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KAPITEL 2

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Die Deutschlandpartei war erst wenige Wochen alt, doch hatte sie bereits viele Anhänger. Immer mehr Deutsche sehnten sich nach einer Alternative zu den bestehenden Parteien. Und die Deutschlandpartei versprach ihnen, diese Alternative zu sein. Der Mann mit der Gartenzwergkrawatte war ihr Mitbegründer und einer der beiden Vorsitzenden. Die Vorsitzenden tourten durchs Land, sprachen in Festsälen von Landgasthäusern, um Mitglieder für die neue Partei zu gewinnen. Und die Menschen strömten ihnen zu, besonders dem greisen, vertrauenerweckenden Dr. Adalbert Hausding.

Friedrich Sehlings hatte sich aufgemacht, eine dieser Veranstaltungen zu besuchen. Vom Rand aus hatte er die Rede Hausdings aufmerksam verfolgt. Jetzt näherte er sich dem Pulk von Menschen, die Hausding umringten und auf ihn einredeten. Frauen und Männer – mehr Männer, vor allem alte Männer, aber doch auch ein paar junge. Das Gesicht des vortragenden alten Mannes wirkte eingefallen, geistesabwesend, als ginge ihn das alles nichts an, was da jetzt um ihn herum geschah. Er ließ es über sich ergehen.

Einer der Zuhörer klopfte ihm fest auf die Schulter, gluckste anerkennend und konnte sich gar nicht mehr einkriegen vor Lob. Auch das ließ der Alte stoisch über sich ergehen. Ein Mann aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt. So stand er da mit seiner Gartenzwergkrawatte, seiner hellbraunen Bundfaltenhose und seinem anthrazitfarbenen Trachtenjanker.

Sehlings blieb einige Schritte außerhalb der Menge stehen, als wolle er nicht dazugehören. Er wartete geduldig, bis sich der Pulk allmählich auflöste. Zwei junge Männer wollten noch ein Autogramm. Der Alte wirkte unsicher, so als ob er zum ersten Mal ein Autogramm gab, und kniff die Augen zusammen. »Wo soll ich unterschreiben?« Wortlos reichte ihm der junge Mann den Flyer, der auf die Veranstaltung hinwies und den der Wirt des Gasthauses auf jeden Stuhl gelegt hatte. Zusammen mit kaum lesbaren, handkopierten Mitgliedsanträgen.

Die beiden Männer bedankten sich und gingen. Hausding blieb gedankenversunken zurück, reglos, den Blick auf den Boden gesenkt. Dann sah er sich um, als wüsste er nicht, wo er sich befand. Er bemerkte Sehlings, der immer noch wartete, einige Schritte entfernt. Ihre Blicke trafen sich. Sie sahen sich an. Er sagte nichts, aber man sah ihm an, was er dachte: »Bitte nicht noch so einer!«

Sehlings überlegte kurz, was er sagen sollte. Ihm fiel nichts Passendes ein. »Verzeihung, ich wollte nicht dazugehören«, rutschte es ihm heraus. Dann fing er sich, ging zu dem alten Mann und reichte ihm die Hand. Dessen unerwartet laffer Händedruck stand in einem merkwürdigen Kontrast zu den scharfen Worten eben auf dem Podium.

»Mein Name ist Friedrich Sehlings. Ich möchte bei Ihnen mitmachen. Sie unterstützen.« Er unterließ jedes Lob und jede Schmeichelei. Das hatte der Mann in der letzten Viertelstunde genug gehört. Lieber kam er sofort zur Sache. »Ich habe meinen Mitgliedsantrag schon ausgefüllt.«

Hausding sah ihn mit leerem Gesichtsausdruck an. »Wir können jede helfende Hand gebrauchen.« Es klang so, als hätte der Mann das in den vergangenen Wochen schon Hunderte Male gesagt.

»Nein, ich meine … äh, ich meine, ich will helfen … mitorganisieren«, stammelte Sehlings.

Auch das schien Hausding nicht zu überzeugen.

Jetzt wurde Sehlings direkter. »Sie haben wirklich eine tolle Rede gehalten. Aber das Drumherum stimmt nicht. Warum gibt es hier keinen Tisch mit einer Box, in die man seine ausgefüllten Mitgliedsanträge stecken kann? Warum gibt es hier nirgendwo ein Roll-up von der Partei?«

»Roll… was?« Hausding runzelte die Stirn und sah Sehlings an, als habe er von solchen Dingen noch nie etwas gehört. »Wir sind erst am Anfang, haben noch kein Personal.«

»Ich möchte Sie bei solchen Dingen unterstützen. Ich bin gut in sowas.«

Hausdings Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Er schien etwas überfordert mit dem Angebot, das ihm da gerade unterbreitet wurde.

»Wann und wo halten Sie denn Ihre nächste Rede?«, fragte Sehlings in betont freundlichem Ton. »Ich könnte doch das Drumherum organisieren, wenn Sie nichts dagegen haben …«

Wortlos sah sich Hausding um, er schien irgendetwas zu suchen. Sein Blick fiel in eine der Ecken des Saals, dort stand ein abgewetzter, brauner Lederkoffer. Bedächtig ging Hausding dorthin, ergriff ihn und kehrte zu Sehlings zurück. Umständlich öffnete er den Koffer und kramte ein braunes, in Leder gebundenes Notizbuch hervor. Es war genauso abgewetzt wie der Koffer und wohl auch genauso alt. Hausding schlug es auf. Er blätterte. »Am Samstag, in einem Gasthof irgendwo an der niederländischen Grenze, 19 Uhr.«

Sehlings zog sein iPhone aus der Jackett-Tasche und wischte auf dem Display herum. »Ja, passt, wunderbar«, sagte er. »Wer fährt Sie denn?«

Wieder blickte Hausding Sehlings etwas begriffsstutzig an. Schließlich sagte er müde: »Ich fahre immer selber.«

»Das geht doch nicht«, rief Sehlings empört. »Das sind doch mehrere hundert Kilometer. Ich fahre Sie. Geben Sie mir mal Ihre Telefonnummer. Ich rufe Sie morgen an. Dann können wir alles Weitere besprechen. Jetzt sind Sie sicherlich müde.«

Wieder öffnete Hausdings umständlich seinen Koffer, wühlte darin herum und holte schließlich einen Pack Visitenkarten, zusammengehalten mit einem roten Gummiband, hervor. Er zog langsam eine heraus und überreichte sie Sehlings.

Der schaute sie sich an und sagte: »Oh, sind das Ihre privaten? Das müssen wir auch ändern. Es gibt viel zu tun. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Dann gab er Hausding erneut die Hand und spürte wieder den merkwürdig laffen Händedruck des alten Mannes.

Einige Wochen später stand Friedrich Sehlings erneut an der holzvertäfelten Wand eines großen Festsaals. Aus allen politischen Lagern strömten in jenen Tagen der Deutschlandpartei neue Anhänger zu. An erster Stelle ehemalige Mitglieder der Christpartei, denen ihre alte Partei zu links und zu urban geworden war. An zweiter Stelle Anhänger der Sozialpartei, die darauf hofften, dass sich die neue Partei für die kleinen Leute einsetzte. Die alte Sozialpartei war in ihren Augen längst eine Partei der Akademiker, der Journalisten und gut versorgten Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Zahlreich waren, vor allem im Osten des Landes, auch ehemalige Mitglieder der Linkspartei. Sie sehnten sich nach einer neuen Protestpartei. Denn die alten Genossen waren im neuen System versackt und genossen die Pfründe des bundesrepublikanischen Politikbetriebes.

Vor allem aber profitierte die Deutschlandpartei von der Flüchtlingskrise. Sie war der Startschuss für eine Politisierung der Gesellschaft, das Schlüsselerlebnis für viele, sich politisch zu engagieren. Menschen, die vorher nicht politisch waren und erst recht nicht in einer Partei organisiert, wandten sich der Deutschlandpartei zu. Ihre Motive waren diffus: Angst vor Fremden, Hass auf das Establishment, Furcht vor Statusverlust, das Wiederaufbrechen einer längst verschwunden geglaubten Kluft zwischen Ossis und Wessis, die Sehnsucht nach der alten westdeutschen Wohlstandsgesellschaft der Achtzigerjahre, eine latente Unzufriedenheit mit der Demokratie. Was ihnen allen gemeinsam war: Sie fühlten sich von den alten Parteien nicht mehr vertreten. Sie alle vereinte der Protest gegen die gegenwärtigen Zustände in Deutschland.

Von der Rückseite des Saals aus hatte Sehlings alles im Blick. Ihm entging nichts. Nicht der Redner, nicht das Publikum und auch nicht seine drei Jungs. Der eine betreute den Informationsstand, der andere schob Wachdienst an der Tür, der dritte filmte mit einer Videokamera Hausdings Rede. Vorne zog Dr. Adalbert Hausding seine Show ab. Sehlings hatte die Rede jetzt bestimmt schon zwanzigmal gehört, er kannte inzwischen jedes Wort, jede Pointe, jeden rhetorischen Seitenhieb auf die Ökopartei und die Sozialpartei und vor allem auf die nach links abgedriftete Christpartei.

Die Säle der Landgasthäuser glichen einander: hölzerne Kneipenstühle, kitschige, das Landleben verherrlichende Ölschinken an den Wänden, umrahmt von alten Pferdehalftern oder anderen Devotionalien einer vergangenen altdeutsch-bäuerlichen Welt. Im Schankraum gab es meist große Schnitzel mit viel Pommes zu moderaten Preisen. Und noch eines hatten die Gasthöfe gemeinsam: Sie lagen alle in der Provinz, fernab der großen Metropolen. Hier wohnten, hier arbeiteten und hier verzweifelten die Menschen, die der Deutschlandpartei zuströmten.

Dr. Adalbert Hausding wirkte fremd unter diesen Menschen. Er war ein intellektueller Metropolenbewohner, verkehrte einst unter den Geistesgrößen der alten Bundesrepublik und hatte mit dem Ticket der Christpartei als promovierter Jurist eine glänzende Verwaltungskarriere gemacht. Jetzt war er alt, schon viele Jahre in Pension. Doch auch an ihm nagten die Zustände in Deutschland und in seiner einst so geliebten Christpartei. Sie hatte ihm einmal so viel bedeutet. Noch heute erzählte er stolz davon, wie er einmal vom alten Bundeskanzler der Christpartei in dessen Privathaus zum Saumagen-Essen eingeladen worden war.

Wie anders war nun die neue Christpartei. Mit einigen anderen Intellektuellen hatte Hausding eine Initiative zur Rettung seiner Partei gegründet. Sie hatten um ein Gespräch auf höchster Ebene gebeten. Was er dann erlebte, schilderte er in seiner Standardrede als den Schlüsselmoment zur Gründung der Deutschlandpartei.

»Wir wurden von einem jungen, zweitrangigen Referenten empfangen. Er führte uns wie Touristen durch die Parteizentrale. Am Abend lud er uns in ein vegetarisches Restaurant im Prenzlauer Berg ein. Da saßen wir dann unter den ganzen grünen, verwöhnten Latte-macchiato-Müttern. Der junge Referent erzählte uns etwas von der urbanen und hippen Christpartei, mit der man heute Wahlen gewinnt. Uns Alten und Erfahrenen wollte dieser Grünschnabel erst gar nicht zuhören.«

Sehlings wusste, was jetzt kam. Hausdings Stimme wurde lauter und aggressiv: »Solche Grünschnäbel sind es, die aus unserer schönen konservativen Saumagen-Christpartei eine grüne Vegetarier-Latte-macchiato-Christpartei gemacht haben. Diese Christpartei will aus unserem geliebten Deutschland ein grünes Multikulti-Projekt machen. Wir von der Deutschlandpartei kämpfen gegen dieses grüne Multikulti-Deutschland.«

Im Saal donnerte Applaus auf. Hausding setzte jetzt zum Endspurt seiner Rede an. Sehlings hielt einen Arm hoch und beschrieb mit ihm über seinem Kopf einen großen Kreis. Das war beim Militär das Zeichen für den Befehl zum Sammeln. Sofort setzten sich seine drei Jungs in Bewegung und kamen zu ihm. Dann folgte die Befehlsausgabe: »Nach der Rede des Führers drückt ihr jedem, der den Saal verlässt, einen Mitgliedsantrag in die Hand. Dann baut ihr ab. Ich gehe in der Zeit mit dem Führer im Schankraum noch etwas essen. Beeilt euch aber. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.« Die drei nickten gehorsam.

»Der Führer ist wie ein Spielzeugtrommler«, fügte er hinzu. »Ihr wisst schon: Diese Blechtrommler, die wie wild trommeln, solange sie aufgezogen sind, und dann in sich zusammenfallen. Nach seiner Rede ist er anderer Mensch. Ich muss ihn dann abschirmen von den ganzen Verrückten, die ihn bedrängen und ihm wer weiß was erzählen. Ich muss immer wissen, wer was von ihm will, mit wem der Führer redet. Verstanden?« Die drei nickten wieder und machten sich davon.

Im Schankraum aßen Dr. Adalbert Hausding und Friedrich Sehlings nach dem Auftritt Schnitzel mit Pommes.

»Was ich Sie schon immer einmal fragen wollte …«, erhob Hausding das Wort, während er noch an einem besonders zähen Rest Schnitzel kaute. »Warum tragen die jungen Männer, die uns begleiten, eigentlich immer rote Krawatten und rote Hosenträger?«

»Das ist bestimmt so ein neuer Jugendtrend, ein Modetick. Statt Filzhaaren und zerschlissenen Jeans drücken die jungen Leute von heute ihren Protest und ihre Gesinnung eben mit roten Krawatten und mit Hosenträgern aus.«

»Ach so«, sagte Hausding. Die Erklärung schien ihm zu genügen.

Friedrich Sehlings kannte viele Leute, die der neuen Partei wohlgesinnt waren. Für die dritte Veranstaltung, zu der er Hausding begleitete, hatte er bereits einen Kleinbus organisiert. Die drei jungen Männer in Hosenträgeruniform waren immer dabei. Sie fuhren die beiden Männer und kümmerten sich um alles Organisatorische. Hausding saß immer hinter dem Fahrer, Sehlings vorne auf dem Beifahrersitz.

Eines Abends, nachdem das Begleitkommando Hausding bei seiner Vorstadtvilla abgesetzt hatte, bekam Sehlings einen Anruf. »Hallo, hier ist Ronny Matschinski, erinnerst du dich noch?«, tönte es aus dem Smartphone.

»Na klar, das ist aber eine Überraschung«, sagte Sehlings. »Ist ja eine Ewigkeit her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.«

Ronny Matschinski kam direkt zur Sache: »Ich habe gehört, dass du bei der Deutschlandpartei bist. Ich würde gerne bei euch mitmachen. Ich finde den Dr. Adalbert Hausding wirklich ganz toll. Das ist eine richtige Führerpersönlichkeit, wie wir sie uns immer gewünscht haben.«

»Das habe ich mir fast schon gedacht, dass du dich irgendwann meldest«, erwiderte Sehlings. »Schick mir deinen Mitgliedsantrag, ich kümmere mich um die Mitgliederverwaltung hier. Unser zweiter Bundesvorsitzender ist allerdings ein Kontrollfreak. Der kann Männer wie uns Kameraden nicht ab. Der kontrolliert alle Bewerber, ruft sie persönlich an und stellt Fragen. Er bekommt von mir zwar nur bereinigte Datensätze, aber der ist ziemlich misstrauisch. Wenn er bei dir anruft, dann erzähl ihm nicht, dass wir uns kennen, und auch nichts von den alten Zeiten.«

»Mensch, das waren echt wilde Zeiten«, rief Ronny Matschinski euphorisch. »Aber ich habe schon verstanden. Der bekommt von mir eine astreine Show geliefert.« Er lachte. »Du bist immer noch der alte Strippenzieher! Und den Trick mit den bereinigten Datensätzen hast du auch immer noch drauf. Ich freue mich echt.«

»Ich werde mich in den nächsten Wochen bei dir melden. Dann können wir überlegen, wie wir dich einbinden. In der Zwischenzeit tu mir bitte einen Gefallen: Ruf die alten Kameraden an und sag, dass sie eintreten sollen. Sie sollen mich aber vorher kontaktieren, damit wir sie ohne Verdacht einschleusen können.«

»Dein Wunsch war mir immer Befehl«, antwortete Ronny Matschinski.


»Herbert, kleben Sie bitte die Benzinrechnung auf ein weißes DIN-A4-Blatt, beschriften es mit Datum und Fahrtziel und legen es mir dann mit der Reisekostenabrechnung vor.« Dr. Martin Müller war der zweite Bundesvorsitzende der Deutschlandpartei, zusammen mit Dr. Adalbert Hausding hatte er die Partei gegründet.

»Ich kümmere mich darum.« Herbert, griff nach der Rechnung und schloss die Wagentür. Sie kamen gerade von der monatlichen Sitzung des Parteivorstandes in einem Hinterzimmer eines Landgasthofes, zentral gelegen in Deutschland. Herbert fuhr.

Müller, Anfang vierzig, war ein Bürokrat, ein Aktenfresser und ein Kontrollfreak. Stets in einem tadellosen Anzug von der Stange, immer mit gestreifter Krawatte, war er die Verkörperung des spießigen, deutschen Staatsdieners. Auch wenn beide Parteigründer promovierte Juristen waren, gab es von Anfang an Spannungen zwischen den Männern um die Ausrichtung der neuen Partei. Zu deutlich war die Kluft zwischen dem gediegenen, aus großbürgerlichen Kreisen stammenden Hausding und dem kleinbürgerlichen Aufsteiger Müller, der es immerhin zum Vorsteher eines Finanzamtes in der Provinz gebracht hatte.

Am Tag, nachdem Friedrich Sehlings die erste Veranstaltung von Dr. Adalbert Hausding besucht hatte, war Herbert bei einer Hinterzimmerrede von Müller aufgetaucht und hatte sofort mit angepackt. Diese Hilfsbereitschaft hatte Dr. Martin Müller sehr imponiert. Bald übernahm Herbert für ihn die Organisation der Veranstaltungen und den Fahrdienst. Beide waren im gleichen Alter. Müller, der selbst langjährige Vertraute und Bekannte zu siezen pflegte, duzte ihn.

Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung.

»Hast du gesehen, wie dieser Sehlings um den Hausding herumscharwenzelt«, begann Müller. Entgegen seiner sonst verschlossenen, stets bedachten Art schüttete er seinem Fahrer das Herz aus. »Der ist ein richtig untertäniges, kleinbürgerliches Faktotum. Und wie der aussieht mit seinem GI-Haarschnitt und dieser altertümlichen Brille!« Müller war nun kaum mehr zu stoppen. »Und was Dr. Hausding heute wieder für ein intellektuelles Zeug von sich gegeben hat! Warum nur jubeln die Menschen dem so zu? Warum wird er ständig in diese Talkshows eingeladen?«

Herbert lenkte den Wagen durch den Ort auf die Landstraße in Richtung Autobahn.

»Weißt du eigentlich, was dieser Sehlings früher gemacht hat und wovon der so lebt? Der ist immer und überall und reißt sich um jeden Organisationsjob. Ich habe nur gehört, dass er Feldwebel bei der Bundeswehr war. Der hat schon etwas Schützengrabenhaftes an sich. Etwas Brutales. Leider hat der sehr viel Einfluss auf Dr. Hausding.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Herbert neugierig.

»Dr. Hausding kann nicht organisieren. Das lässt der alles den Sehlings machen. Und hast du gesehen, Herbert? Der fährt Hausding schon nicht mehr selber. Der hat jetzt immer junge Männer in diesen albernen Hosenträger-Uniformen dabei, denen er seine Befehle zubellt.« Müller klang nun ziemlich aufgebracht. »Und ständig telefoniert er. Mit wem telefoniert der denn nur immer?«

Herbert zog nur die Schultern hoch, den Blick auf die Landstraße gerichtet. Vor ihnen erschien die Auffahrt der Autobahn.

»Ich traue dem nicht über den Weg. Und dann hat der sich auch noch darum gerissen, die Mitgliederverwaltung zu übernehmen. Aber das sag ich dir: Ich lasse mir die Listen mit allen Bewerbern vorlegen und kontrolliere das, die meisten rufe ich persönlich an.«

»Kam es dabei denn schon mal zu Unregelmäßigkeiten?«, wollte Herbert wissen, während er den Wagen auf die Autobahn einfädelte.

»Nein«, sagte Müller. »Aber da kann man interessante Leute kennenlernen. Kürzlich habe ich mit einem sehr respektablen Rechtsanwalt telefoniert, Ronny Matschinski. Der hat während des Studiums ein Jahr in den USA verbracht. Genau solche Leute brauchen wir in der Partei.«

»Ach, Ronny ist also auch wieder dabei«, murmelte Herbert für sich, sodass es Müller nicht hören konnte.

In der Zwischenzeit hatte Müller einen Packen Zeitungen aus seinem Koffer hervorgeholt, die er während der Fahrt durcharbeiten wollte. Herbert warf einen Blick zur Seite. Zuoberst lag das Junge Deutschland.

»Mein Medium ist ja der Demokratische Beobachter«, sagte Müller, als er Herberts Blick bemerkte. »Das lese ich seit dem Studium. Etwas linkslastig und sehr kritisch, aber auch sehr gut und objektiv. Aber auf den Veranstaltungen sprechen mich die Menschen immer wieder auf das Junge Deutschland an. Deshalb habe mir das jetzt auch im Abo bestellt. Eine unsägliche Zeitung, ziemlich viel braunes Zeug …«

»Was meinen Sie mit braunem Zeug, Herr Dr. Müller?«, fragte Herbert und setzte den Blinker, um den Lkw vor ihnen zu überholen.

»Diese ganze Verherrlichung des Zweiten Weltkrieges. Die Ausländerfeindlichkeit. Dieses Gerede von der jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung … Das Junge Deutschland bedient alle diese Themen. Und für unsere Mitglieder scheint es die Leib- und Magenzeitung zu sein. Ganz ehrlich: Ich habe die Sorge, dass sich unsere Partei in die falsche Richtung entwickelt.«

»Was meinen Sie denn mit falscher Richtung?«, bohrte Herbert weiter, während er den Wagen wieder auf die rechte Spur zog.

»Zu einer Nazipartei. Wie damals die Demokratiepartei oder die Rechtsstaatspartei. Du erinnerst dich vielleicht noch?«

»Ja, nur zu gut«, sagte Herbert und lächelte.

»Bei einer Veranstaltung kürzlich war dieser Oliver Felsenstier da, der Chefredakteur des Jungen Deutschlands. Der hat mich interviewt. Mal sehen, was der über mich schreibt …«

Müller war eitel und ehrgeizig, das hatte Herbert sofort erkannt. Der Parteivorsitzende schlug die Zeitung auf, und suchte nach dem Artikel über die Deutschlandpartei und fing an zu lesen. Plötzlich rief er laut aus: »Das gibt es doch nicht!«

»Was ist passiert?« Herbert nahm den Fuß vom Gaspedal.

»Unfassbar, was dieser Felsenstier über Dr. Hausding und mich schreibt!« Dann begann Müller laut vorzulesen: »Was Dr. Adalbert Hausding mit Intellekt und Rhetorik gelingt, das versucht Dr. Martin Müller mit Fleiß und Disziplin wettzumachen. Doch er hat als Parteigründer nicht das Format seines Mitgründers. Das Politikgeschäft ist für ihn eine Art Verwaltungsakt. Seine Sprache wirkt hölzern und klingt wie Juristendeutsch. Nur ein Beispiel aus einer seiner Reden: ›In die aktive Politik hat mich die Nichteinhaltung der rechtlichen Prozesse bei der Umsetzung der Einwanderung gebracht.‹ Mit solch einer Sprache gewinnt man keine Menschen, die sich in schweren Zeiten nach einer charismatischen Führerpersönlichkeit sehnen.«

»Oh, das ist bitter«, sagte Herbert und schüttelte den Kopf.

»Es geht noch weiter, hör mal!« Müller las vor: »Wie anders klingt da die erfrischende Rhetorik des Dr. Adalbert Hausding, wenn er davon spricht, wie aus der ›schönen konservativen Saumagen-Christpartei eine grüne Vegetarier-Latte-macchiato-Christpartei‹ geworden ist. Das reißt die Menschen vom Hocker. Deshalb strömen sie in Massen zur Deutschlandpartei.« Wütend faltete Müller die Zeitung zusammen und warf sie auf die Rückbank.

Herbert wollte den Parteivorsitzenden ablenken und fragte: »Waren Sie nicht auch mal bei der Christpartei?«

Müller nickte. »Ja, aber ich bin ausgetreten, wegen der Linksverschiebung. Inhaltlich hat Dr. Hausding ja durchaus recht. Die heutige Christpartei ist nicht mehr die, in die ich mal eingetreten bin. Die ist schon ziemlich grün geworden. Und ich kann das beurteilen: Ich war nämlich auch mal bei der Ökopartei«, erzählte Müller mit einem Anflug von Stolz in der Stimme.

»Was?« Herbert konnte es kaum glauben. »Sie waren bei der Ökopartei?«

»Ja, auch ich hatte meine wilden Jahre. Das war zu Beginn meines Studiums. Ich habe mich damals sehr für Umwelt- und Naturschutz interessiert. Ich war ein paar Monate Mitglied, habe sogar einige Zeit ausprobiert, vegetarisch zu leben«, berichtete Müller.

Herbert war wirklich erstaunt. »Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht.«

»Doch Herbert, ich war ein ganz Wilder.« Auf Müllers Bubengesicht schlich sich ein Lächeln. »Ich habe sogar einige Zeit in einer Studentengruppe mitgemacht, die Tiere aus Universitätslaboren befreit hat.«

Herbert hatte Mühe, sich weiter auf den Verkehr zu konzentrieren. »Das haut mich jetzt aber echt um.«

»Ich habe natürlich nichts Verbotenes gemacht. Ich habe die Bekennerschreiben formuliert und als angehender Jurist aufgepasst, dass da nichts Strafbares drinsteht.«

»Aber Sie sind doch schon als Student in die Christpartei eingetreten, sagen Sie immer in Ihren Reden«, wunderte sich Herbert.

»Meine wilde Phase war ja auch nur ganz kurz. Dann habe ich gesehen, dass der Ansatz der Ökopartei nicht meiner ist, und bin in die Christpartei. Das war auch besser für meine Laufbahn«, erklärte Müller freimütig.

Was danach folgte, wusste Herbert: Nach dem Studium ging Müller in die Finanzverwaltung und kaufte sich schon in jungen Jahren ein Reihenhaus mit Garten in der Vorstadt.

»Etwas ist aber noch geblieben aus dieser Zeit.«

»Was denn?«, fragte Herbert, immer noch verblüfft über das Geheimnis, das ihm Müller gerade anvertraut hatte.

Müller lächelte breit. »Ich halte heute Hühner nach der Methode des ökologischen Landbaus und produziere meinen eigenen Bioeier. Vollkommen ohne Gift, nur mit den Kräften der Natur.«

Vor ihnen tauchte plötzlich das Heck eines Wiesenhof-Lasters auf mit der Aufschrift »Bruzzler – Mann, ist das eine Wurst«. Herbert trat auf die Bremse, es fehlte nicht viel, und sie wären in den Wagen hineingekracht. Ausgerechnet, dachte Herbert und unterdrückte ein Lachen.


In der Zentrale der Kommunikationsagentur »Zum Silbernen Reh« in Berlin-Mitte herrschte routinierte Geschäftigkeit. Die Räume der Agentur nahmen die ganze Etage des alten backsteinernen Industriebaus ein. Wo einst, als Berlin noch eine bedeutende Industriemetropole war, Arbeiter an öligen Maschinen schraubten, tippten jetzt junge Kreativarbeiter in Großraumbüros angestrengt Texte in ihre Computer. Der Meetingraum, in dem der Umweltminister Platz genommen hatte, war nur durch Glaswände von der geräumigen Fabriketage abgetrennt. Der Minister zählte rund drei Dutzend Frauen und Männer, die meisten in T-Shirts und Jeans, kaum einer über dreißig.

»Du brauchst einfach mehr Street Credibility«, redete der Inhaber und Chef der Agentur auf den Minister ein. Er trug eine kurze Hose, Turnschuhe und ein verwaschenes T-Shirt mit der Aufschrift »Einfach mal mit Profis arbeiten«. »Du hast keine Authentizität bei der nicht-urbanen Zielgruppe.«

»Du meinst bei den Provinzlern«, entgegnete der Minister mit säuerlichem Gesicht. Die im Meetingraum versammelte Runde, zu der neben den beiden Männern der Pressesprecher des Ministers und die junge Senior Consultant Julia gehörten, lachte über diese Bemerkung.

Der Minister, sein Pressesprecher und der Agenturchef waren alle im gleichen Alter, Mitte dreißig. Die drei hatten eine gemeinsame Vergangenheit. Mit vierzehn waren sie in die Jugendorganisation der Christpartei eingetreten, hatten auf so manchem Parteitag für die Erneuerung der Partei gefochten, waren zusammen nächtelang durch die einschlägigen Clubs der Hauptstadt gezogen. Erneuerung hieß für sie: den Muff der Achtziger- und Neunzigerjahre zu beseitigen und den Parteiapparat umzubauen zu einer modernen Partei für neue Wählergruppen.

»Wir haben uns da was ausgedacht«, fuhr der Agenturchef fort. Du machst eine Sofa-Tour in den wichtigsten Kleinstädten. Wir nennen das Sofa-Talks. Wir nehmen dein Sofa und stellen es auf den Marktplatz. Dort sprichst du mit ausgewählten Bürgern.«

Der Minister zog die Augenbrauen hoch. »Ich soll mit meinem schönen Designer-Sofa auf Marktplätzen herumturnen?«

Die junge Senior Consultant Julia registrierte die Bauchschmerzen, die der Minister beim Gedanken an die Fremdnutzung seines heimischen Sofas hatte, und reagierte prompt: »Das muss natürlich nicht Ihr eigenes Sofa sein. Wir können auch ein billiges von Ikea nehmen. Das kommt bei der Zielgruppe vielleicht auch authentischer rüber als ein teures Designer-Sofa.«

Diese Beratungsleistungen waren so etwas wie ein kostenloser Freundschaftsdienst für den Minister. Erst kürzlich hatte die Agentur den Zuschlag für den großen Werbeetat des Bundesumweltministeriums gewonnen. Der Agenturchef hatte eine Präsentation mit den Zeiten und Orten der geplanten Sofa-Talks an die Wand geworfen.

»Der Ort, wo die Tour starten soll, ist bewusst gewählt«, sprang der Pressesprecher bei. »In dem Bundesland sind bald Landtagswahlen. Es liegt ein EU-Förderbescheid für eine neue Ökokläranlange in dem Ort vor, wir können die Bekanntgabe noch etwas zurückhalten. Der Bürgermeister ist auch Landtagskandidat und kommt von unserer Partei. Dann kannst du nach deinem Auftritt dem Bürgermeister den Bescheid übergeben«, freute sich der PR-Profi.

Der Minister seufzte. »Dann in Gottes Namen!«

Einige Wochen später war es soweit. Auf dem kleinen, idyllischen Marktplatz, unter der mächtigen alten Eiche stand ein schwarzes Sofa aus der Sörvallen-Reihe von Ikea. Hinter dem Sofa hatten Mitarbeiter der Berliner Zentrale der Christpartei eine Stellwand mit dem Konterfei des Bundesumweltministers aufgestellt. »Einer von uns«, stand darauf. Die Dorfpolizisten hatten den Platz um die Eiche mit rotem Flatterband abgesperrt.

Es hatten sich schon einige Dorfbewohner eingefunden, die auf den jungen Politstar aus Berlin warteten. Die Mitarbeiter waren dabei, an die Wartenden Fähnchen der Christpartei zu verteilen, mit mäßigem Erfolg. Einige Meter entfernt von der Eckgarnitur briefte Senior Consultant Julia die Bürger, die nachher mit dem Minister auf dem Sofa Platz nehmen durften. Sie gab ihnen detaillierte Anweisungen, was sie sagen durften und was nicht.

Der Logenplatz war von rund einem Dutzend Journalisten eingenommen, darunter auch Kamerateams und Fotografen. Die Dorfbewohner waren auf einen Bereich weiter hinten verwiesen, ebenfalls abgesperrt mit rotem Flatterband.

Endlich kam die große, schwarze Limousine des Ministers angerauscht. Der Minister und sein Pressesprecher stiegen aus. Der junge Politikstar winkte den Dorfbewohnern zu, doch deren Reaktionen waren recht verhalten. Dann steuerte er auf die wartenden Journalisten zu, sprach in die Kameras und in die Radiomikrofone.

Nach einigen Minuten drängte der Pressesprecher den Minister. »Wir müssen weitermachen.« Auf dem Sofa hatten bereits die ersten ausgewählten Bürger Platz genommen. Der Politiker begrüßte sie. Die Kamerateams und Fotografen durften nun ganz nah ran. Sie filmten nur die ersten Minuten der arrangierten Gespräche. Dann hatten sie ihre Bilder im Kasten, und sie verschwanden mit den anderen Journalisten.

Nach einer halben Stunde war der »Sofa-Talk« beendet. Ein spärliches Häuflein von Dorfbewohnern hatte geduldig ausgeharrt. Der Minister wollte die Gelegenheit nutzen, Hände zu schütteln. Da kam eine wuchtige Frau auf ihn zu und kreischte auch schon los: »Was soll der Quatsch! Jetzt wollt ihr Homos uns auch noch einreden, dass ich keine Mutter mehr bin? Ihr habt sie ja nicht mehr alle!« Mit ihrer Erscheinung unterschied sich die Frau deutlich vom Rest der Gruppe. Sie trug einen marineblauen Rock mit einem blauen Gürtel, eine weiße Bluse und ein schwarzes Halstuch. Sie hatte braune Halbschuhe und lange graue Strümpfe an. Ihre langen, wasserstoffblond gefärbten Haare trug sie in einer Gretchenfrisur. Obendrein war sie stark geschminkt.

Der Minister schaute fragend den Pressesprecher, der Pressesprecher fragend den Minister an.

Die resolute Frau mit der Gretchenfrisur redete sich in Rage. »Na lest ihr Kanaillen denn nicht die Deutsche Wahrheit? Solltet ihr mal machen, statt immer nur für die Systempresse zu posieren. Dann wüsstet ihr, was eure feine Genossin im Kanzleramt so treibt. Ich soll nicht mehr Mutter sein dürfen, damit die Homos sich nicht diskriminiert fühlen.« Die Gruppe um die Wortführerin fing an zu johlen.

Der Minister ahnte, worauf die Frau hinauswollte. Er wollte sie beruhigen: »Aber das ist doch schön, dass wir in Deutschland Diversity leben und bei uns keiner diskriminiert wird.«

Weiter kam er nicht. »Ich werde diskriminiert!«, rief die Frau empört. »Ihr wollt, dass ich keine Mutter mehr bin. Ihr wollt nicht nur die Familie, ihr wollt Deutschland abschaffen. Ihr habt in eurem Raumschiff da in Berlin doch längst vergessen, wie wir normalen Menschen denken und fühlen.«

Der Minister wollte die Frau noch immer beruhigen. »Aber gute Frau, wir wollen doch nicht die Familie abschaffen. Wir wollen nur Diversity.«

»Ich bin nicht Ihre gute Frau«, schallte es dem Minister entgegen, »ich bin eine deutsche Wählerin. Aber Sie wähle ich garantiert nicht. Ich werde die Deutschlandpartei und ihren Führer Adalbert Hausding wählen.«

»Haus-ding wäh-len, Deutsch-land wäh-len«, skandierte die Protestgruppe im Chor.

Eins hatte der Minister schon früh in seiner Politikerlaufbahn gelernt: Steck keine Energien in Menschen, die du eh nicht als Wähler gewinnen kannst. Deshalb war der Fall für ihn erledigt. Er drehte sich um und steuerte seine Limousine an. Im Weggehen raunte er noch seinem Pressesprecher zu: »Elendes Pack.«

Leider sagte er es nicht leise genug.


Es war Freitagabend, ein lauer Frühsommertag. Dr. Florentine Fischer war mit einigen ihrer Berliner Freunde in ihrem Viertel, im Prenzlauer Berg, auf Tour. Sie saßen gerade in einer hippen Kneipe, tranken Matcha-Latte und aßen Tofu-Snacks, als ihr Handy klingelte.

»Frau Dr. Fischer, gehen Sie mal sofort auf die Seite dieser neuen Internet-Zeitung Deutsche Wahrheit. Da ist so ein Video, da putzt eine Proletenbraut den Umweltminister runter, aber wie, und der bezeichnet sie als elendes Pack. Die Nazibraut will ich im Blatt haben. Beeilen Sie sich, die Konkurrenz schläft nicht. Im Notfall bieten Sie ihr Geld an.« Schon hatte der Chefredakteur wieder aufgelegt.

Die Journalistin rief auf ihrem iPad die Seite der Deutschen Wahrheit auf, während sie erklärend in die Runde rief: »Mein Chef will, dass ich irgend so eine durchgeknallte braune Provinztante ins Blatt bringe.«

»Du meinst die BDM-Braut?«, rief einer ihrer Begleiter begeistert. »Die Frau ist echt geil. Im Netz der to-ta-le Kult, geht gerade viral. Die soll angeblich von irgendeiner Satire-Show kommen, ziemlich schräg.« Er musste es wissen. Er gehört zu denen, die beruflich ständig im Internet herumhingen und ihr Geld damit verdienten, nach den neusten Trends Ausschau zu halten.

Gemeinsam sahen sie sich den Clip an. »Oh mein Gott, die kann nicht echt sein«, entfuhr es einer der Frauen entgeistert.

Am Samstagmorgen hatte Florentine Fischer die Nummer von Marie Köster recherchiert und rief bei der Frau an. »Ich spreche nicht mit der Systempresse und schon gar nicht mit so einem Blatt wie dem Demokratischen Beobachter. Ihr seid doch alle von der Regierung gekauft und bekommt eure Befehle direkt aus dem Kanzleramt«, fuhr Marie Köster sie an.

Die Journalistin stöhnte innerlich. »Sie haben bei uns die Möglichkeit, Ihre Meinung frei zu sagen«, erklärte sie, »völlig unzensiert. Das garantiere ich Ihnen.«

»Ihr könnt uns viel erzählen. Ihr wollt uns kleine Leute doch nur vorführen.«

Die Journalistin reagierte schnell und änderte ihre Strategie: »Wir würden auch dafür bezahlen, wenn wir Sie exklusiv bekommen.« Schließlich hatte sie von ihrem Chefredakteur freie Hand bekommen.

Sogleich änderte sich am anderen Ende der Leitung die Tonlage: »Naja, reden können wir ja, aber ich will vorher sehen, was Sie über mich drucken.«

»Das verspreche ich Ihnen«, versicherte die Journalistin.

Noch am selben Tag fuhr Florentine Fischer in das Dorf, in dem Marie Köster wohnte, Hunderte Kilometer von Berlin entfernt, an der niederländischen Grenze. Es war nicht das Dorf, wo die Frau den Umweltminister heruntergeputzt hatte. Sie war gerade auf Besuch an ihrem Geburtsort, bei ihrer Mutter, als der Minister dort Stippvisite auf seiner Sofa-Tour machte. Aus ihrer ostdeutschen Heimat war sie weggezogen, weil sie als gelernte Fleischereifachverkäuferin dort keine Arbeit gefunden hatte. Jetzt lebte sie zusammen mit ihrem Mann, ihren vier Töchtern und fünf Hunden in einem grauen Einfamilienhaus aus den Fünfzigerjahren.

Das Haus hatte dringend eine Sanierung nötig, befand Florentine Fischer, als sie am Gartentor klingelte. Auch der Garten sah ziemlich verwildert aus. Ein bellender Schäferhund sprang ihr entgegen, dann erschien Marie Köster mit ihrer Gretchenfrisur. Sie sah tatsächlich genauso aus wie in dem Video. »Mein Mann und ich lieben Hunde, deutsche Schäferhunde«, erklärte sie zur Begrüßung und führte die Journalistin ins Haus.

Die Küche war ein Sammelsurium von Stilen der vergangenen vierzig Jahre. Der Spanholzplatten-Spülenunterschrank war wohl das neueste Modell aus dem Billig-Baumarkt. Der Küchenschrank dagegen war in einer Zeit modern, als beide Frauen noch gar nicht auf der Welt waren. Alles war abgewetzt und wie zufällig an seinen Platz gestellt. Die Tapete an den Wänden war fettig und vergilbt.

Die Deckenlampe war aus Plastik, in einem so quietschenden Orange, dass es in den Augen wehtat. Mit diesem Accessoire würde sie bei ihren Freunden im Prenzlauer Berg punkten können, dachte die Journalistin. Dort galten Gebrauchsgegenstände aus den Siebzigerjahren gerade als der letzte Schrei und wurden entsprechend teuer gehandelt. In dieser Kirche allerdings hing die Lampe wohl schon, seitdem sie das erste Mal modern war. Die Staubschicht darauf schien genauso alt zu sein.

Die beiden Frauen standen an dem großen Küchentisch, der mit einer dicken, bunt geblümten Wachstischdecke überzogen war. Marie Köster schmiss die Kaffeemaschine an und stellte zwei Kaffeepötte mit Motiven auf den Tisch. Florentine Fischer nahm ihren und sah sich das Motiv an. Es war eine Karte von Europa, darüber stand: »Deutschland in den Grenzen seiner größten Ausdehnung – November 1942«.

Marie Köster registrierte den erschrockenen Blick der Journalistin. »Ich war schon immer national eingestellt«, erklärte sie. »Deutschland ist mir heilig. Unsere Kinder tragen alte germanische Namen.« Sie zählte sie auf: »Brunhilde, Gunheide, Irmhild und Undine.« Die Journalistin machte sich Notizen und verkniff sich die Frage nach den Namen der Schäferhunde.

»Ich habe mich schon immer für die Germanen interessiert«, fuhr die Frau mit der Gretchenfrisur fort. Ich habe meinen Mann auf einer Sonnwendfeier kennengelernt.«

Auch das schrieb die Journalistin mit.

»Richtig politisch war ich nie. Aber seitdem die Syrer unser Land überschwemmen, da habe ich mir gesagt: Dagegen muss man doch etwas machen. Die gehören hier nicht hin. Seitdem verfolge ich intensiv die Politik. Da ist mir bewusst geworden, wie sehr die da oben uns kleine Leute verarschen. Da kommt dieser schnöselige Minister mit seinen ganzen Leuten aus Berlin angerauscht, zieht hier eine Show ab und quatscht irgendetwas von Diversity. Der weiß doch gar nicht, wie wir leben, was wir denken und fühlen.«

Florentine Fischer wollte langsam zur Sache kommen. »Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie der Minister als elendes Pack bezeichnet hat?«

Marie Köster blickte entschlossen-empört. »Wenn in Deutschland heute die ehrlich arbeitenden Leute, die sich ein kleines Häuschen auf dem Land erspart haben, von unseren Politikern als Pack bezeichnet werden, trage ich diese Bezeichnung als Auszeichnung und mit Stolz.«

»Werden Sie sich in der Deutschlandpartei engagieren?«, fragte die Journalistin.

»Ich bin von Dr. Adalbert Hausding persönlich eingeladen worden, Mitglied der Partei zu werden und mit ihm eine Wahlkampfveranstaltung in meinem Heimatdorf zu machen. Und ich sage Ihnen: Da werden sehr viel mehr kommen als bei diesem Fake des Ministers. Der Aufstand hat gerade erst begonnen.«

Die Journalistin war erleichtert, als sie wieder in ihrem Auto saß. Sie hielt ihr Versprechen. Marie Köster konnte frei ihre Meinung äußern, das Interview wurde nicht zensiert. Es trug die Überschrift: »Der Aufstand des elenden Packs«. Von ihrem Chefredakteur bekam Dr. Florentine Fischer dafür ein dickes Lob.


In der guten Stube des Bahnwärterhäuschens verbreitete der lodernde Kamin eine wohlige Wärme. Vor den Bücherregalen standen die beiden Männer, die Friedrich Sehlings zum Abendessen geladen hatte, sein treuer Kamerad Herbert und der Leiter des Newsrooms der Deutschlandpartei. Zur Feier des Tages hatte Friedrich Sehlings seine berühmten Rinderrouladen mit brauner Soße gekocht.

Friedrich Sehlings kannte Herbert schon sehr lange, beide waren im selben Alter. Sie hatten sich vor zwanzig Jahren bei der Rechtsstaatspartei kennengelernt. Der Mann, Typ gutmütiger Teddybär, war Sehlings sofort aufgefallen. Herbert konnte zwei Dinge: Organisieren und reden. Er gehörte zu den Leuten, die selbst einem eingefleischten Linken innerhalb von fünf Minuten eine Mitgliedschaft in der Deutschlandpartei aufschwatzen konnten.

Herbert war kein Ideologe, seine Aussagen zum Parteiprogramm durfte man nicht auf die Waagschale legen. Aber Herberts Rede- und Organisationstalent machte das mehr als wett. Worauf es ankam, war, dass Herbert an dieselbe Mission glaubte wie er: dass es in Deutschland wieder einen Führer geben musste. Er führte jeden Befehl unhinterfragt aus.

Auch dass Herbert eine bewegte Parteienlaufbahn hinter sich hatte, störte Sehlings nicht. Während seiner Ausbildung als Koch kam Herbert über die Jugendgewerkschaft zur Linkspartei, war dann in eine linke Splitterpartei abgerutscht. Später tauchte er bei der Liberalpartei auf, gelangte über deren Stahlhelmflügel zur Rechtsstaatspartei, die zu Beginn des neuen Jahrtausends einige Erfolge hatte, dann aber im Sande verlief. Noch war die Zeit nicht reif. Sehlings und Herbert stiegen schnell wieder aus, machten andere Projekte zusammen.

Sofort nach dem ersten Zusammentreffen mit Adalbert Hausding hatte Friedrich Sehlings ihn angerufen. »Hallo Herbert, ich habe mir heute diesen Hausding angeschaut. Das ist genau der Mann, den wir so lange gesucht haben. Wir sind wohl wieder im Geschäft. Schleus dich bei diesem Dr. Müller ein. Ich kümmere mich um Hausding«, befahl Sehlings.

»Jawohl, Kommandeur«, entgegnete Herbert zackig. Schon am nächsten Tag tauchte Herbert bei einer von Müllers Veranstaltungen auf, wurde sein Fahrer und Vertrauter.

»Ich bin immer wieder erstaunt, wie wohlgeordnet deine Bibliothek ist, Kommandeur«, sagte Herbert zu Sehlings, während sein Blick über das Fach zur Guerilla-Kriegsführung streifte. Er zog T. E. Lawrences Die Sieben Säulen der Weisheit aus dem Regal und blätterte darin.

»Lawrence von Arabien. Er beschreibt den arabischen Aufstand gegen das Osmanische Reich in den letzten beiden Jahren des Ersten Weltkrieges«, erklärte Sehlings. »Du kennst sicher den Film mit Peter O’Toole, Anthony Quinn und Omar Sharif.

»Sieben Oscars«, warf der Leiter des Newsrooms nickend ein, ein schlaksiger Zwei-Meter-Mann mit kurzatmiger Stimme. Er hielt Ernesto Che Guevaras Partisanenkrieg in der Hand, eine Ausgabe aus dem Jahr 1962, erschienen im Militärverlag der DDR.

»Solltet ihr mal studieren«, rief Sehlings.

»Und wer zum Teufel ist das … Carlos Marighella?« Herbert zeigte auf das Buch, das im Regal neben Che Guevara stand.

»Ein brasilianischer Revolutionär und Theoretiker der Stadtguerilla«, erklärte Sehlings, während er mit dem Schürhaken die Holzscheite im Kamin so positionierte, dass das Feuer wieder auflodern konnte. »Handelt von Flugzeugentführungen als Aktion bewaffneter Propaganda und gibt nützliche Ratschläge zur Störung und zum Sturz von Regimen.« Er legte den Schürhaken beiseite. »Leider komme ich ja nur noch sehr selten zum Lesen. Aber setzt euch doch. Ich bin gleich fertig in der Küche und gieße uns den Cognac ein.«

Das Abendessen war besonders als Anerkennung für den Leiter des Newsrooms bestimmt, dem die junge Partei einen mindestens so großen Teil ihres Erfolgs verdankte wie der emsigen Mitgliederwerbung Herberts. Friedrich Sehlings hatte schon einige Erfahrungen im Aufbau von Parteien gesammelt. Doch nun waren die Zeiten anders. Die Sozialen Medien hatten die traditionellen Zeitungen und Magazine, das Radio und auch das Fernsehen verdrängt. Es gab immer mehr Menschen, die gänzlich auf die traditionellen Medien verzichteten und sich nur noch über Facebook, YouTube und Twitter informierten. Viele Mitglieder und Fans der Deutschlandpartei lebten in einer Parallelwelt, in die Journalisten der »Systemmedien«, wie sie im Parteijargon genannt wurden, längst nicht mehr eindrangen.

Die Sozialen Medien waren nicht Sehlings’ Welt, in dieser Hinsicht war er ein Dinosaurier. Er selber benutzte sie nicht und vermied es sogar, wenn es ging, Mails zu schreiben. Er gab seine Befehle lieber mündlich oder telefonisch. Die Machtergreifung würde im 21. Jahrhundert nur mit den Sozialen Medien funktionieren, davon hatte er sich schnell überzeugen lassen.

Hinter dem Begriff Newsroom verbarg sich bereits ein kleines Medienimperium der Partei, das der Leiter des Newsrooms in den vergangenen Monaten aus dem Boden gestampft hatte, bestehend aus unzähligen Facebook-Accounts, WhatsApp-Gruppen, YouTube-Kanälen, Chats und der parteieigenen Internetzeitung Deutsche Wahrheit. Der Newsroom-Leiter war ein absoluter Profi. Bevor er bei der Deutschlandpartei anheuerte, war er bei einer international arbeitenden Werbeagentur angestellt und machte Influencer-Kommunikation für Weltmarken.

Friedrich Sehlings goss seinen alten Weggefährten Cognac ein und reichte ihnen die Schwenker. »Auf die alten Zeiten«, sagte er. Dann setzten sie sich in die gemütlichen Sessel vor dem knisternden Kamin.

»Das waren damals schöne Zeiten«, sagte Sehlings. »Heute ist alles so hektisch.« Er wandte sich zu dem Newsroom-Leiter. »Erinnerst du dich noch an unser Lager in Frankreich und die Sache mit der Fahne?«

»Na klar!« Der Kommunikationsprofi nickte. »Das war schon ein Husarenstück damals, wann war das noch?«

»Das muss 1995 gewesen sein«, erwiderte Sehlings. »Ich habe sogar noch einige Fotos davon. In einem Karton mit Andenken aus alten Zeiten auf dem Dachboden.«

»Ich dachte, die hätten wir diesem Idioten von Kameraden damals alle abgenommen und vernichtet, bevor wir ihn so richtig verdroschen haben«, rief Herbert dazwischen.

Sehlings grinste. »Nicht alle. Einen Satz habe ich behalten. Was wir damals gemacht haben, das wäre heute gar nicht mehr möglich. Überall zücken sie heute gleich ihre Fotohandys. Ich bin echt froh, dass es in unseren wilden Zeiten noch kein Mobiltelefon mit Kamerafunktion gab.«

Herbert nickte. »Das Internet vergisst nie.«

»Es hat aber auch viele Vorteile«, nahm der Newsroom-Leiter den Faden auf. »Denkt nur an unsere BDM-Marie. So etwas wäre früher gar nicht möglich gewesen.«

»Da hast du recht«, sagte Sehlings. Vor ein paar Wochen hatte ihm sein Freund per SMS den kurzen Clip geschickt, aufgenommen von einem Bürgerjournalisten. Der Newsroom hatte eine Funktion eingerichtet, mit der besorgte Bürger Missstände melden und anprangern konnten. Ein solcher Bürgerjournalist hatte das Wortgefecht zwischen BDM-Marie und dem Umweltminister am Rande der Sofa-Tour gefilmt und an den Newsroom weitergeleitet.

Friedrich Sehlings wollte es zunächst nicht glauben, als er den Clip das erste Mal sah. Der Newsroom-Leiter witterte sofort die Chance. »Die Frau können wir zum Internet-Kult machen und zum weiblichen Star der Partei. Die hat genau die Street Credibility, die wir brauchen. Die ist 100 Prozent authentisch. Wir hypen sie zum völkischen It-Girl. Wir brauchen dafür nur noch dein Go.«

Friedrich Sehlings hatte sich mittlerweile mit der neuen schönen Kommunikationswelt abgefunden und fragte auch gar nicht mehr nach, was diese ganzen englischen Begriffe bedeuteten. Er vertraute da seinem alten Kameraden voll und ganz. Die PR-Leute waren im 21. Jahrhundert die wahren Politikmacher.

Noch an dem Abend, als er Dr. Adalbert Hausding das erste Mal getroffen hatte, hatte er seinen Freund aus alten Kampftagen angerufen. Der legte sofort los und richtete einen Facebook-Account für den Mann ein. Damals war Friedrich Sehlings noch skeptisch. »Ich glaube nicht, dass dieser alte Mann überhaupt weiß, was Facebook ist«, sagte er. Aber davon ließ sich der PR-Profi nicht abhalten. »Das braucht er auch nicht. Das machen alles wir. Ich trommle ein paar Leute zusammen. Wir brauchen Bewegtbilder. Schick mir deine Jungs rüber, dann bekommen sie Kameras und eine Einweisung. Aus den Reden schneiden wir dann Clips.« Sein Freund klang ganz aufgeregt.

Friedrich Sehlings’ Skepsis, was die Macht der Sozialen Medien anging, schmolz innerhalb weniger Wochen dahin. Für den Facebook-Auftritt von Hausding schrieben die Mitarbeiter Kommentare, die haarscharf vor der roten Linie endeten, die das Gesetz zog. »Rassismus geht bei Journalisten immer«, erklärte der Newsroom-Chef. »Da fahren die total drauf ab.«

Und es funktionierte. Florentine Fischer bedankte sich mit einem Beitrag für den Demokratischen Beobachter mit der Überschrift: »Die Rassistenpartei«. Darunter ein ganzseitiges Foto von Dr. Adalbert Hausding. Im Artikel hieß es: »Der Demokratische Beobachter hat den Facebook-Auftritt des großen Vordenkers der Deutschlandpartei, Adalbert Hausding, analysiert. Das Ergebnis: Viele der Fans der bürgerlichen Vorzeigefigur der neuen Rechtspartei sind Rassisten.«

Die Journalistin führte rund ein Dutzend Kommentare als Beleg für ihre Aussage an. So schrieb eine Frau: »Wenn ich bestimmen könnte, wer nach meinem Tod meine Organe bekommt, wäre ich auch Spender, aber ich will nicht, dass irgendein Asylant meine Organe bekommt. Ich könnte nicht damit leben, dass mein deutsches Herz eventuell in einem Türken schlägt oder was auch immer.«

Den journalistischen Gepflogenheiten folgend, hatte die Nichte ihren Onkel mit den Kommentaren auf seiner Facebook-Seite konfrontiert. »Solche Aussagen sind nicht akzeptabel und entsprechen nicht meinen Überzeugungen«, erklärte er mit unschuldiger Miene. »Wir werden in Zukunft besser aufpassen, was gepostet wird. Ich werde mit den jungen Menschen, die meinen Facebook-Auftritt betreuen, das Gespräch suchen, dass sie demnächst sensibler sind. Ihnen muss klar sein, dass sich Menschen in den Sozialen Medien zu unüberlegten und einfach nur dummen Kommentaren hinreißen lassen. Die Posts der Deutschlandpartei anzulasten, ist allerdings falsch. Sie sind ein Symptom, dass es in unserem Land gärt. Die Kommentare sind ein deutliches Signal für die Zustände in Deutschland. Und die haben die Systemparteien zu verantworten.«

Der Leiter des Newsrooms rekrutierte eine Schar von jungen Freiwilligen, die sich der Medienarbeit für die Partei widmeten. Regelmäßig unterrichte er Sehlings über die neuesten Entwicklungen. »Wir haben jetzt SLAs, Kommandeur. Das steht für Service Level Agreements. Wir haben für uns unsere Reaktionszeiten festgelegt, so etwas macht heute jedes Dienstleistungsunternehmen. Wir reagieren auf Fragen oder Kommentare auf Hausdings Facebook-Account innerhalb von 15 Minuten, zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens innerhalb von 30 Minuten. Wer heute nicht schnell genug ist, der hat schon verloren.«

Der neueste Clou des Kommunikationsprofis war der Launch der Internetzeitung Deutsche Wahrheit. »Damit schaffen wir ein Alternativmedium, Kommandeur«, schwärmte er. »Das Ganze soll den Eindruck erwecken, dass es ein journalistisches Produkt ist. Es soll den Anschein von Objektivität haben. Wir bringen alternative Meldungen, all das, worüber die anderen Medien nicht berichten.« Zehn junge Journalisten arbeiteten an dem Projekt und füllten die Seiten der Zeitung Tag für Tag mit alternativen Nachrichten und Wahrheiten.

Sehlings erhob sich von seinem Sessel und prostete Herbert und dem Newsroom-Leiter zu. »Lasst uns anstoßen. Auf BDM-Marie! Eine echte Wuchtbrumme! Auf die Deutsche Wahrheit! Auf unsere Mission!«

Herbert und der Newsroom-Leiter taten es ihm nach. »Auf unsere Mission, Kommandeur!« Pling-pling, echoten die aneinanderschlagenden Cognacschwenker.


»Informationen verlängern das Leben«, lautete einer der Lieblingssätze Friedrich Sehlings’, er hatte ihn einmal in einem James-Bond-Roman gelesen und sich eingeprägt. Sehlings hatte es sich schon früh zur Gewohnheit gemacht, mitzuhören, was die Leute an Nebentischen sprachen. Er stand im Foyer der Stadthalle, in die die Deutschlandpartei erstmals zu einer größeren Kundgebung eingeladen hatte, und hielt nach neuen Talenten Ausschau. Die Veranstaltung war für das Mittagessen unterbrochen worden. Bei Sehlings am Tisch stand ein älterer Herr, der ihm einen Monolog über Kontrollverlust und die Notwendigkeit der Abriegelung der Landesgrenzen hielt. Plötzlich vernahm er aus einiger Entfernung eine laute, militärische Stimme: »Ich war Kommandeur eines Landeskommandos. Ich sollte eigentlich General werden. Doch meine linken Vorgesetzten haben das verhindert.«

Es waren nicht allein die Worte, die Friedrich Sehlings aufhorchen ließ, es war die Dominanz, die in der Stimme des Mannes lag. Die schnarrende Befehlsstimme übertönte das Gewirr des Small Talks an den Cocktailtischen und das leise, allgegenwärtige Kratzen, das entsteht, wenn Bockwürstchen auf billigem Porzellan zerschnitten werden.

Sehlings warf einen vorsichtigen Blick zur Seite. Am Nachbartisch stand ein Mann, der auf drei junge Parteimitglieder einredete. Alle drei waren sie einheitlich gekleidet: weiße Hemden, schwarze Hosen, rote Krawatten und dazu Hosenträger im gleichen Farbton.

Er hörte weiter zu. »Mit der Deutschlandpartei werden wir das Land wieder auf Vordermann bringen. Als Offizier hat man ja zu führen gelernt. Eine Partei braucht Männer, die sie führen.« Offenbar handelte es sich um einen ehemaligen Offizier der Bundeswehr. Die jugendlichen Zuhörer in den Hosenträger-Uniformen mampften scheinbar unbeteiligt ihren Kartoffelsalat. Sehlings tat weiter so, als lauschte er dem älteren Herrn an seinem Tisch. Unauffällig taxierte er den Mann am Nachbartisch: Mitte sechzig, übertrieben straffe Körperhaltung, mit einer Kombination von grauer Stoffhose und hässlichem Sakko, korrekt gebundene Krawatte, Typ deutscher Stabsoffizier in Zivil.

»Sind Sie denn schon Mitglied?«, unterbrach jetzt einer der jungen Zuhörer kauend den Redefluss des Ex-Militärs.

Der runzelte die Stirn, er war es nicht gewohnt, dass ihn jemand ins Wort fiel, erst recht nicht irgendein Grünschnabel. »Das ist nur noch eine Formsache. Ich regle das nachher mit dem Bundesvorsitzenden persönlich.« Die rüde Unterbrechung war für ihn das Zeichen, das Gespräch zu beenden, weiterzuziehen und sich neue Opfer zu suchen.

Die hatte er bald an einem anderen Tisch gefunden: zwei ältere, vornehme Damen. Sie waren willfährigere Zuhörer als die drei Hosenträger-Jungs. Sehlings holte sich einen Kaffee und stellte sich wie zufällig an den Tisch. »Darf ich?«

Der Ex-Militär nickte nur und redete weiter. »Als Kommandeur und Oberst trägt man natürlich eine große Verantwortung.«

»Sie waren Oberst bei der Bundeswehr?«, unterbrach Sehlings den Redeschwall mit einem Unterton gespielter Bewunderung.

Der Oberst schaute Sehlings tadelnd und erfreut zugleich an: »Sogar Oberst im Generalstabsdienst.« Dabei betonte er die Worte laut und deutlich. Der Mann schien ein großes Bedürfnis nach Abgrenzung zu haben.

Als ehemaliger Feldwebel kannte Sehlings die Marotten der Generalstabsoffiziere, denen während eines zweijährigen Lehrganges an der Führungsakademie in Hamburg-Blankenese immer wieder eingebläut wurde, dass sie innerhalb der Bundeswehr eine Elite bildeten. Das Gute an ihnen: Sie waren berechenbar. In ihrem Denken drehte sich alles um die Karriere. Für Sehlings war die Lage klar: Der Mann litt darunter, dass er für einen Generalsposten erst gar nicht in die engere Auswahl gezogen und als Oberst in Pension geschickt wurde. Jetzt suchte er wohl eine Möglichkeit, um es seinen alten Kumpels in Uniform noch einmal zu zeigen. Eine neue rechte Partei zog immer merkwürdige Typen an: Spinner, Versager, Überengagierte, Opportunisten und eben auch Glücksritter und diejenigen, die sich eine schnelle Karriere und lukrative Posten erhofften. Das kannte Sehlings schon zur Genüge.

»Das ist ja toll, dass auch Generalstabsoffiziere bei uns mitmachen wollen«, sagte Sehlings und ließ einen Versuchsballon starten.

»Wir haben viele Soldaten unter unseren Anhängern. Wir brauchen Männer, die gut organisieren und anpacken können.«

Der Oberst fühlte sich geschmeichelt. »Ich werde das gleich mit dem Bundesvorsitzenden besprechen, wie ich mich einbringen kann.«

»Sehr gut«, sagte Sehlings und nickte. »Plakate kleben, Infostände betreuen, Veranstaltungen im Wahlkampf organisieren. Das alles ist viel Arbeit.«

Der Ex-Militär verzog leicht das Gesicht: »Ja, ja. Das ist sicherlich sehr wichtig. Die Partei braucht jetzt aber erst einmal eine Strategie. Von meinen Erfahrungen als Generalstabsoffizier wird der Bundesvorstand sicherlich einiges lernen können.«

Für Sehlings war die Sache klar. Es war kaum zu erwarten, dass sich der Oberst die Hände schmutzig machen würde. Der war hier in eigener Mission unterwegs. Und die hieß: eine schnelle Karriere als Politiker.

Und instinktiv spürte Sehlings: Von diesem Oberst könnte irgendwann einmal Gefahr für ihn ausgehen.


Es war bereits dunkel, als Friedrich Sehlings die Pfalz erreichte. Über der Landschaft lag zäher Nebel. Im Licht der Scheinwerfer erspähte Sehlings die Zugbrücke, die über den Graben auf die Anlage führte. Er lenkte den Wagen darüber und durch den Fachwerktorbogen auf den Hof. Barbarossa hatte an diesem Wochenende zu einem seiner exklusiven Deutschen Salons auf die Pfalz geladen.

Was von Barbarossa und seinen Anhängern die Pfalz genannt wurde, war ein altes Gehöft mit ausgedehnten Scheunen, Stallungen und Remisen und einem großen Fachwerkhaus im Zentrum. Einsam stand der alte Bauernhof in der kargen, menschenverlassenen Landschaft.

Der Graben umschloss die ganze Anlage, die nur über die hölzerne Zugbrücke erreichbar war. Die einzelnen Gebäude gruppierten sich um einen großen Hof mit Kopfsteinpflaster. Drumherum standen mächtige jahrhundertealte Eichen. Wenn es nötig war, ließ sich das Anwesen komplett abriegeln. Investoren hatten das halbverfallene Gehöft vor einigen Jahren gekauft und daraus ein Zentrum für Barbarossas Deutsche Salons gemacht. Teilnehmen konnte nur, wen Barbarossa höchstpersönlich eingeladen hatte, für das Seminar und die Unterkunft musste eine ordentliche Summe berappt werden. Viele warteten jahrelang vergeblich auf eine Einladung.

Genauso wie die Pfalz Teil einer großen Inszenierung war, war es auch deren Besitzer. Hochaufgeschossen und schon von Jugend an immer eine kerzengerade, straffe Haltung einnehmend, mit großen hervortretenden Augen, einer spitzen Nase, lockigem roten Haar und Bart erinnerte er an den legendären Stauferkönig Friedrich Barbarossa. Bereits auf dem Gymnasium beschäftigte er sich mit dem Mittelalter und pflegte einen exzentrischen Lebensstil. Mit den Jahren baute er diesen Spleen zu einer Attitüde aus und stilisierte sich selbst zu einer Art Kunstprodukt. Sein rotes Ziegenbärtchen ließ er nach dem Vorbild des Barbarossa-Denkmals auf dem Kyffhäuser zu einem langen Rauschebart wachsen. Er las sehr viel, darunter ausgefallene, vor allem rechtsgerichtete Denker und Publizisten. Seine Sprache entwickelte sich zu einer Mischung aus dem knarrenden, abgehackten Kommandoton des Kasernenhofes und intellektueller Verstiegenheit, wie man sie von rechtsintellektuellen Denkern wie Ernst Jünger, Oswald Spengler oder Martin Heidegger kannte, die er verehrte. Das ließ seine Erscheinung noch entrückter erscheinen.

Barbarossa polarisierte. Für die einen war er ein hochintelligenter Charismatiker, für die anderen einfach nur ein skurriler Spinner. Bereits als Jugendlicher hatte er einen Kreis von Gleichgesinnten um sich geschart, eine Art Literaturzirkel, in denen Texte zum Mittelalter, zur Nationalstaatswerdung Deutschlands und rechte, aber auch vereinzelte linke Autoren gemeinsam gelesen und diskutiert wurden. Die Gemeinschaft einte die Liebe zu einem versunkenen heroischen Deutschland, eine Vorliebe für alles Militärische, der Glaube, dass Deutschland eine Mission in der Weltgeschichte habe und dass es an ihnen sei, diese Mission im Namen Deutschland zu erfüllen.

Mit seinen Deutschen Salons zog Barbarossa neue Anhänger heran, die er in seinen Jüngerkreis integrierte. Er nannte diesen Kreis »Diskrepante Bewegung«. Rund zwei Dutzend junger Männer, meistenteils Studenten, Burschenschafter, junge Offiziere oder Reserveoffiziere der Bundeswehr, waren an diesem Wochenende auf die Pfalz gekommen. Zweieinhalb Tage ließen sie sich über die Welterklärungsansätze und Revolutionsvisionen Barbarossas unterrichten.

Das Seminar hatte bereits begonnen, als Friedrich Sehlings in den Pfalzsaal trat, der nur durch Kerzenlicht beleuchtet war. Geräuschlos setzte er sich in die letzte Stuhlreihe. Barbarossa stand kerzengerade und mit ernster Miene vor dem brennenden Kamin an der Stirnseite des Saals. Er trug einen Anzug aus grobem, dunkel-grauem Stoff, vor dem sich sein feuerroter Bart abhob. Das Jackett war bis an den Hals zugeknöpft. Es glich der Kluft, die der frühere nordkoreanische Diktator Kim Jong-Il immer trug.

»Ihr sollt die Avantgarde sein«, rief Barbarossa. »Ihr seid als intellektuell und theoretisch geschulte Männer die Elite der nationalen Bewegung.« Die Stimme Barbarossas war laut und pathetisch. »Eure Aufgabe wird sein, als Berufsrevolutionäre die völkische Bewegung anzuführen, um unsere Mission zu erfüllen und ein neues Deutschland zu erschaffen. Der erste Schritt wird es sein, eine Partei neuen Typus zu erschaffen. Die ersten Kundschafter sind bereits am Werk.«

Barbarossa hatte Sehlings unter den Zuhörern bemerkt und warf ihm einen Willkommensblick zu. Sehlings nickte zurück. Den Vortrag kannte er bereits, er hatte ihn in den letzten Jahren schon oft gehört. Bereits als Schüler hatte Barbarossa Lenins Schrift Was tun? aus dem Jahr 1902 studiert und sich mit dessen Theorie der Kaderpartei beschäftigt. Danach waren für eine Revolution eine straff organisierte Kaderpartei mit Berufsrevolutionären und eine Parteielite notwendig. Nur eine solche »Partei neuen Typus«, wie Lenin sie nannte, sei berechtigt und in der Lage, die Führungsrolle zu übernehmen und die Massen zum Kommunismus zu erziehen. Von so einer Partei träumte auch Barbarossa, nur war ihr zu erreichendes Endziel nicht der Kommunismus.

»Die Kommunisten hatten eine Mission: eine ideale Gesellschaft. Die Berufsrevolutionäre mussten den Proletariern auf die Sprünge helfen, um sich ihrer Klasse bewusst zu werden. Heute müssen wir den Deutschen auf die Sprünge helfen, sich ihrer Auserwähltheit als Volk bewusst zu werden.«

Sehlings ließ seinen Blick über den Saal schweifen, eine größere Bauernstube. In dem eisernen Kronleuchter an der Decke, bestehend aus massiven Eichenbalken und grob bearbeiteten Holzbohlen, brannten Dutzende von Kerzen. Sie und der Kamin waren die einzigen Lichtquellen. In der Ecke stand eine Ritterrüstung, die im flackernden Schein des Kerzenlichts glänzte. An den nur mit Kalk geweißelten Wänden hingen Schwerter und andere Mittelalter-Devotionalien. Der Raum wirkte düster und heimelig zugleich.

Auf massiven Holzstühlen mit hohen, geschnitzten Rückenlehnen und strohgeflochtenen Sitzflächen saßen die zwei Dutzend Männer, alle zwischen zwanzig und dreißig. Die meisten trugen weiße Hemden, blutrote Krawatten und Hosenträger, dazu schwarze Stoffhosen mit Bügelfalte. Ihre schwarzen Lederschuhe waren blank geputzt.

»Wir erleben gerade ein Fatum, das eigentlich Unabwendbare doch noch abzuwenden und unser Land wieder heroischen Zeiten zuzuführen«, sprach Barbarossa und breitete die Arme aus. »Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen. Sie ist der Funke. Aus dem Funken wird eine Flamme, aus der Flamme ein Flächenbrand«, sagte der Rotbärtige. Im Saal war es mucksmäuschenstill.

»Der Funke wird zünden«, fuhr er mit ruhiger Stimme fort, in der dennoch stets etwas Kommandomäßiges lag. Die im schummrigen Pfalzsaal Versammelten verstanden die Doppeldeutigkeit seiner Worte: Der Funke war auch die Zeitschrift, die Barbarossa herausgab, zunächst als Papierausgabe, seit Kurzem auch in einer Internet-Version.

Der Name war sehr bewusst gewählt: Iskra, russisch für Funke, hieß die Zeitschrift, die Lenin zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausgab. Genau wie Lenin mit seiner Zeitschrift die verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung in Russland versammelte, wollte Barbarossa mit dem Funken die verschiedenen rechten Strömungen in Deutschland sammeln. Sie war das Zentralorgan der Rechtsintellektuellen in Deutschland und Pflichtlektüre für seine Jünger.

»Jetzt müssen wir die kritische Masse erreichen, damit daraus ein Flächenbrand wird«, führte Barbarossa weiter aus. In seiner Stimmung lag jetzt Euphorie. So nahe wie jetzt war er seinem Traum einer Oktoberrevolution von rechts noch nie gekommen.

»Bevor wir die Macht ergreifen können, müssen wir die kulturelle Hegemonie erringen«, dozierte Barbarossa, auf die Theorie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci anspielend. »Wir werden die Machtergreifung nicht durch bloßen Zwang erreichen. Wir müssen die Deutschen davon überzeugen, dass wir sie in die beste aller möglichen Welten führen. Dann werden sie uns freiwillig folgen.« Die Zuhörer hingen gebannt an den Lippen Barbarossas. »Bevor wir das verhasste System darniederringen, müssen wir erst die Schulen und Theater, die Kirchen und die Kinos erobern. Wir müssen die Köpfe der Menschen erobern. Vor dem blutigen Systemwechsel kommt die schleichende Kulturrevolution.« Barbarossa machte eine Pause und suchte erneut den Blickkontakt mit Sehlings in der letzten Reihe. »Damit bereiten wir den Flächenbrand vor.«

Machtergreifung

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