antifaschistischen Literatur durchzuarbeiten, die dort im Regal stand. Wie verhasst war ihm das alles! Wie verhasst waren ihm die bleichen, verweichlichten Intellektuellen, die seine Mutter mit nach Hause brachte, die nicht zu ihrem Mann- und Deutschsein stehen wollten.
Die Mutter war schon vor Jahren gestorben. Seitdem besuchte Friedrich Sehlings seinen bald achtzigjährigen Vater einmal im Monat, immer sonntags. Es war ein Ritual. Sie hatten es auch dann beibehalten, als der Sohn einer der mächtigsten und einflussreichsten Männer der Deutschlandpartei geworden war.
Zum Abschluss des Tages mit Sonntagsbraten im Biergarten und anschließendem Parkspaziergang saßen Vater und Sohn stumm vor dem Fernseher und schauten sich die Polit-Talkshow des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aus Hamburg an. Zwischen ihnen galt eine unausgesprochene Abmachung: Sie redeten nicht mehr über Politik. Zu unterschiedlich waren ihre Weltanschauungen.
Friedrich Sehlings’ Vater war in seiner Studienzeit beim Sozialistischen Studentenbund SDS. Er war 1968 an Ort und Stelle, als es darum ging, in Berlin gegen den Schah zu protestieren. Später hat er sich dann zusammen mit seiner Frau bei der Ökopartei engagiert. Früher erzählte der Vater oft von seinen wilden Jahren in der Hoffnung, seinen Sohn von der Überlegenheit der sozialistischen Idee überzeugen zu können. Doch irgendwann hatte der Vater es aufgegeben. Zu oft hatte ihm sein Sohn das Wort »Lebenslüge« entgegengeschleudert.
Nach seinem Studienabschluss war der Vater nach München zurückgegangen, fing bei einem örtlichen Unternehmen an und diente sich bis zum Vorstandsvorsitzenden hoch. So wuchs Friedrich Sehlings in einem wohlbehüteten Elternhaus auf, versehen mit den Wohlstandsattributen eines bildungsbürgerlichen Lebens der Siebziger- und Achtzigerjahre. Er war der einzige Sohn, ein spät geborenes Wunschkind. Die Beziehung zu seinen Eltern war spannungsgeladen, mit seinem Großvater verstand er sich dagegen gut. Der lebte noch lange im Haus der Familie. Während des Kriegs war er bei der SS, bis zu seinem Tod hatte er niemals ein böses Wort über den Führer verloren. Und seinen alten SS-Dolch hatte er dem Enkel vermacht.
Nach seinem Abitur wollte Friedrich Sehlings einfach nur weg. Weg aus der geistigen Enge des Elternhauses, weg aus den verhassten grün-alternativen Künstlerkreisen seiner Mutter, weg aus der spießigen bayerischen Metropole. Er wollte Abenteuer erleben. Die ostdeutsche Provinz empfing ihn mit offenen Armen. Er kaufte sich mitten auf dem Land ein halbverfallenes kleines Bahnwärterhäuschen. Dort bekam der Dolch des Großvaters einen Ehrenplatz auf seinem Schreibtisch: ein mahnendes Relikt eines anderen, stolzen Deutschlands.
Ihren jahrelangen Komment, nicht mehr über Politik zu sprechen, hatte der Vater jetzt gebrochen. Vieles war in Deutschland in den letzten Jahren in die Brüche gegangen. Die Flüchtlingskrise hatte das Land verändert. Aber sie war nur der Anlass, nicht die Ursache. Die Zustände in Deutschland hatten die Menschen zornig werden lassen. Friedrich Sehlings hatte den Mentalitätswandel schon früh gespürt. Plötzlich wurde über Themen offen geredet, die jahrzehntelang ein Tabu waren.
Da war sie wieder: die große Angst. Jenes weite Spektrum von Ängsten, das die Deutschen bereits nach dem Ersten Weltkrieg beherrschte und sie Zuflucht bei einem charismatischen Führer nehmen ließ. Im Deutschland des Kalten Krieges war die große Angst vorübergehend unterdrückt, war ruhiggestellt. Jetzt brach sie sich wieder Bahn, und zwar in ihrer zerstörerischen Form, als Gesellschaft des Zorns. Eine solche Chance würde es so schnell nicht wieder geben. Das erkannte Friedrich Sehlings damals auf Anhieb.
In der Talkshow war jetzt der Bundesvorsitzende der Ökopartei an der Reihe. Steif saß der Mann in seinem Nadelstreifen-Dreiteiler im schwarzen Edelstahlsessel. Sein Haar war bereits vollständig ergraut, er war Anfang sechzig. In den Umfragen gewann seine Partei von Woche zu Woche in der Wählergunst. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als Bundeskanzler zu werden, der erste grüne Regierungschef in Deutschland. Es wäre die Krönung seines Lebenswerkes, rund vierzig Jahre nach der Gründung der Partei, bei der er von Beginn an dabei war.
Der ergraute Politiker hob mahnend den Zeigefinger und begann zu dozieren: »Es gibt in unserem Land außer ein paar Wirrköpfen wie Ihnen, Herr Dr. Hausding, niemanden, der heute noch die Verbrechen der Wehrmacht und des Dritten Reiches verherrlicht. Sie werden gnadenlos scheitern. Niemand wird Sie wählen. Eigentlich brauchen wir uns mit Ihnen gar nicht zu beschäftigen.«
In das gleiche Horn wie der altgediente Politiker der Ökopartei stieß der junge Verteidigungsminister. Der kommende Star der Christpartei setzte ebenfalls alles daran, der nächste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Er war Mitte dreißig, wirkte immer jugendlich-lässig, trug nie Krawatte und hatte ein Diplom als Umwelt-Ingenieur. Nach einer kurzen Zeit als Umweltminister hatte ihn die Kanzlerin auf den wichtigen Posten des Verteidigungsministers befördert. Zusammen mit seinem Ehemann lebte er in einer schicken Altbauwohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Noch war seine Stunde nicht gekommen, doch dank seiner Eloquenz und seines guten Aussehens wurde er von Talkshow zu Talkshow gereicht.
»Rechts von der Christpartei hat es auf lange Sicht noch nie eine erfolgreiche Partei gegeben«, hob er an. »Und eine solche wird es auch in Zukunft nicht geben. Mit Ihrem rechtspopulistischen Gerede vertreten Sie eine extrem kleine Minderheit. Mit Ihnen werden wir spielend fertig.«
Seit Monaten hatte der Verteidigungsminister für die Beobachtung des völkischen Flügels der Deutschlandpartei durch den Verfassungsschutz gekämpft, auch gegen Widerstand in seiner eigenen Partei, in der viele mehr oder weniger offen Sympathien für die Rechtsaußenpartei hegten.
Dem Verteidigungsminister widersprach die Journalistin Dr. Florentine Fischer. Sie, Anfang dreißig, war eines der Nachwuchstalente des politischen Wochenmagazins Demokratischer Beobachter, der Hauspostille des linksliberalen Establishments. Die Zeitschrift war genauso alt wie die Bundesrepublik. Die erste Ausgabe erschien am 24. Mai 1949, als das Grundgesetz in Kraft trat, nachdem es einen Tag zuvor erlassen worden war. Der 24. Mai war ein Dienstag. Seitdem erschien das Magazin traditionell immer an diesem Tag. Dienstag war in Deutschland Beobachtertag.
Der Name Demokratischer Beobachter war bewusst gewählt, sah sich das Magazin doch von Anfang an als ein Wächter der Demokratie in der noch jungen Bundesrepublik. Die Zeitschrift war eine Institution, sie hatte im Lauf der Jahre unzählige Skandale aufgedeckt und das Denken der Deutschen geprägt. Ihren Hauptsitz hatte das Magazin in München-Schwabing, die Berliner Redaktion saß am Hohenzollerndamm in Berlin-Wilmersdorf, dem gutbürgerlichen Zentrum der einstigen Frontstadt des Kalten Krieges. Auch der alte Sehlings hatte seit Studienzeiten ein Abonnement und verschlang jeden Dienstag die neue Ausgabe.
»Auch wenn das Deutsche Herz und die Jungdeutschen jetzt unter Beobachtung stehen, ist die Gefahr nicht gebannt«, erklärte die junge Journalistin. »Die Deutschen haben Angst. Angesichts der Globalisierung haben sie Furcht vor einem Kontrollverlust. Viele fordern eine politische Kehrtwende, möchten zurück in eine alte Gesellschaftsordnung. Die Deutschlandpartei ist da nur ein Symptom für das Erstarken reaktionärer und autoritärer Tendenzen in der Gesellschaft.« Sie richtete ihren strengen Blick auf Dr. Hausding, der leicht das Gesicht verzog. »Viele Deutsche, das haben Sie heute wieder einmal eindrucksvoll gezeigt, leben längst in einer Parallelwelt und haben den Boden des Grundkonsenses bereits verlassen. Wir müssen als Gesellschaft aufpassen, dass uns da nicht etwas komplett entgleitet.«
Die Augen von Vater Sehlings glänzten. »So stelle ich mir eine Journalistin vor«, rief er freudig. »Eine klare Analyse und ein klarer Standpunkt. Die schaut nicht auf die Quote oder auf ihre persönliche Karriere. Anders hätte ich es vom Demokratischen Beobachter auch nicht erwartet.« Die Welt von Vater Sehlings schien wieder in Ordnung.
Dr. Hausding verließ das Fernsehstudio über den Seiteneingang. Es nieselte, und er zog den Kragen seines Mantels hoch. Vor dem Gebäude wartete bereits ein Auto auf ihn. Am Steuer saß sein unverzichtbarer Mitarbeiter Herbert. Herbert gehörte zu jenen Menschen, die andere im Nu für sich einnehmen konnten. Mit vollem Namen hieß er Herbert Hahn, doch alle in der Partei nannten den gemütlichen, dicklichen, immer einen ärmellosen, brauen Pullover tragenden, stets zu einem Schwätzchen aufgelegten Mann nur bei seinem Vornamen.
Herbert ließ den Wagen an. »Nach Hause oder möchten Sie noch etwas essen?«, fragte Herbert. »Ich kenne hier abseits der Autobahn noch einen Laden, dessen Besitzer einen der besten Gulaschs macht, den Sie hier im Norden bekommen können. Ein wahres Gedicht.«
Herbert kannte immer irgendwo jemanden, der spätabends noch ein leckeres Essen auf den Tisch zaubern oder einem irgendwie behilflich sein konnte. Woher er alle diese Leute kannte, wusste Dr. Adalbert Hausding nicht, es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Herbert hatte einmal erzählt, dass er Koch gelernt habe und auch schon mal Marktschreier für Wurstwaren gewesen sei.
Hausding schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank, wir warten noch einen Moment.« Herbert ließ den Motor laufen. Kurz darauf öffnete sich die Wagentür, und auf den Rücksitz neben Hausding glitt eine junge Frau in einem Trenchcoat.
»Wir fahren zuerst Frau Dr. Fischer zu ihrer Wohnung in Berlin«, rief der alte Mann nach vorn. »Dann fahren Sie mich nach Hause.« Herbert schaute in den Rückspiegel und lächelte der hübschen blonden Journalistin zu. Auch wenn es für ihn einen ziemlichen Umweg bedeutete und er wohl erst mitten in der Nacht ins Bett kommen würde, rief er ohne zu zögern: »Jawohl!«
Hausding wollte sich gerade seiner hübschen Begleiterin zuwenden, da klingelte sein Telefon. Es war Martin Müller, der zweite Vorsitzende und Mitgründer der Deutschlandpartei.
»Guten Abend, Herr Dr. Müller«, sagte Hausding.
»Guten Abend, Herr Dr. Hausding«, erwiderte Müller ebenso formell. Seine Stimme klang aufgebracht. »Das ist doch alles eine einzige Katastrophe. Ich habe Sie in der Talkshow gesehen. Wie können Sie nur so über die deutsche Vergangenheit reden, jetzt, wo Teile unserer Partei unter Beobachtung stehen? Gerade jetzt müssen wir vorsichtig sein. Ich verlange, dass sich sofort der Bundesvorstand trifft. Wir müssen das Deutsche Herz und die Jungdeutschen aus der Partei ausstoßen, und zwar sofort.«
Dr. Hausding seufzte. »Wie wollen Sie das denn anstellen? Die sind integraler Teil unserer Partei. Sie gehören dazu.«
»Als Erstes müssen wir diesen Sehlings loswerden. Der hat uns diese ganzen Nazis doch erst ins Haus geholt.«
»Wie soll das denn gehen?« Dr. Hausding wollte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. »Sie haben doch selbst so viel Wert darauf gelegt, jedes neue Mitglied vor seinem Eintritt zu kontrollieren. Das war ihnen doch so unheimlich wichtig.«
Diesen Einwand überhörte der Co-Vorsitzende bewusst. »Die ganzen Nazis sind unser Untergang«, rief er. »Wir müssen sie schleunigst loswerden.«
Bei dem Wort Nazi schreckte Hausding zusammen. Zwar hatte er auch etwas gegen Kampfstiefel tragende Glatzen-Nazis. Aber er hatte auch etwas dagegen, jeden rechts eingestellten Menschen gleich als Nazi zu bezeichnen. »Nun übertreiben Sie mal nicht, Herr Dr. Müller. Wenn Sie alle, die Sie Nazis nennen, aus der Partei haben wollen, dann stehen Sie bald ziemlich alleine da. Das sind die Menschen, die uns wählen.«
»Der Sehlings ist die größte Gefahr für die Partei«, wiederholte Müller. »Wir konnten Sie sich nur mit dem einlassen und ihm so viel Macht verschaffen?«
Hausding überging die Frage seines Mitgründers und antwortete mit besänftigendem Tonfall: »Mir ist der Mann doch auch nicht besonders sympathisch. Aber solche Menschen brauchten wir damals, und wir werden sie auch zukünftig noch brauchen.« Hausding betonte dabei das Wort »noch«. »Er ist sicherlich nicht besonders intelligent, vielleicht bauernschlau. Der organisiert halt gerne und hat einen servilen Charakter.« Er machte eine kurze Pause. »Irgendwann stoßen wir diese Typen ab. Aber im Moment sind sie uns nützliche Idioten.«
»So nützlich, dass wir jetzt vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Ich dachte, wir waren uns damals einig. Wir wollten mit unserer Partei die alte Christpartei wieder auferstehen lassen. Wir brauchen eine rote Linie nach rechts.«
»Nun beruhigen Sie sich doch!« Dr. Adalbert Hausdings Stimme wurde nun doch scharf.
Aber Dr. Martin Müller wollte sich nicht beruhigen. »Ich habe diesem Sehlings von Anfang an misstraut. Dieser Kleinbürger passt doch nicht zu uns«, tönte es ziemlich aggressiv und laut aus dem Mikrofon.
»Er gehört genauso zu unserer Partei wie Sie, Herr Dr. Müller«, sagte Hausding noch schärfer als zuvor.
»Wenn Sie das so sehen, dann haben wir beide wohl ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was die Deutschlandpartei will«, platzte es aus Müller heraus. »Es gibt genügend Leute, die denken schon lange über eine Spaltung der Partei nach. Und jetzt ist dann wohl der richtige Zeitpunkt dafür. Gute Nacht, Herr Dr. Hausding!« Dann beendete er das Gespräch.
Dr. Adalbert Hausding packte sein Mobiltelefon weg und wollte gerade einen neuen Versuch machen, sich seiner Mitfahrerin zuzuwenden, als das Telefon erneut klingelte. Er blickte über seine Brille hinweg auf das Display und seufzte. Dieses Mal war es der »Oberst«, ebenfalls Mitglied im Bundesvorstand der Deutschlandpartei und zusammen mit Müller einer der stellvertretenden Vorsitzenden der Bundestagsfraktion. Der Spitzname Oberst kam daher, dass er zuvor Generalstabsoberst der Bundeswehr war und die Partei jetzt wie eine militärische Einheit zu führen versuchte. Auch diesen Anruf nahm der Parteivorsitzende entgegen. Herbert und die junge Journalistin bemühten sich, möglichst unauffällig zuzuhören.
»Guten Abend, ich hoffe, ich störe Sie nicht, Herr Dr. Hausding«, sagte der Oberst. »Ich wollte mich nur kurz melden wegen der neuen Situation. Ich schlage vor, dass sich der Bundesvorstand schnellstmöglich trifft, um eine neue Beurteilung der Lage anzustellen.«
»Ich stimme Ihnen zu«, antwortete Hausding. »Ich werde den Bundesvorstand zu einer Sitzung einberufen, damit wir darüber reden können«, sagte Hausding.
»Ach, noch etwas«, fuhr der Oberst fort. »Ich werde demnächst interessantes Material aus der Vergangenheit von Friedrich Sehlings zugespielt bekommen, das ihn in einer äußerst verfänglichen Situation zeigt.« Er wartete kurz auf eine Reaktion von Hausding, dann fuhr er fort. »Ich hoffe, wir sind uns einig in der Beurteilung, dass dieser Feldwebel zu mächtig geworden ist und in seine Schranken gewiesen werden muss. Von ihm geht eine Gefahr für die Partei aus, auch wenn er Ihr Ziehsohn ist.«
»Die Bezeichnung Ziehsohn ist eine Zuschreibung der Presse«, entgegnete Hausding. »Ich habe sie nie gebraucht. Jedenfalls hat uns dieser Mann in der Vergangenheit gute Dienste erwiesen.«
»Na, dann sind wir uns ja einig, dass wir mittlerweile soweit sind, ohne ihn auszukommen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, entgegnete Hausding und legte das Telefon zur Seite.
Dr. Florentine Fischer blickte Hausding mit ihrem typischen Kleinmädchen-Augenaufschlag an. »Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich in meinem Porträt von dir diesen Sehlings als deinen Ziehsohn bezeichnet habe. Das hat mir einige Pluspunkte bei unserem Chefredakteur gebracht.«
Der alte Mann lächelte die junge Frau etwas gequält an, wie Herbert mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel beobachten konnte. Dann sagte er: »Ist doch schön, dass für dich alles so gut läuft.«
»Ich hoffe, ich habe dich in der Talkshow nicht zu hart angegriffen«, entgegnete die Journalistin. »Ich muss auf meine Karriere achten. Unser Chefredakteur beharrt darauf, dass wir immer angriffslustig sind. Das seien wir der linken und kritischen Tradition des Demokratischen Beobachters schuldig, sagt er.«
Jetzt lächelte Hausding der jungen Frau offen zu. »Nein, überhaupt nicht. Das war genau richtig. Das bringt uns noch mehr Anhänger, auch wenn die Situation gerade etwas schwierig ist. Du weißt ja: Bei den Leuten, die uns wählen, gilt der Demokratische Beobachter als Inbegriff des grünen und roten Establishments. Mach ruhig weiter so.«
Die Journalistin strahlte. »Ich muss in Zukunft wirklich ziemlich kritisch sein. Bald wird der Posten des Berliner Büroleiters frei. Den will ich unbedingt haben.« Für kurze Zeit herrschte Stille, dann fuhr sie mit leiser Stimme fort: »Übrigens, hättest du etwas dagegen, wenn ich den Oberst auf dieses Material anspreche, das er bezüglich Sehlings erwähnt hat?«
Hausding schüttelte leicht den Kopf. »Nur zu.« Dann wechselte er rasch das Thema: »Das war eine gute Idee, dass du mich heute wieder in die Talkshow geholt hast. Wie ist dir das überhaupt gelungen?«
Auch wenn es dunkel war und der Innenraum des Autos durch das Gegenlicht der entgegenkommenden Fahrzeuge immer nur kurz erhellt wurde, sah Herbert im Rückspiegel sehr deutlich, dass die junge Frau jetzt errötete.
»Ich habe … Ich hatte … Ich hatte mal was mit dem Redaktionsleiter. Der ist noch … Der ist noch immer scharf auf mich. Was denkst du, warum ich so oft eingeladen werde?«
Der alte Mann lächelte. Er hatte schon viel erlebt in seinem langen Leben. Diskret wechselte er das Thema. »Es wäre schön, wenn du mal wieder mit deinen Eltern zum Kaffee vorbeikommen würdest … So wie früher.«
Die Journalistin nickte: »Sehr gern. Sie sind dir immer noch dankbar, dass du mir damals geraten hast, Jura zu studieren.«
Hausding lächelte und sagte: »Ich habe jetzt endlich deine Doktorarbeit gelesen. Du hast da einige sehr interessante Dinge geschrieben.«
Die nächsten eineinhalb Stunden redeten die beiden nur über juristische Fragen. Vor einem frisch sanierten Gründerzeitbau im Prenzlauer Berg hielt Herbert an, stieg aus und öffnete der Journalistin die Wagentür. Sie gab Dr. Hausding einen Kuss auf die Wange und sagte zum Abschied: »Ich mache in der nächsten Printausgabe einen schönen kritischen Bericht über die Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Gute Nacht, Onkel Adalbert.«
Dann stieg sie aus und verschwand in dem Haus, nicht ohne vorher auch Herbert einen Wangenkuss zu geben und ihm ein verführerisches »Schlaf auch du gut, Herbert!« zuzuhauchen.
Nach dem gemeinsamen Tag mit seinem Vater fuhr Friedrich Sehlings noch in derselben Nacht von München aus zurück in die ostdeutsche Provinz, in sein geliebtes Bahnwärterhäuschen. Auch als er längst ein großer Mann und Strippenzieher der Deutschlandpartei war, hatte er es nicht aufgegeben. Zu Hause war er nur noch selten, dem Aufbau der Partei hatte er alles untergeordnet: seine Freizeit, sein Privatleben und seine Freundschaften, die er außerhalb der Politik und der Partei hatte. Zu wichtig war ihm seine Mission. Wenn es jetzt nicht klappte, dann würde Deutschland nie wieder einen Führer bekommen, da war er sich sicher.
Doch jetzt stand es schlecht um seine Mission: Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz war ein Kampfmittel der etablierten Parteien mit dem Ziel, die Deutschlandpartei zu vernichten. Er machte sich nichts vor: In den nächsten Wochen würde es Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Austritten geben – von Leuten, die die Partei trugen, die sich genauso für die Mission engagierten wie er. Polizisten, Soldaten, Beamte, Angehörige des Öffentlichen Dienstes würden sich distanzieren, weil sie Angst um ihre Jobs und ihre Existenz hatten. Ihm fiel der Satz des ihm so verhassten Bertolt Brechts ein: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral.«
Das Kampfmittel, das die Christpartei und mit ihr die anderen Systemparteien, wie die Mitglieder der Deutschlandpartei die anderen Parteien gerne nannten, benutzten, war altbekannt. Es hatte sich schon vor fast fünfzig Jahren im Kampf gegen die 68er-Bewegung bewährt. Friedrich Sehlings kannte sich aus in Geschichte. Geschichte war eine seiner großen Leidenschaften. 1972, zwei Jahre vor seiner Geburt, hatten der Bund und die Länder den Radikalenerlass beschlossen. Wer in den Öffentlichen Dienst wollte, dessen Treue zum Grundgesetz wurde von Verfassungsschützern überprüft. Viele der damals demonstrierenden und randalierenden Studenten wollten Lehrer oder Sozialarbeiter werden oder irgendeinen anderen mit Steuergeldern alimentierten Posten ergattern, also nahmen sie Abstand von ihren Idealen und kehrten in die spießige Bürgerlichkeit zurück. Der Radikalenerlass hatte die Gründung der Ökopartei um ein Jahrzehnt hinausgezögert, davon war Sehlings überzeugt. Er kannte sich aus damit, seine Mutter hatte ihm von deren Gründungszeit mindestens so oft erzählt wie sein Opa von seinen Kriegserlebnissen als SS-Mann. Für seinen Vater hatte der Radikalenerlass sogar direkte Auswirkungen gehabt. Er blieb seinen Idealen treu. Statt, wie geplant, Lehrer zu werden, ging er in die Wirtschaft, wurde Manager und schließlich Vorstandsvorsitzender.
Wie viele der Parteimitglieder, wie viele seiner Kameraden und alten Weggefährten würden jetzt die Biege machen und so tun, als wenn sie von der Deutschlandpartei noch nie etwas gehört hätten, fragte sich Sehlings. Er kannte das bereits. Die Deutschlandpartei war nicht die erste Partei, von der er gedacht hatte, dass sie das Sprungbrett sein konnte für seine Mission. Doch noch nie war er seinem Ziel so nahe gewesen. Die Deutschlandpartei saß mit über neunzig Abgeordneten im Deutschen Bundestag, war in allen Landtagen vertreten und auch im Europaparlament. Das alles brachte viel Geld ein und Posten, mit denen die Kämpfer für die Mission versorgt werden konnten. Es bildete die organisatorische Basis für die nächsten Schritte.
»Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns aus dem Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen«, hatte Joseph Goebbels im Völkischen Beobachter zum Parlamentseinzug der NSDAP im Jahr 1928 geschrieben. Sehlings hatte lange und sehr genau studiert, wie es Hitler und seinen Mannen von 1928 an in nur wenigen Jahren gelang, die Macht im Land zu ergreifen. Er kannte zahlreiche Passagen aus Hitler- und Goebbels-Reden auswendig und wusste alles über den nach Hitler einflussreichsten Mann des Dritten Reichs, Heinrich Himmler. Der Gedanke, dass seine Mission scheitern könnte, jetzt, wo sie so weit gekommen waren, machte Sehlings traurig und wütend zugleich. Er drückte seinen Fuß auf das Gaspedal und raste auf der Autobahn in der dunklen, kalten Winternacht Ostdeutschland entgegen.
Seine Gedanken kreisten um die Entwicklung der letzten Jahre. Seit seinem ersten Zusammentreffen mit Dr. Adalbert Hausding war für ihn vieles anders geworden. Er war jetzt Landtagsabgeordneter seiner Partei und stand einem der mitgliederstärksten und aktivsten Verbände der Deutschlandpartei vor. Zudem war er der Fraktionsvorsitzende im Landtag und Mitglied im Bundesvorstand. Er war der Ziehsohn von Dr. Adalbert Hausding. Er war einer der mächtigsten und gefürchtetsten Männer in der Partei. Dafür hatte er die letzten fünf Jahre hart gearbeitet.
Das Klingeln seines Mobiltelefons riss Sehlings aus seinen Gedanken. Er schaute auf das Display. Es war Ronny Matschinski. Was will der jetzt bloß von mir?, dachte er. Trotz seiner schlechten Laune nahm er den Anruf entgegen.
»Guten Abend, Kommandeur«, sagte der Anrufer. Seine Stimme klang ängstlich. »Ich habe den Führer in der Talkshow gesehen. Was machen wir jetzt? Wir müssen doch etwas tun. Sonst ist die ganze Sache verloren.«
Friedrich Sehlings kannte Matschinski schon lange. Auch für diesen war es nicht die erste Mitgliedschaft bei einer rechten Partei. Sofort nach dem ersten Zusammentreffen mit Dr. Adalbert Hausding hatte Sehlings viele seiner alten Kampfgenossen angerufen und reaktiviert. So auch den Rechtsanwalt Ronny Matschinski. Sehlings wusste: Wo immer es Posten zu verteilen gab, war Matschinski zur Stelle. Doch genauso schnell war er auch wieder weg, wenn Gefahr drohte.
Und dennoch musste er auf ihn zurückgreifen. Matschinski war einer der besten Druckverkäufer, die man sich vorstellen konnte. Er war ausgezeichnet darin, auch skeptischen Zeitgenossen eine Mitgliedschaft in der Deutschlandpartei anzudrehen, und in der Lage, selbst die abseitigsten politischen Themen zu verkaufen. Und genau solche Leute brauchte eine neue Partei. Mit diesen Fähigkeiten hatte Matschinski es innerhalb kurzer Zeit zu hohen Ämtern in der Partei gebracht: Auch er war einer der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden im Bundestag und Mitglied im Bundesvorstand.
»Ich habe schon mit einigen Mitgliedern des Deutschen Herzens gesprochen. Auch sie sind der Meinung, dass wir jetzt schnell einen Gegenangriff starten müssen, notfalls müssen wir radikaler werden. Wir müssen es denen da oben endlich zeigen«, redete Matschinski auf Sehlings ein.
»Nun mal ganz langsam, Ronny. Die Beobachtung heißt erst einmal gar nichts. Teile der Linkspartei werden seit Jahren beobachtet, und denen ist auch nichts passiert. Die stellen sogar einen Ministerpräsidenten.« Friedrich Sehlings versuchte seinem Kampfgefährten Mut zu machen. »Wir müssen das positiv sehen. Die Beobachtung ist doch so etwas wie eine Adelung für uns.«
»Aber wir müssen doch etwas tun! Diese elenden Feindzeugen werden von nun an noch stärker gegen uns vorgehen. Der Oberst reibt sich schon die Hände. Posaunt überall herum, dass es uns jetzt an den Kragen geht, besonders dir«, sprudelte es aus Ronny Matschinski heraus. »Der hat wohl was gegen dich in der Hand. Aus alter Zeit …«
»Feindzeuge« war das Wort, das die Mitglieder des Deutschen Herzens für innerparteiliche Gegner verwendeten. Sie waren in ihren Augen Verräter, weil sie nicht an die Mission glaubten, sondern sich der Christpartei anbiederten, um möglichst schnell in Regierungsämter zu kommen. Die beiden schlimmsten Feindzeugen waren Dr. Martin Müller und der Oberst.
»Der Oberst hat etwas gegen mich in der Hand aus früherer Zeit?« Friedrich Sehlings runzelte die Stirn. »Weißt du Genaueres?«
»Noch nicht«, antwortete Matschinski. »Er hat in einem Gespräch mit Müller so etwas angedeutet, er tat recht geheimnisvoll. Ich stand zufällig daneben und habe mitgehört. Vielleicht ist auch gar nichts dran. Du weißt doch, wie großspurig der immer ist. Gerüchte aus deiner Vergangenheit kochen doch immer mal wieder hoch.«
»Bleib bitte trotzdem dran«, befahl Sehlings.
»Jawohl, Kommandeur!«
Sehlings wollte das Gespräch beenden und sagte: »Wir dürfen uns jetzt keinen Fehler erlauben. Wir sind gerade sehr verwundbar. Gute Nacht!«
»Ich mache mir wirklich Sorgen«, antwortete Matschinski. »Wir haben schon so viel erreicht. Es wäre schade, wenn wir das alles jetzt aufgeben müssten. Gute Nacht.«
Friedrich Sehlings war sauer. »Dieser elende Opportunist«, murmelte er vor sich hin. »Der hat doch nur Angst, dass er seine Pfründe verliert.« Sorgen machte er sich aber wegen des Obersts. Der konnte eine wirkliche Gefahr für ihn werden.
Doch weit kam Friedrich Sehlings mit seinen Gedanken nicht. Der nächste Anrufer war schon in der Leitung. Es war Hans-Jürgen Lehmann, der Vorsitzende des Deutschen Herzens. Der Inhaber eines Lebensmittelgeschäftes saß in keinem Landtag und auch nicht im Bundestag, er war nur eines von vielen Mitgliedern im Bundesvorstand. Als charismatisches Aushängeschild des völkischen Flügels der Partei war er jedoch immer mächtiger geworden.
»Die Zeit des Waldgangs ist gekommen«, flüsterte Lehmann ins Telefon. »Meine Truppen stehen zum Sturm auf das Winterpalais bereit. Wir müssen die Revolution jetzt machen.«
Sehlings stöhnte innerlich. Die Revolutionsfantasien haben ihm das Gehirn vernebelt, dachte er. Der glaubt tatsächlich, er sei sowas wie ein rechter Lenin. Leider brauchte Sehlings ihn noch. Mit dem biederen Dr. Adalbert Hausding hatte Friedrich Sehlings die ideale bürgerliche Fassade für seine Mission gefunden. Der frühere hohe Beamte war die Verkörperung der alten Bundesrepublik, ein intellektueller Vertreter der westdeutschen Christpartei der Siebziger- und Achtzigerjahre, einer Zeit, nach der sich die bürgerlichen Konservativen in Deutschland zurücksehnten. Was ihm damals aber noch fehlte, war eine Integrationsfigur auf der völkischen Seite. Dort gab es viele Splittergruppen und Möchtegern-Führer, die alle ihr eigenes Süppchen kochten, aber nicht den Anschluss an bürgerlich-konservative Kreise fanden. Sehlings war klar, dass seine Mission nur gelingen konnte, wenn beide Gruppen zusammen agierten. Dazu bedurfte es einer charismatischen Figur, der die Völkischen zu folgen bereit waren. Die meinte er in Hans-Jürgen Lehmann gefunden zu haben.
Denn die Deutschlandpartei bestand eigentlich aus zwei Parteien. Ihr Erfolg lag darin, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik einen Brückenschlag zwischen konservativen Bürgerlichen und Völkischen zu erreichen. An der Kluft zwischen beiden Gruppen waren bisher alle Versuche gescheitert, in Deutschland ein Viertes Reich zu errichten. Bis zur Gründung der Deutschlandpartei hatte die Christpartei die konservativen Bürgerlichen im Griff. Kaum ein Konservativer wollte es wagen, den Mutterschoß der Christpartei zu verlassen und eine eigene Partei zu gründen. All jene, die rechts außerhalb der Partei standen, galten als anrüchig. Über den neuen rechten Parteien schwebte auch immer das Damoklesschwert eines möglichen Parteienverbotes durch das Bundesverfassungsgericht.
Bis zum Jahr der großen Flüchtlingskrise hatte dieser Mechanismus des »Teile und Herrsche« gut funktioniert. Seitdem die Christpartei aber Abschied von ihrer langgepflegten gesellschaftlichen Aufgabe genommen hatte, die Konservativen am rechten Rand zu integrieren und damit unschädlich zu machen, und begann, ihr Heil in der urbanen, links und grün angehauchten Wählerschicht zu suchen, war alles anders.
Bei Hans-Jürgen Lehmann musste man vorsichtig sein. Der Mann war sensibel, konnte leicht aus der Haut fahren und bildete sich auf seinen Status als Star der Völkischen etwas ein. Allerdings war er auch leicht manipulierbar. Besonders historischen Vergleichen war er zugeneigt, hatte er doch vor seiner Karriere als Lebensmittelhändler Geschichte und Biologie auf Lehramt studiert.
»Ja, die Zeit des Umbruchs ist bald da«, antwortete Friedrich Sehlings. »Wir brauchen aber noch etwas Zeit, um alles richtig vorzubereiten. Manchmal muss man sich mit seinem Erzfeind erst verbünden, um ihn dann zu vernichten. Denk immer daran: Ohne Rapallo hätte es das Unternehmen Barbarossa nie geben können.«
Friedrich Sehlings wusste, an welchen Knöpfen er bei Lehmann drehen musste. Seine Staatsexamensarbeit hatte der Lebensmittelhändler über den Vertrag von Rapallo geschrieben. Der Vertrag zwischen Deutschland und Russland normalisierte einst die Beziehungen der beiden Staaten und führte sie aus der internationalen Isolation heraus, in die Russland infolge der Oktoberrevolution und Deutschland wegen des Ersten Weltkriegs geraten war.
»Das Deutsche Herz ist unsere Luftwaffe«, fuhr Sehlings fort. »Und unser Rapallo ist, dass wir das Deutsche Herz offiziell auflösen. Dann können wir es umso besser im Geheimen aufrüsten. Wie damals die Reichswehr die Luftwaffe für das ›Unternehmen Barbarossa‹.« Dass der einst so betitelte Angriff auf die Sowjetunion damals für die Deutschen fatal ausgegangen war, dieses Detail ließ Sehlings lieber weg. »Du verkündest schnellstmöglich die Auflösung des Deutschen Herzens. Es ist nur eine Frontbegradigung, bis wir den Angriff starten können.«
Das Ganze widerstrebte Lehmann zwar, aber gegen historische Argumente war er machtlos. Also erklärte er sich einverstanden. Doch ruhigstellen konnte Sehlings Lehmann immer nur für kurze Zeit – bis ihn ein anderer mit einer anderen historischen Anekdote zu etwas anderem beschwatzte.
Kaum hatte Lehmann aufgelegt, da rief Hausding an. Er und Herbert hatten Florentine Fischer gerade in Berlin abgesetzt.
»Guten Abend, Herr Sehlings, ich wollte sie nur kurz darüber informieren, dass der Müller jetzt doch wohl die von ihm lange geplante Parteitrennung durchziehen will. Machen Sie mal einen Plan, wie wir das verhindern können.«
Friedrich Sehlings antwortete nur knapp: »Jawohl, Herr Dr. Hausding. Ich kümmere mich darum.« Er sah auf die Uhr, er hatte erst gut die Hälfte der Strecke hinter sich. Eine halbe Stunde später klingelte sein Telefon erneut. Dieses Mal war es Herbert. Er hatte den Parteivorsitzenden gerade bei seiner Vorstadtvilla abgesetzt.
»Hallo Kommandeur, der Führer hat dich ja schon darüber informiert, dass der Müller die Partei spalten will. Er hat dir allerdings verschwiegen, dass der Oberst verfängliches Material aus deiner Vergangenheit in die Hand bekommen soll und es gegen dich verwenden will. Sieht so aus, als ob uns dieses Mal echte Gefahr droht. Die Nichte des Führers ist schon dran.«
»Ich danke dir, Herbert«, sagte Sehlings. »Dann ist jetzt wohl dringend eine Lagebesprechung der Küchenbrigade notwendig.«
»Sehr schön«, erwiderte Herbert. »Ich freue mich schon auf ein gutes Essen und auf den Cognac.«
Auf der nächtlichen Autobahn war Sehlings nun fast allein. Mit Tempo 180 raste er durch das Dunkel der Nacht. In den frühen Morgenstunden kam er endlich bei seinem Bahnwärterhäuschen an. Er schürte den Kamin an und setzte sich in einen der Lehnsessel, seinem Lieblingsort direkt vor dem Kaminfeuer. Es war der größte Raum in dem kleinen Haus aus den dreißiger Jahren. Einst bewohnte es ein preußischer Bahnwärter, und der Raum war die gute Stube der mehrköpfigen Familie. Jetzt war er ihm Bibliothek, Arbeitszimmer und geistiger Rückzugsort. Hier konnte Sehlings seine kleinbürgerliche Fassade fallen lassen. Ein großer Schreibtisch nahm die eine Seite des Raumes ein, die drei Lehnsessel vor dem Kamin füllten die andere Seite aus. Er goss sich einen Cognac ein. Die lodernden Flammen spiegelten sich in den Gläsern seiner Brille.
Sein Blick streifte über die Bücher auf mooreichenen Bibliotheksregalen, dicht an dicht gepackt bis unter die niedrige Decke: Handbücher der Machtmechanik, Lehrwerke zur Machtergreifung, Klassiker der militärischen und politischen Strategie. Sehlings hatte sie alle gelesen, immer wieder, sie penibel studiert in langen Nächten: Sunzi, Machiavelli, Clausewitz und Lenins Was tun?, eines der Hauptwerke der marxistisch-leninistischen Parteitheorie. Da stand auch die rechte Weiterentwicklung von Lenins Werk, das Buch Für eine positive Kritik des französischen Rechtsaktivisten Dominique Venner aus den sechziger Jahren, ebenso wie die Gefängnishefte des italienischen Marxisten Antonio Gramsci aus den dreißiger Jahren, in denen dieser seine Theorie der kulturellen Hegemonie darlegte.
Vor allem aber stand da ein Werk, das ihn immer wieder begeistert hatte. Das Buch war schon ziemlich abgegriffen, so oft hatte Sehlings es in die Hand genommen: Joachim C. Fests dickleibige Hitler-Biografie. Seine Eltern hatten sie ihm zu seinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Sie dachten wohl, sie würden mit dem Buch des konservativen Historikers und Journalisten bei ihrem Sohn das Bild des Führers, das sein geliebter Großvater ihm malte, zurechtrücken können.
Doch Sehlings hatte das Werk mit ganz anderen Augen gelesen: als Blaupause einer erneuten Machtergreifung. Er nahm den mehr als tausend Seiten dicken Wälzer aufs Neue zur Hand und schlug das Kapitel »Die große Angst« auf, sein Lieblingskapitel. Es beschrieb das Spektrum jener Angstvorstellungen, die die Menschen in der Zeit der Weimarer Republik heimsuchten und sie in das Lager der extremen Rechten trieben. Das Kapitel zeigte all das Krisenhafte auf, das mentale Erkranken am Zivilisatorischen, die gesellschaftlichen Erregungszustände im Deutschland der Vorkriegszeit. Es zeigte, wie und warum die Deutschen in Adolf Hitler ihren Retter sahen.
Eine Zeit solcher gesellschaftlichen Erregungszustände erlebte er nun in Deutschland wieder. Die große Angst war wieder da. Allerorten spürte er bei den Menschen die Angst vor dem Untergang des Vertrauten, die Angst vor Kontrollverlust, die Angst vor Anarchie. Er spürte, dass die Menschen sich wieder nach einem Führer sehnten.
Sehlings fing an zu lesen, er kannte die Sätze fast schon auswendig: »Mit dem Hinzutreten Hitlers waren Energien vereint, die, unter krisenhaften Bedingungen, die Aussicht großer politischer Wirksamkeit besaßen. Denn die faschistischen Bewegungen haben sich in ihrer sozialen Substanz durchweg auf drei Elemente gestützt: das kleinbürgerliche mit seinen moralischen, wirtschaftlichen und gegenrevolutionären Indignationen, das militärischrationalistische sowie das charismatische des einzigartigen Führers. Er war die entschlossene Stimme der Ordnung, die dem Durcheinander, dem chaotischen Element, gebot, er hatte weiter geblickt und tiefer gedacht, er kannte die Verzweiflungen, aber auch die Rettungsmittel.«
Früh entwickelte Sehlings für sich seine Mission, die Ergreifung der Macht in Deutschland. Doch im Moment stand es schlecht darum: Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz würde der Partei Mitglieder und Wähler kosten. Dr. Martin Müller plante die Parteispaltung. Der Oberst sollte bald verfängliches Material in Händen halten, das ihm das Genick brechen konnte. Und der schöne Lehmann war nur vorübergehend ruhiggestellt, plante womöglich schon die Wiederauflage des Sturms auf das Winterpalais, eine Revolution, einen Bürgerkrieg.
Jetzt war Sehlings zu müde, weiter darüber nachzudenken, ob die Arbeit der letzten fünf Jahre umsonst war. Er hatte nichts dagegen, in seinem Lehnsessel mit dem Hitlerbuch auf dem Schoß einzuschlafen. Sein matter Blick glitt zu seinem Schreibtisch. Dort lag er: Der SS-Dolch seines Großvaters, das Relikt eines vergangenen Deutschlands. Wie es jetzt aussah, würde dieses Deutschland wohl nie wieder auferstehen. Dann übermannte Sehlings der Schlaf. Im Traum glitt er zurück in die Anfangstage der Deutschlandpartei. Er sah sich selbst, wie er Dr. Adalbert Hausding das erste Mal gegenübertrat und ihm die Hand schüttelte …