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KAPITEL 3

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Der Gong ertönte Punkt 18 Uhr. Auf dem Bildschirm fuhren die Balken der ersten Prognose zur Landtagswahl hoch. Für den alten Sehlings war es ein Ritual, jahrzehntelang gepflegt: Egal, um welche Wahl es sich handelte: Er öffnete eine Flasche guten Rotwein und schaute sich die Wahlberichterstattung im ersten Programm an, bis spät in die Nacht. Ganz früher saß er mit seinem Vater und seinem Sohn vor dem Fernseher, mehr oder weniger einträchtig. Dann wurden die Zeiten stürmischer. Sein Vater und sein Sohn verbündeten sich gegen ihn. Die Wahlabende im Hause Sehlings wurden zum Kampfplatz der Ideologien.

Heute saß der alte Sehlings allein in seiner Münchner Altbauwohnung. Diese Wahl war anders als die Wahlen zuvor. Sein Sohn stand auf Platz zwei der Liste einer Partei, die der Vater rundheraus ablehnte. Für ihn war es eine Nazipartei. Dennoch fieberte er mit. Dass sein Sohn in den Landtag einziehen würde, war klar. Seit Wochen hatten die Meinungsforscher der Deutschlandpartei gute Ergebnisse vorhergesagt, sie bei mindestens zehn Prozent angesiedelt. Die Affäre um die »Provinzpack«-Äußerung des Umweltministers hatte sie in den Umfragen noch einmal um ein paar Prozente klettern lassen.

Doch die Umfrageinstitute lagen alle daneben. Mit einem so guten Abschneiden der neuen Partei hatte keiner gerechnet. Die Deutschlandpartei wurde mit 24 Prozent zweitstärkste Kraft im Landtag und war damit der Christpartei mit ihren 27 Prozent dicht auf den Fersen. Die Ökopartei erhielt 19, die Sozialpartei 17 und die Linkspartei 13 Prozent. Die einzige mögliche Regierungsbildung bestand in einer sogenannten Kenia-Koalition aus Schwarz, Grün und Rot. Die Vertreter der anderen Parteien waren sprachlos, ja geschockt. Der grauhaarige Bundeschef der Ökopartei fand aber bald eine Sprachregelung, der sich die Politiker der anderen Parteien anschlossen: »Die Wahl ist ein Sieg für die Demokratie. Dreiviertel der Wähler haben sich für demokratische Parteien entschieden.«

Nach der zweiten Hochrechnung griff der alte Sehlings zum Telefon und wählte die Nummer seines Sohnes: »Hallo Friedrich, herzlichen Glückwunsch. Ich bin stolz auf dich.« Er kannte den Fleiß seines Sohnes, wusste, welchen Anteil er an dem Wahlerfolg hatte.

»Danke, Vater«, sagte Friedrich Sehlings schmallippig. Damit war das Gespräch auch schon beendet. Sehlings stand inmitten seiner johlenden Anhänger auf der Wahlparty der Deutschlandpartei. Er war gerührt, hatte feuchte Augen. Er dachte an sein Elternhaus, an seine Mutter, an seinen Vater, an seinen geliebten Großvater.

Später am Abend stieß der Co-Vorsitzende Dr. Martin Müller zur Wahlparty. Er kam direkt von den Hauptstadtstudios der TV-Anstalten, wo er den Journalisten nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen Rede und Antwort stand. Diesmal war er nicht allein, sondern in weiblicher Begleitung, mit der er Händchen haltend Einzug hielt.

Friedrich Sehlings starrte gebannt auf die Frau an Müllers Seite. Nichts um ihn herum bekam er noch mit, nicht den Applaus, nicht Müllers Siegesrede, nicht das spontane Absingen der Nationalhymne. Er sah nur noch die schöne Frau, die da neben dem Bundesvorsitzenden auf der kleinen Bühne des Festsaals stand. »Mit einer solchen Frau … Mit ihr an meiner Seite könnte ich«, murmelte er erregt vor sich hin.

Ihre Gestalt war makellos. Sie war schlank, hatte lange, naturblonde, wunderbar glänzende Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden, der keck wippte, wenn sie sich bewegte. Sie trug ein enges schwarzes Cocktailkleid mit einem recht gewagten, aber auch sehr geschmackvollen Dekolleté, dazu hatte sie schwarze High Heels an, auf denen sie sich mühelos bewegte. Sie musste so Mitte dreißig sein, schätzte Sehlings. Sie strahlte Intellektualität aus. Sie war eine Augenweide.

Abrupt wurde er aus seinen Gedanken gerissen. »Hallo Herr Sehlings, wollen wir nicht zusammen ein Sektchen schlürfen?« Sehlings blickte in das überschminkte Gesicht und die geistlosen Augen von Marie Köster, die vor ihm stand. »Ich habe mich ja noch gar nicht richtig dafür bedankt, dass Sie mich in den letzten Wochen so toll unterstützt haben. Dass Sie mich in die Partei geholt haben.« Mit diesen Worten riss sie ihn fest an ihren massiven Körper. Er rang nach Luft und versuchte sich zu befreien. Endlich ließ sie ihn los, während sie weiter auf ihn einredete. Sehlings hörte nicht zu, seine Augen suchten die Frau an Müllers Seite.

Das registrierte BDM-Marie. Ihr gerade noch freudestrahlender Blick verfinsterte sich schlagartig. »Schauen Sie sich nur dieses Flittchen an«, sagte sie mit verächtlichem Blick. »Den Typ Frau kenne ich. Die hüpft von einem Bett ins nächste. Die macht für den Müller doch nur die Beine breit, weil er der Parteivorsitzende ist. Macht macht eben sexy«, sagte sie verächtlich.

Sehlings starrte BDM-Marie an. Eine solche tiefgehende Analyse hatte er von dieser Frau gar nicht erwartet. Bevor er etwas sagen konnte, hatte Marie Köster ein neues Opfer entdeckt, ließ Sehlings stehen und drückte schon den nächsten Mann an ihren üppigen Busen. Sehlings Augen suchten wieder die Frau neben Müller. Dann kam einer seiner Jungs auf ihn zugelaufen. Sehlings wurde gebraucht. Er war der Lenker im Hintergrund, der Zeremonienmeister des Abends. Für das Anhimmeln der schönen Frau war jetzt keine Zeit. Die Mission rief.

Sich Gedanken über die Schönheit an Müllers Seite konnte sich Sehlings erst wieder spät am Abend machen. Der Festsaal des Landgasthofes hatte sich schon fast geleert. Da vernahm er den Befehl des Obersts: »Sehlings, bringen Sie uns mal drei Sekt.« Der Rausch der Wahlergebnisse und wahrscheinlich auch der Genuss von einigen Gläsern Schaumwein hatten den Oberst vergessen lassen, dass er nicht im Offizierskasino war und Sehlings keine Ordonnanz, sondern frisch gewählter Abgeordneter eines deutschen Landtages.

Sehlings drehte sich um. Normalerweise hätte er auf den Befehl des Obersts gar nicht reagiert, doch dann sah er, dass der mit Müller und seiner blonden Schönen zusammenstand. Wortlos befahl er den jungen Mann in Hosenträger-Uniform, der sich wie sein Schatten immer zwei, drei Meter hinter ihm befand, zu sich. »Bring uns mal vier Gläser Sekt!« Sofort zischte der Mann los.

Sehlings ging zu der Dreiergruppe und stellte sich dazu, allerdings nahm keiner Notiz von ihm. Die drei redeten einfach an ihm vorbei.

»Frau Dr. Erdmann-Benz und ich haben uns im Fitnessstudio kennengelernt«, erzählte Müller stolz.

»Sehr interessant«, erwiderte der Oberst.

»Sie ist Philosophie-Dozentin an der Uni. Sie hat mich in ihr Seminar eingeladen«, gab Müller mit der Frau an seiner Seite an.

»Interessant, interessant«, wiederholte der Oberst. Er hatte wohl tatsächlich schon ein paar Gläschen zu viel intus, mutmaßte Sehlings.

Dann kam Sehlings’ Schatten mit dem Sekt. Die vier stießen miteinander an, ohne dass einer der drei anderen Sehlings weiter beachtete. Der hörte jetzt zum ersten Mal die klare Stimme der Frau, die er so unverhohlen anstarrte.

»Ich unterrichte die Philosophie politischer Theorie und gebe gerade ein Seminar zur Demokratietheorie. In meinen Augen fehlt der Tagespolitik einfach die theoretische Durchdringung«, bemerkte die Schöne.

»Interessant, interessant«, warf der Oberst ein.

»Deshalb habe ich Martin gebeten, in meinem Seminar einen Gastvortrag zu halten. So können wir voneinander lernen«, fuhr sie fort. Dabei tätschelte sie Müllers Arm und blickte ihn verliebt an.

»Die Deutschlandpartei ist die Partei des demokratischen Aufbruchs in der Mitte der Gesellschaft in Zeiten der Abklärung«, dozierte die Philosophin weiter. »Und was wir jetzt brauchen, statt noch mehr Aufklärung, ist eine Abklärung.«

»Sehr interessant«, sagte der Oberst erneut. Sehlings hatte den Eindruck, dass der Oberst überhaupt nicht verstand, was die schöne und intelligente Frau da redete, waren doch dessen Augen fest auf den tiefen Ausschnitt der blonden Frau geheftet.

»Angelika hat nach ihrem Philosophie-Studium über irgendetwas mit Postdemokratie promoviert«, mischte sich jetzt Müller wieder ins Gespräch ein und sah seine Begleiterin zärtlich und mit einem Schuss Lüsternheit an. »Sie nimmt gerade das akademische Großprojekt in Angriff, die Gesamtausgabe der Schriften ihres Doktorvaters im Suhrkamp Verlag zu lektorieren«, erklärte Müller dem Oberst.

»Woher kommt der Doppelname?«, fragte der Oberst unverblümt. »Sind Sie etwa verheiratet?«

Diese plumpe Anspielung überhörte die Philosophin geflissentlich. »Den Namen Erdmann-Benz gibt es seit dem 19. Jahrhundert, mit der Heirat zweier Industrie-Dynastien. Das waren meine Ururur-Großeltern. Das Unternehmen ist noch heute im Familienbesitz.«

»Mit einer solchen Frau an meiner Seite …«, murmelte Friedrich Sehlings. Keiner der drei anderen hörte ihn, sie ignorierten ihn noch immer. Eine solche Gefährtin hatte er sich in seiner Kindheit und Jugend immer an seiner Seite gewünscht. Eine Schwester, mit der er gegen die grüne Spießigkeit des Elternhauses rebellieren konnte. Eine Freundin, der er seine jugendlichen Wünsche und Träume anvertrauen konnte. Das war ihm nicht vergönnt. Er musst sich seine Verbündeten außerhalb des Elternhauses suchen, außerhalb seines familiären Milieus, außerhalb der gesellschaftlichen Klasse, in die er hineingeboren wurde.

Noch in der Nacht setzte sich Sehlings in seiner Bibliothek vor den Laptop und lud die Doktorarbeit der schönen Philosophin herunter. Das Feuer im Kamin knisterte. Er druckte sie aus, 245 DIN-A4-Blätter. Dann setzte er sich in einen der Lehnsessel, goss sich einen Cognac ein, lehnte sich zurück und studierte das Deckblatt: Parteipolitische Machtmechanik in Zeiten der Abklärung: Ein Beitrag zu einer Dialektik der Postdemokratie – Inauguraldissertation zur Erlangung des Doctor philosophiae von Magistra Artium Angelika Erdmann-Benz.

Er blätterte um und las den ersten Satz der Arbeit: »Die Aufklärung war ein Großprojekt der europäischen Zivilisation …« Er las weiter. Im Schein des Feuers und seiner Leselampe studierte er die Doktorarbeit. Die Buchstaben verschwammen mit dem Bild der schönen Philosophin. Sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Friedrich Sehlings hatte ein Frauenproblem. Er stand auf intellektuelle Frauen aus gutem Hause. Das war ein Überbleibsel seiner bildungsbürgerlichen Vergangenheit. Schon in seiner Jugend zog es ihn zum Typ sittsame höhere Tochter, zu jenen bildungsbeflissenen Mädchen, die den Salon seiner Mutter besuchten. Mit einigen von ihnen war er auch ausgegangen. Sie wollten mit ihm über Jean-Paul Sartre und die französische Literatur sprechen, er mit ihnen über die Helden der SS. Sie zierten sich, wiesen ihn zurück. Sie standen mehr auf die verweichlichten Künstler, die bei den Abenden in seinem Elternhaus im Mittelpunkt standen.

Er hasste diese feminisierten, antifaschistisch gesinnten Männer, suchte die Revolte. Ausgerechnet der von seiner Mutter so geliebte Bertolt Brecht setzte ihn aufs richtige Gleis. Sein Deutschlehrer erzählte einmal, dass sich der Dichter seine graue Arbeiterkluft aus bestem Material maßschneidern ließ. Die Brille im schlichten Kassengestell-Design war furchtbar teuer, der Proletarier-Look reine Inszenierung. Brechts Spiel mit den Identitäten gefiel dem jungen Sehlings. Er schor sich die Haare, änderte seinen Kleidungsstil, legte sich eine Brille wie Bert Brecht zu, eine Zeit lang trug er sogar einen Oberlippenbart wie der Arbeiterdichter.

In seinem Lieblingsbuch, Fests Hitlerbiografie, las er, dass die Trägerschicht der faschistischen Bewegungen das Kleinbürgertum war. Friedrich Sehlings wollte dazugehören. Er wollte auch Kleinbürger werden. Wie Brecht sich als Proletarier inszenierte, so versuchte er es fortan als rechter Kleinbürger. Er wechselte das Milieu, engagierte sich bei der Jugendorganisation der Christpartei, trat in eine arg konservative Pennäler-Verbindung ein, wurde Mitglied bei völkischen Wandergruppen. Er liebte die Lagerfeuerromantik, wo junge Männer noch Männer sein, sich noch über Männerthemen in Männersprache unterhalten durften.

Dort fand er einen Freund, der das gleiche Faible hatte wie er, der an die gleiche Mission glaubte. Sie gründeten einen Literaturzirkel, diskutierten mit anderen Jungs linke und rechte Theoretiker, schwelgten in Revolutionsfantasien. Die Mädchen, die Sehlings in den rechten Kreisen kennenlernte, waren handfester. Sie zierten sich nicht, protestmännliches Gehabe törnte sie erst richtig an. Sie verstanden es, wenn er von der SS erzählte, wünschten sich doch viele von ihnen so einen Helden zum Mann. Mädchen vom Typ BDM-Marie gab es dort viele. Doch die begehrte er nicht.

Er las die ganze Nacht, jedes kluge Wort der Doktorarbeit der schönen Philosophin, bis ihn in seinem Lehnsessel, mit dem Stapel Kopien auf seinem Schoß, die Augen zufielen. Sein schläfriger Blick fiel auf den SS-Dolch seines Großvaters. Was hätte sein Vorfahr jetzt an seiner Stelle getan? Wie konnte er Dr. Angelika Erdmann-Benz für sich gewinnen? Wie konnte er sie seinem Erzrivalen Dr. Müller ausspannen? Mit diesen Fragen im Kopf schlief der frischgebackene Landtagsabgeordnete der Deutschlandpartei in seinem Lehnsessel ein.


Dr. Adalbert Hausding betrat sein neues, geräumiges und repräsentatives Büro im Landtag, das Büro des Fraktionsvorsitzenden. Er setzte sich an seinen Designer-Schreibtisch aus Glas und Edelstahl. Hinter ihm an der schneeweißen Wand hing ein Porträt von Charles Maurice de Talleyrand, dem französischen Staatsmann und Diplomat, der während der Französischen Revolution, der Napoleonischen Kriege und des Wiener Kongresses wirkte. Er diente insgesamt sechs verschiedenen französischen Regimen, und stets hatte er dabei hohe Ämter inne. Er galt als Meister des Opportunismus und der Anpassungsfähigkeit. Hausding hatte sich einst intensiv mit ihm befasst und auch einige Aufsätze über ihn veröffentlicht.

Die Büros und Möbel, die Computer und auch die Fernseher, die in jedem Büro hingen, stellte die Landtagsverwaltung den Fraktionen. Die Ausstattung war stets die gleiche, keine Fraktion wurde bevorzugt behandelt. Die Vorsitzenden erhielten stets die größten Büros, auch sie, was Größe des Raums und die Zahl der Fenster betraf, völlig identisch. Sie hatten auch Anrecht auf einen Schreibtisch, der ein paar Zentimeter breiter war als der der normalen Abgeordneten. Ebenso standen den Fraktionsvorsitzenden ein Konferenztisch mit sechs Stühlen sowie eine Sitzgruppe mit vier schwarzen Ledersesseln mit Edelstahlgestell zu, geschaffen von dem Designer, der auch den Schreibtisch ersonnen hatte. Dazu ein niedriger, quadratischer Glastisch, ebenfalls mit einem Gestell aus Edelstahl.

Normale Abgeordnete hatten für ihr Büro nur Anrecht auf zwei Edelstahlsessel und einen wiederum um einige Zentimeter schmaleren Glastisch. Den konnten sie allerdings auf schriftlichen Antrag gegen drei Stühle und einen höheren Konferenztisch eintauschen, damit sie in ihren Büros Besprechungen abhalten konnten. Über die genaue Einhaltung der Vorschriften wachte die Landtagsverwaltung. Die Abgeordneten hatten auch das Recht, an den weißen Wänden »Raumschmuck ihrer Wahl« aufzuhängen, wie es in der Raumnutzungsanweisung hieß, die in einem dicken Ordner eingeheftet war, den die Landtagsverwaltung den hundert Abgeordneten per Post nach Hause schickte, noch bevor die Fraktionen sich konstituierten.

In diesem Ordner stand alles, was der neue Abgeordnete wissen musste. Aber auch Parlamentarier der anderen Fraktionen, von denen einige bereits in der fünften Legislaturperiode im Parlament saßen, bekamen die Ordner zugeschickt. Auch sie mussten den Erhalt mit einem vorausgefüllten Formular quittieren. In dem Ordner waren noch andere Insignien der Macht: der Landtagsausweis und eine Bahncard Erster Klasse. Damit konnten die Abgeordneten in ihrem Bundesland jederzeit jeden Zug kostenlos nutzen.

Wer eigene Bilder in seinem Büro aufhängen wollte, musste dazu einen schriftlichen Antrag bei der Landtagsverwaltung stellen. Denn nur den Hausmeistern des Landtages war es erlaubt, in die Wände des Landtagsgebäudes Nägel einzuschlagen. Bei der Einsatzplanung der Hausmeister galt die Reihenfolge des Eingangs des entsprechenden Formulars im Büro des Landtagspräsidenten. Der wurde mit einem Datum-Zeit-Stempel genau dokumentiert. Parlamentarismus bedeutete, wie die neuen Abgeordneten der Deutschlandpartei schnell feststellten, zuallererst einmal Bürokratie.

Dr. Adalbert Hausding hatte in seinem Büro nur das Porträt des französischen Staatsmanns aufhängen lassen. Das hatte er vor Jahrzehnten auf dem Flohmarkt erworben, seitdem begleitete es seine Karriere als Staatsbeamter. Bei jedem Dienstpostenwechsel, bei jeder Beförderung zog es mit um. Nach seiner Pensionierung war es zunächst auf den Dachboden der Vorstadtvilla gewandert, die Hausding bewohnte. Bei seinem Einzug in den Landtag wurde es entstaubt und wieder in Dienst gestellt.

Das Porträt Talleyrands war das erste Bild überhaupt, das die Hausmeister aufhingen. Sie scherten sich nicht um die festgelegte Reihenfolge. Sie alle hatten die Deutschlandpartei gewählt, einige waren sogar Parteimitglieder. Weiter hatte der Fraktionsvorsitzende keine persönlichen Dinge mit in den Landtag gebracht. Für ihn sollte es nur eine Zwischenstation sein. In nicht allzu ferner Zeit war Bundestagswahl. Dr. Adalbert Hausding wollte dorthin, wo es wirklich um etwas ging, wo wirklich Politik gemacht wurde. Er wollte ins Regierungsviertel nach Berlin.

Vor Hausding auf dem Schreibtisch lag ein riesiger Stapel mit Bewerbungsmappen. Große Lust, ihn durchzuarbeiten, hatte er nicht. Es waren 25 Bewerbungen auf die Position des Fraktionsgeschäftsführers, des Verwaltungschefs der Fraktion, der die Mitarbeiter führte, sich um die Finanzen kümmerte und für einen reibungslosen Ablauf der Parlamentsarbeit sorgte. Nach den Wahlen war die Deutschlandpartei mit 24 Abgeordneten ins Landesparlament eingezogen. Damit standen der Fraktion 150.000 Euro im Monat zur Verfügung. Damit konnte sie sich einen ansehnlichen Mitarbeiterstab leisten: Sekretärinnen, Fachreferenten für die Parlamentsausschüsse, Presseleute und eben auch einen Fraktionsgeschäftsführer.

Hausding war in der ersten Fraktionssitzung zwei Tage nach der Wahl einstimmig zum Fraktionsvorsitzenden gewählt worden, Friedrich Sehlings zum Parlamentarischen Geschäftsführer, jenem Abgeordneten, der sich um die reibungslose Parlamentsarbeit und die inhaltliche Arbeit kümmert. Im englischen Parlament hieß diese Position Chief Whip, der Chef-Einpeitscher. Und das war auch Sehlings’ neue Aufgabe: Er musste die frisch gewählten, unerfahrenen Abgeordneten auf Linie bringen.

»Wir sind 24 Neulinge im Parlament. Da habe ich genug zu tun«, erklärte Sehlings. »Ich werde mich nicht um die Personalauswahl für den Fraktionsstab kümmern können. Das kann alles der Fraktionsgeschäftsführer machen.« Um die Ausschreibung dieses Postens hatte er sich aber noch gekümmert. Die 25 aussichtsreichsten Kandidaten hatte er Hausding mit den Worten übergeben: »Der Fraktionsgeschäftsführer ist für Sie die wichtigste Person. Dem müssen Sie unbedingt vertrauen. Deshalb sollten Sie sich Ihren Mann selber aussuchen. Der Rest der Fraktion wird Ihrem Urteil zustimmen. Dafür sorge ich.« Dann fügte er noch hinzu: »Leider sind nicht viele gute Leute dabei. Bei einer jungen Partei mit unserer Ausrichtung bewirbt sich nur eine bestimmte Klientel.«

Was Sehlings meinte, wurde Hausding schnell klar, als er die ersten Bewerbungen aufschlug: »Ich habe immer gewusst, dass es wieder eine Führerpartei geben wird. Jetzt ist sie da. Jetzt möchte ich in erster Reihe mitmarschieren.« Ein Großteil dieser Bewerbungen kam von Leuten, die selbst Hausding als Nazis bezeichnen würde. Sie sahen in der Deutschlandpartei die Nachfolgerin der NSDAP. Auf alle schrieb Hausding nur ein Wort: »Absage«.

Nicht besser war die zweite Gruppe: die offensichtlichen Versager, die ihre eigenen Fehlleistungen den Ausländern und dem System in die Schuhe schoben. »Seit zwanzig Jahren bin ich arbeitslos, weil dieses links-grün-versiffte System lieber Asylanten Arbeit gibt als ehrbaren Deutschen.« Auch sie markierte er mit dem Wort »Absage«.

Schwieriger war es mit der dritten Gruppe: den rechtsintellektuellen Akademikern. Viele waren zwischen Mitte dreißig und Anfang fünfzig mit einem Dr. phil. vor ihrem Namen. Sie schlugen sich in irgendwelchen universitären Nischen oder als freie Publizisten durch. Jetzt witterten sie ihre Chance auf einen gut bezahlten Job im rechten Milieu und standen bereit, die Gedanken ihrer Leib-und-Magen-Denker in aktive Politik umzusetzen. »Meine Promotion schrieb ich über Alain de Benoist. Meine über 65 Aufsätze umfassende Publikationsliste zur Kulturrevolution von rechts habe ich dieser Bewerbung angeheftet. Meine Kenntnisse der Gedankenwelt gerade der kulturellen Hegemonie sollen die Grundlage der Arbeit Ihrer Fraktion sein.« – »Ein Projekt wie das der Deutschlandpartei muss auf der Grundlage der Philosophie von Dominique Venner stehen. Dafür will ich als Fraktionsgeschäftsführer sorgen.« Allen diesen Bewerbungen umwehte ein Hauch des Akademisch-Elitären, was Hausding eigentlich gefiel. Doch so richtig zufrieden war er damit auch nicht. Er wusste, dass diese Akademiker keine Ahnung von praktischer Politikarbeit und Verwaltung hatten. Sie sollten Kleine Anfragen, Parlamentsanträge und Reden schreiben, aber keine philosophischen Abhandlungen. Deshalb bekamen auch sie eine Absage.

Hausding war schon fast am Ende des Packens angelangt und hatte immer noch keinen gefunden, den er sich als Fraktionsgeschäftsführer vorstellen konnte. Er schlug die letzte Bewerbung auf. Da wusste er sofort: Den wollte er haben. Hier passte alles: Volljurist mit Prädikatsexamina, Promotion in Verwaltungsrecht, Hauptmann der Reserve. Und das alles mit gerade einmal Anfang dreißig. Außerdem stand er sofort zur Verfügung. Der Name des Bewerbers: Dr. Lorenz Meyer.

Wenige Tage später stellte er sich vor. Friedrich Sehlings war bei dem Gespräch dabei und schaute immer wieder verstohlen auf seine Armbanduhr. Er hätte dies aber gar nicht heimlich tun müssen. Die beiden anderen Männer in den Designer-Ledersesseln in Hausdings Landtagsbüro nahmen kaum Notiz von ihm, so sehr waren sie in ihr juristisches Fachgespräch vertieft. Er hätte genauso gut woanders sein können. Doch Hausding bestand darauf, dass Sehlings bei dem Bewerbungsgespräch mit Dr. Lorenz Meyer dabei war. »Sie müssen ja auch mit ihm zusammenarbeiten. Sie sollten ihn deshalb auch kennenlernen.«

Es gab zwei Themen, bei denen Hausding aufblühte: Kniffelige juristische Verwaltungsprobleme und französische Kultur. Wenn er jemanden fand, mit dem er sich gleichrangig über diese Themen unterhalten konnte, dann vergaß er die Zeit und alles um sich herum. Außerdem glaubte Hausding an eine natürliche Hierarchie der menschlichen Gesellschaft: Unten waren die normalen Menschen, darüber kamen die Juristen und an der Spitze standen die Juristen mit Promotion.

Diese berufliche Kameraderie war es wahrscheinlich, die Müller und Hausding bei der Gründung der Deutschlandpartei zusammengeführt hatte. Beide waren promovierte Juristen. Dabei waren sie vollkommen verschieden, sie hatten ganz entgegengesetzte Ansichten von Politik. Doch die Zweckfreundschaft der beiden hatte schnell zu bröckeln begonnen.

Sehlings langweilte sich. Er musste einst auf Drängen seiner Mutter Französisch lernen, wurde von ihr mit den französischen Klassikern im Original malträtiert. Und Juristisches war ihm ein Graus. Aus der deutschen Geschichte wusste er: Keiner wechselt bei einem Umbruch des Systems schneller die Fronten als Juristen.

Endlich hatten die beiden ihr Gespräch beendet. Hausding sagte zu Sehlings: »Ich will Dr. Meyer oder keinen.« Sehlings nickte Hausding zu, schaute Meyer an. Auch der schaute Sehlings an. Beide lächelten. Ihr Plan hatte funktioniert.

Dr. Adalbert Hausding und Dr. Lorenz Meyer verstanden sich auf Anhieb. Schnell gewann der junge Jurist das Ohr seines älteren Fachkollegen. Der Fraktionsvorsitzende vertraute seinem Geschäftsführer und unterschrieb ungeprüft, was der ihm vorlegte. Der junge Mann war ein Workaholic. Im Nu hatte er die Mitarbeiter des Fraktionsstabes rekrutiert. Die meisten trugen bald rote Krawatten und rote Hosenträger.

Meyer wusste, dass die Parlamentsarbeit zweitrangig war. Keiner der Abgeordneten interessierte sich wirklich dafür. Es gab sogar welche, die ganz ungeniert vom Landtag als »Quasselbude« sprachen. Sie griffen damit auf ein Wort von Hermann Göring zurück, der einst den Reichstag so bezeichnet hatte. Zuallererst sahen die Abgeordneten die Fraktion als Basis für den Aufbau der Partei. Sie bot vom Steuerzahler finanzierte Räume und Computer, vor allem aber Posten für Mitarbeiter. All das ließ sich, wenn sie einige Regeln einhielten, auch anderweitig nutzen. »Wir müssen strengstens darauf achten, dass Fraktion und Partei getrennt sind. Wir dürfen keine Fraktionsgelder für die Partei verwenden«, hatte Dr. Lorenz Meyer in einer Fraktionssitzung den Abgeordneten erklärt. »Aber es gibt immer kreative Wege, die völlig legal sind und einem gewisse Vorteile bringen.«

Eine der ersten Maßnahmen, die er der Fraktion vorschlug, war, zwei Kleinbusse auf Fraktionskosten anzuschaffen. »Wenn die Busse nicht benutzt werden, können Mitarbeiter und Abgeordnete sie zum Selbstkostenpreis von der Fraktion mieten«, erklärte Meyer den Abgeordneten. Er hatte auch gleich eine schriftliche Verfahrensanweisung ausgearbeitet, die die Abgeordneten einstimmig beschlossen. »Damit sind wir juristisch auf der sicheren Seite.« Dass die Abgeordneten die Busse hauptsächlich für Parteizwecke nutzten, stand auf einem anderen Blatt.

Den Tipp mit den Kleinbussen und der Verfahrensanweisung hatte der Fraktionsgeschäftsführer von zwei Mitarbeitern des Landesrechnungshofes bekommen. »Das ist gängige Praxis«, hatten sie ihm erzählt. »Das machen alle so.« Meyer hatte schnell Kontakt mit den Mitarbeitern jenes Verfassungsorgans aufgenommen, das überwachen sollte, ob die Behörden des Landes und auch die Fraktionen die öffentlichen Zuwendungen so verwendeten, wie die Gesetze es vorschrieben. Die beiden Prüfer hatten sich sofort als Wähler der Deutschlandpartei geoutet. Sie hatten zwar hochdotierte Posten, aber eigentlich waren sie völlig machtlos. Immer wenn sie eine gesetzliche Regelung zu den Fraktionsfinanzen bemängelten, änderten die Fraktionen das Gesetz zu ihren Gunsten. Darin waren sich alle Parteien immer sehr schnell einig.

Im Landtag wurden die Abgeordneten und Mitarbeiter der Deutschlandpartei von den Reinigungskräften, Hausmeistern, Fahrern, Sicherheitsleuten und auch von vielen Sachbearbeitern freundlich willkommen geheißen. Die meisten von ihnen waren wohlwollend gegenüber der neuen Fraktion bis hin zu verdeckter Unterstützung. Die höheren Ebenen dagegen zeigten den Neuankömmlingen mehr oder weniger offen ihre Ablehnung. Die Landtagsverwaltung war ein mühsam austariertes System, bei dem die Positionen oft bis auf Referentenebene nach dem Parteibuch vergeben wurden. Jetzt war die Deutschlandpartei in dieses System eingedrungen. Viele hofften, dass die Partei nach fünf Jahren wieder aus dem Landtag verschwinden würde, sahen sie doch ihre Pfründen in Gefahr.

Die Befindlichkeiten der Landtagsverwaltung interessierten Dr. Lorenz Meyer wenig. Auch er sah die Fraktion nur als Mittel, um ein weitergehendes Ziel zu erreichen. Auch er kannte die berühmte Goebbels-Rede und zitierte sie oft im kleinen Kreis: »Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freikarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache.«


Wenn Friedrich Sehlings das Bedürfnis hatte, sich das Herz auszuschütten, verabredete er sich mit Oliver Felsenstier, dem Herausgeber des Jungen Deutschlands. In aller Regel trafen sie sich im »Alten Fritz«, der Stammkneipe des Journalisten in Berlin-Kaulsdorf. Statt Latte macchiato und Tofu-Würstchen gab es hier Bier und Korn und große Schnitzel mit reichlich Pommes.

Zum ersten Mal war Friedrich Sehlings Felsenstier während seines Einsatzes als Fallschirmjäger auf dem Balkan begegnet. Während einer Lagebesprechung vor einer ziemlich heiklen Operation stand er da plötzlich im Briefingroom unter den Offizieren. Mit seinem Hawaiihemd und Jeans stach der kleine, gedrungene Mann mit Halbglatze deutlich hervor. Keiner stellte ihn vor. Sehlings, damals Feldwebel, hatte gelernt, dass man in solchen Situationen beim Militär besser keine Fragen stellte.

Immer wieder kreuzten sich ihre Wege. Wenn irgendwo eine neue rechte Partei oder Gruppierung entstand, war früher oder später Felsenstier zur Stelle. Bald entstand zwischen den beiden eine Freundschaft.

Oliver Felsenstier war ein Abenteurer. Er fühlte sich in den verschiedensten Milieus wohl, hatte in vielen Ländern gelebt, gearbeitet und gekämpft. Er sprach mehrere Sprachen fließend, darunter Russisch und Arabisch. Mochte er auch aussehen wie der nette Hausmeister von nebenan, umwehte ihn doch stets eine Aura des Geheimnisvollen.

Vor zehn Jahren hatte er die Wochenzeitung Junges Deutschland gegründet. Woher die Geldgeber kamen, wusste wohl nur er selber, er sprach nie darüber. Gerüchte besagten, die Investoren säßen irgendwo in der früheren Sowjetunion oder im Nahen Osten. Die Leser des Blatts interessierte es nicht. Das Junge Deutschland besetzte eine Marktlücke. Es sollte das rechte Gegenstück zum linksliberalen Demokratischen Beobachter sein, der immer dienstags seine Klientel bediente. Drei Tage zuvor, am Samstag, brachte das Junge Deutschland seine alternative Weltsicht an den Mann.

Die Zeitung bot ein buntes Spektrum an Themen. Dazu gehörten die Verherrlichung der heroischen Seiten der deutschen Geschichte, der Kampf gegen »Gender Mainstreaming« und den grünen Gesellschaftsumbau und die Anprangerung der Zustände in Deutschland im Allgemeinen. Einen hohen intellektuellen Anspruch hatte sie nicht. Barbarossa hatte nach seinem Studium der Geschichte und Philosophie eine Zeit lang als Redakteur beim Jungen Deutschland seine Brötchen verdient. Die Arbeit ödete ihn allerdings an. Er hielt die Zeitung für ein niveauloses rechtes Schundblatt und kehre ihr bald den Rücken.

Während der Demokratische Beobachter mit sinkenden Verkaufszahlen kämpfte, stieg die Auflage des Jungen Deutschlands mit jeder Krise im Land. Vor allem die Flüchtlingskrise und die Gründung der Deutschlandpartei und deren spektakulärer Einzug in den ersten Landtag kurz darauf hatten der Zeitung neue Leserströme zugeführt. Unter den Abonnenten waren Soldaten, Polizisten, Beamte und Angestellte des Öffentlichen Dienstes, aber auch Kleingeschäftstreibende und Freiberufler sowie rechtsgesinnte Lehrer. Sie war das Leib- und Magenblatt der Mitglieder und Wähler der Deutschlandpartei. Auch die werbetreibende Industrie hatte das Alternativmedium inzwischen für sich entdeckt. Die wachsende Wählerschaft der Deutschlandpartei, darunter viele junge Anhänger in der werberelevanten Zielgruppe, war keineswegs zu vernachlässigen. Bald gruppierte sich um die Zeitung herum auch ein florierender Buchverlag.

Journalisten anderer Medien rümpften die Nase über das Junge Deutschland. Doch das störte Oliver Felsenstier nicht. Er hatte nie den Anspruch erhoben, ein objektives, sich an den hehren Grundsätzen des deutschen Journalismus orientierendes Blatt herauszugeben. Für ihn war seine Zeitung ein Propaganda-Medium. Und ein Deckmantel für die vielen Geschäfte und Machenschaften, in die er involviert war.

Das Junge Deutschland hatte seine Redaktion auch nicht in Berlin-Mitte wie viele andere Medien, sondern in einem Reihenhauskomplex in Berlin-Kaulsdorf am östlichen Rand der Hauptstadt. In dem Einfamilienhausgebiet, hinter den endlosen Gartenzaunfronten wohnten auch viele der Abonnenten des Jungen Deutschlands, Mitglieder und Fans der Deutschlandpartei. In dieser Oase der Kleinbürgerlichkeit bewegte sich Oliver Felsenstier wie ein Fisch im Wasser.

Die beiden Freunde bestellten Bier. »Schön, dass es heute geklappt hat«, sagte Oliver Felsenstier. »Wir haben das in letzter Zeit viel zu selten gemacht.«

»Die letzten Monate waren wirklich stressig. So eine Partei ist wie ein Kindergarten«, erwiderte Sehlings. »Und dann bin ich ja auch noch Parlamentarischer Geschäftsführer einer Landtagsfraktion, gewissermaßen Abgeordneten-Dompteur. Und alle haben sie die Abgeordnetenkrankheit.«

Der Chefredakteur sah Sehlings fragend an. Das Wort kannte er noch nicht.

»In dem Augenblick, in dem sie registrieren, dass sie Abgeordnete sind, wechseln sie komplett ihr Verhalten«, erklärte Sehlings. »Plötzlich verfügen sie über finanzielle Ressourcen und denken, dass sie Macht über Menschen haben. Jeder macht vor ihnen den Bückling, ›Ja, Herr Abgeordneter!‹ – ›Sehr wohl, Herr Abgeordneter!‹ Das steigt zu Kopf. Sie führen sich auf wie Könige.«

»Verstehe.« Felsenstein kannte diese eingebildete Wichtigkeit von den Neureichen östlich der Elbe, denen das Ende des Kalten Krieges ein Vermögen zugespielt hatte.

»Ich kann dir sagen«, redete Sehlings weiter, »die Erfolge bei den Wahlen haben richtigen menschlichen Schrott in die Landtage gespült. Da sind einige dabei, die noch nie im Leben gearbeitet haben. Für sie ist das Mandat der letzte Anker.« Sehlings seufzte. »Es wurde jeder genommen, der die Hand hochhielt, besonders auf den hinteren Listenplätzen. Es wäre besser gewesen, wenn wir am Anfang nicht einen so großen Erfolg gehabt hätten.«

»Ja, ihr habt nicht gerade den besten Ruf«, sagte Felsenstier.

»Wenn es nur das wäre«, erwiderte Sehlings. »Die Lobbyisten gehen bei uns schon ein und aus. Schmierige Adelige, die uns wegen irgendwelcher Landrückgabe-Sachen nerven. Und die Jagd- und Kleinwaffenlobbyisten. Und unsere Abgeordneten sind ihren Verlockungen gnadenlos ausgeliefert.«

Bei dem Wort Waffenlobbyisten spitzte Oliver Felsenstier die Ohren.

»Du wirst es kaum glauben: Einer unserer Landtagsabgeordneten hat auf einer Sicherheitsmesse einen Lobbyisten des Waffenproduzenten GISSÜSS kennengelernt und ihn zu einer Produktvorstellung in den Landtag eingeladen. Das konnte ich gerade noch verhindern. Dann sind ein paar Abgeordnete mit dem Fraktionsbus zur Fabrik gefahren, haben die ganzen Waffen auf der Werksschießbahn ausprobiert. Und sich natürlich üppig bewirten lassen.«

Felsenstier schien ehrlich erschrocken. »Oh, Mann, wie gefährlich war das denn! Und das hat kein Journalist mitbekommen?«

»Ich konnte gerade noch verhindern, dass die Abgeordneten Bilder ins Internet stellen, auf denen sie mit den Waffen poussieren.«

Felsenstier schüttelte den Kopf.

Aber im Grunde interessiert das alles auch keinen«, fügte Sehlings hinzu. »Im Hintergrund läuft schon die Verbrüderung mit dem rechten Flügel der Christpartei. Da finden regelrechte nächtliche Sauftouren statt.« Sehlings schwieg einen Moment, dann fuhr er fort: »Ich kann es den Konservativen in der Christpartei auch gar nicht verdenken. Die Partei rutscht immer weiter nach links, und dann noch dieser schwule Umweltminister …«

»Der neue starke Mann der Christpartei«, führte Felsenstier den Satz zu Ende. Er legte seine Hand auf den Arm von Sehlings und sagte leise: »Du weißt, Friedrich, wenn ich dir irgendwie helfen kann, ich bin für dich da.«


Es war reiner Zufall, dass Florentine Fischer auf Hans-Jürgen Lehmann stieß. Sie war auf der Fahrt zu einem Termin in einer kleinen Provinzstadt. Unterwegs stellte sie fest, dass ihr die Papiertaschentücher ausgegangen waren, und sie fuhr den erstbesten Supermarkt an. Am Eingang fiel ihr ein Schild auf: »Klauende Asylanten bitte draußen bleiben«. Ihre journalistische Neugier war geweckt.

Sie fragte an der Kasse nach dem Inhaber des Ladens. Ein paar Sekunden später stand vor ihr ein schlanker, hochgewachsener Mann, geschätzt Mitte vierzig, mit stechenden, stahlblauen Augen. Offensichtlich trieb er regelmäßig Sport, er hatte einen athletischen Körper. Als sie sich als Redakteurin des Demokratischen Beobachters vorstellte, bezeichnete er sie als linke System-Journalistin, doch zeigte er keinerlei Scheu, der jungen Frau aus Berlin seine Weltsicht mitzuteilen. »Wir müssen uns doch mal ehrlich machen. Wer in der dritten oder vierten Generation in Deutschland lebt und einen deutschen Pass hat, ist deshalb noch lange kein Deutscher. Das sind Invasoren in unsere Ethnie. Wenn Sie mich fragen: Deutscher ist nur, wer für das Jahr der Reichsgründung 1871 vier deutsche Großeltern nachweisen kann.«

Trotz seiner merkwürdigen Vorstellungen machte der Mann großen Eindruck auf die Journalistin. Er war ein Charismatiker. Der Mann hatte Geschichte und Biologie studiert, wollte Gymnasiallehrer werden. Doch nach dem Referendariat änderte er seine Pläne: »Statt einer Laufbahn in unseren links-grünen Umerziehungsanstalten habe ich das Lebensmittelgeschäft meiner Eltern übernommen«, erklärte er mit sanfter Stimme. »So habe ich mir die Freiheit erhalten, zu sagen, was ich denke. So wurde ich nicht vom System zwangsentmannt.«

»Bingo«, dachte die Journalistin. Es war gerade ein paar Tage her, dass sie ihr Chefredakteur zu sich gerufen und erklärt hatte: »Mir reicht es mit den Stiefel-Nazis und den Trash-Nazibräuten à la BDM-Marie. Ich möchte den ganz normalen deutschen Next Door-Nazi im Blatt haben.«

Die blonde Journalistin saß mit ihrem Block auf den Knien vor dem Schreibtisch des Chefredakteurs und schrieb mit: »… Next Door-Nazi«.

»Es scheint in Deutschland doch mehr völkisch denkende Menschen zu geben, als wir wahrhaben wollen«, fuhr der Chefredakteur fort. »Machen Sie eine Porträt-Serie über die Völkischen in Deutschland. Fahren Sie durchs Land und spüren ein paar dieser bürgerlichen Nazis auf.«

Die junge Journalistin sagte nichts und schrieb fleißig mit. Sie wusste, dass ihr Chef nicht zuhörte, wenn er monologisierte. Oft diktierte er seinen Mitarbeitern die Story direkt in den Block. Sie hatte nichts dagegen, das sparte einem enorm viel Arbeit.

»Der Hausding ist ja wohl auch einer von diesen bürgerlichen Biedermännern und Brandstiftern. Der soll brauner sein, als wir alle denken«, redete sich der alte Journalist in Fahrt. Seine junge Kollegin rutschte verlegen auf dem schwarzen Ledersessel hin und her, ihr wurde mulmig. »Der hatte doch hohe Posten in der Verwaltung inne. Wie kommt der eigentlich zur Deutschlandpartei? Das sollten Sie mal recherchieren.« Die Journalistin hörte auf mitzuschreiben. »Was wissen wir eigentlich über den, über seine Familie? Was macht so ein Typ Sonntagnachmittags? Trifft der sich zum Kaffee und Kuchen mit anderen Nazis?«

Dr. Florentine Fischer wurde rot, drückte sich tiefer in den Sessel. Doch der Chefredakteur sah sie gar nicht mehr, so sehr war er in seinem Redeschwall. »Da haben wir Milliarden für Programme gegen rechts ausgegeben! Heerscharen von Akademikern, eine ganze Antifaschismusindustrie lebt von solchen Projekten. Und alles hat nichts genützt.«

»Ich kümmere mich darum«, hakte die junge Journalistin ein, stand schnell auf und verdrückte sich aus dem Raum.

Und nun stand er vor ihr, in einem Lebensmittelladen in der Provinz, das Paradebeispiel des braunen Bürgers von nebenan. Die Journalistin konnte ihr Glück kaum fassen.

Der Text, den sie noch am selben Tag verfasste, gefiel dem Chefredakteur außerordentlich, er lobte die Autorin vor der versammelten Redaktion. »Sie haben das mit viel Einfühlungsvermögen geschrieben. Genau so einen wollte ich haben! Und was für ein höflicher Kerl: Er hat auf das Schild vor seinem Geschäft sogar extra ›bitte‹ geschrieben.« Der Text kam unverändert ins Blatt mit der Überschrift: »Der nette Nazi von nebenan«.


Friedrich Sehlings stand am Herd in der engen Küche seines Bahnwärterhauses und rührte in der braunen Soße. Er trug eine Schürze mit der Aufschrift »Kommandeur der Küchenbrigade«. Sie war ein Geburtstagsgeschenk seiner beiden Freunde Herbert und Dr. Lorenz Meyer. Sie hatten den Spruch extra für ihn aufsticken lassen.

»Wir sind deine Küchenbrigade, so hieß bei uns das Küchenpersonal«, erklärte der gelernte Koch Herbert seinem Freund. »Bei der Bundeswehr kommandiert ein Kommandeur ja auch eine Brigade.« Überall sonst war Herbert es, der kochte. Aber hier unterwarf er sich gerne den Befehlen seines Freundes, wie er es sonst auch immer tat. Herbert und Lorenz Meyer saßen am Küchentisch. Der eine kümmerte sich um den Nachtisch, braune Schokoladencreme. Der andere bereitete den Salat vor.

Lagebesprechung der Küchenbrigade: So hatten die drei Freunde ihre gemeinsamen Kochabende im Bahnwärterhäuschen des Kommandeurs schon immer genannt, lange vor der Gründung der Deutschlandpartei. Nach dem Essen gingen sie stets in Friedrich Sehlings’ Bibliothek. Bei einem guten Cognac am knisternden Kamin schmiedeten sie Pläne für die nächsten Etappen ihrer Mission.

Friedrich Sehlings mochte Herbert sehr, stets war der ihm treu ergeben. Er beneidete seinen Kameraden aber auch in zweierlei Hinsicht. Trotz seiner Beleibtheit und seines nicht sehr günstigen Aussehens hatte Herbert einen Schlag bei den Frauen. Doch da war noch etwas anderes: Herbert war ein wirklicher Kleinbürger. Er war in diese Gesellschaftsschicht hineingeboren, lebte die kleinbürgerlichen Werte, hatte sie verinnerlicht. Sehlings dagegen rutschte, wenn er unachtsam war, aus seiner Rolle raus. Dann ließ sich seine bildungsbürgerliche Herkunft nicht verleugnen.

Wie Herbert war auch Dr. Lorenz Meyer einer von Friedrich Sehlings’ Schläfern, die er mit einem Anruf reaktivieren konnte, wenn sich eine neue Gelegenheit auftat. Dabei war er das genaue Gegenteil von Herbert: Er war Ideologe, wog jeden Satz, den er sagte, sorgfältig ab und sagte niemals ein Wort zu viel. Er verfolgte unbeirrt seinen Weg, Abweichungen und Verirrungen gab es nicht. Er wollte nicht auffallen, weder durch sein Äußeres noch durch sein Verhalten. Er war unnahbar. Manchmal auch für Sehlings und Herbert. Nur wenige kannten seine Schwächen. Er war ein »Mann ohne Eigenschaften«, wie Dr. Adalbert Hausding ihn einmal gegenüber Sehlings bezeichnet hatte.

Als Sehlings Meyer das erste Mal begegnete, war der ein 15-jähriger, hochintelligenter Gymnasialschüler auf der Suche nach seiner Identität. Es war bei einem Tag der Offenen Tür in der Kaserne, in der Sehlings als Fallschirmjäger diente. Meyer trat an den Feldwebel heran mit den Worten: »Sie sehen aus wie ein Mann aus einer früheren deutschen Epoche, den ich sehr verehre.« Da war der Entschluss gefasst, den jungen Mann unter seine Fittiche zu nehmen, er wurde sein Mentor und führte ihn in seine rechten Kreise ein.

Der Mentor erkannte sehr schnell die Intelligenz, das strategische Denken und die Arbeitsleistung des jungen Mannes. Sehlings schlug Meyer vor, nach dem Abitur die Laufbahn der Reserveoffiziere einzuschlagen und zur Fallschirmjägertruppe zu gehen. Vor seiner Abreise zur Offizierbewerberprüfzentrale ermahnte er ihn noch, bloß nicht seine Weltanschauung durchblicken zu lassen. Das war aber gar nicht nötig. Schon als Schüler hatte Lorenz Meyer das Tarnen und Täuschen so internalisiert, dass außerhalb des engeren Kreises der Gesinnungsgenossen keiner wusste, was er eigentlich dachte. Sein Jugendzimmer war so spartanisch eingerichtet, dass es an eine Gefängniszelle erinnerte. Keine Popstars an der Wand und auch keine Bilder von Panzern und Soldaten der Wehrmacht wie damals in Sehlings’ Jugendzimmer. Sogar die Bücher, die er las, verschloss Meyer nach dem Lesen schnell wieder in seinem Schrank.

Bei all ihren biografisch bedingten Unterschieden verbanden Friedrich Sehlings, Lorenz Meyer und Herbert drei Eigenschaften: der unverrückbare Glaube an ihre Mission, eine nicht zu unterschätzende Skrupellosigkeit bei ihrer Durchsetzung und ein instinktives Gespür für Organisation. Das machte sie zu einer verschworenen Gemeinschaft. Sie konnten sich aufeinander verlassen.

Auf dem Küchentisch lag die Ausgabe des Demokratischen Beobachters mit Florentine Fischers Story über Hans-Jürgen Lehmann. »Dieser Lehmann ist genau der Mann, nach dem wir so lange gesucht haben«, sagte Friedrich Sehlings, während er am Herd in der braunen Soße rührte. »Der Leiter unseres Newsrooms war völlig aus dem Häuschen. Das ist das Holz, aus dem völkische Posterboys geschnitzt werden, sagte er.« Kaum hatte er das Porträt im Demokratischen Beobachter gelesen, hatte sich Sehlings schon auf den Weg gemacht, den Mann mit den blauen Augen zum Essen eingeladen und im Gespräch seine Vergangenheit abgecheckt. Er fragte ihn, ob er nicht in die Partei eintreten wolle, und sagte ihm jede Unterstützung zu. Lehmann willigte sofort ein.

Sehlings wusste, dass er selber alles andere war als ein Posterboy. Er konnte organisieren und netzwerken wie kaum ein anderer, aber er war kein Charismatiker. Wenn er redete, kam er immer wie ein Feldwebel rüber, der einer Kompanie Fallschirmjägern Befehle zubellte. Barbarossa kam für die Rolle der charismatischen Persönlichkeit, die er brauchte, nicht infrage. Zwar gab es viele rechtsintellektuelle junge Männer und Frauen, die ihn anhimmelten und unbedingt Mitglieder seines Jüngerkreises, der Diskrepanten Bewegung, sein wollten. Für die meisten aber war er ein verschrobener Spinner. Und er war schwer zu kontrollieren. Auch Lorenz Meyer war nicht der Richtige für diese Rolle. Mochte sein Aussehen auch so manches Frauenherz schwach werden lassen, so war er doch spröde, kalt und unnahbar. Ebenso ungeeignet war Herbert. Zwar konnte er reden wie Goebbels und war ein Organisationstalent, aber mit seiner Leibesfülle und dem gemütlichen und freundlichen Aussehen eines Teddybären schien er eher als Mann zum Knuddeln. Auch fehlte ihm intellektuelle Größe.

»Wir können wohl bald die ›Operation Bolschewiki‹ starten«, sagte Sehlings.

Lorenz Meyer sah von dem Salat auf, den er gerade anrichtete: »Jawohl, Kommandeur. Ich werde alles vorbereiten, um das Deutsche Herz zu gründen. Bringst du Lehmann und Barbarossa zusammen?«

Sehlings nickte. »Ja, ich fahre mit Lehmann zur Pfalz, damit er unseren Posterboy ideologisch ein wenig einfangen kann. Oliver hat ihn übrigens auch schon in der Mangel.«

Nach Lehmanns Parteieintritt hatte Oliver Felsenstier den Supermarktbetreiber nach Berlin-Kaulsdorf zu einem Interview mit dem Jungen Deutschland eingeladen. Lehmann fühlte sich geschmeichelt, war er doch seit Langem ein eifriger Leser. Der Blatt-Chef besaß eine ganz spezielle Art, Vertrauen aufzubauen und den Menschen auch noch das letzte Geheimnis zu entlocken.

Das Interview war mehr als ein Interview, es war klassische Gesprächsaufklärung, wie sie Nachrichtendienstler überall auf der Welt beherrschten. Felsenstier hatte Lehmanns Vorlieben und Schwachstellen im Nu herausgefunden: seine Bewunderung für Russland und dessen Autokraten und sein Faible für Nazireenactment, das Nachspielen der Geschichte des Dritten Reiches. Anschließend lud Felsenstier Lehmann in den »Alten Fritz« ein. Bei Schnitzel und Pommes entdeckten sie ihre gemeinsame Leidenschaft für russischen Wodka. Felsenstier war viel in den Ländern der früheren Sowjetunion herumgereist, und Lehmann sah in Russland einen natürlichen Verbündeten Deutschlands gegen die Dekadenz der USA. Der Wirt kam kaum hinterher, die Gläser immer wieder neu zu füllen.

»Du kannst in der Partei Großes erreichen«, sagte Felsenstier nach dem fünften oder sechsten Glas. »Du hast Charisma. Du faszinierst die Menschen, übrigens nicht nur die Frauen.«

»Meinst du das im Ernst?«, fragte Lehmann.

»Na klar.«

»Darauf lass uns trinken.« Sie stießen an. Die Gläser klirrten.

Felsenstier war trinkfest, das hatte er in Russland gelernt. Auch nach einer Flasche Wodka wusste er immer noch, was er tat. Dennoch hatte er dem Wirt vorsichtshalber ein Zeichen gegeben, ab da war in seinem Wodka-Glas nur noch Leitungswasser. Irgendwann sagte er zu Lehmann: »Du wirst der neue Führer.«

»Du scherzt?« Lehmanns stahlblaue Augen weiteten sich.

»Nein. Wir schaffen das!«

Die Führer-Idee schien Lehmann überaus zu gefallen.


Dr. Martin Müller streckte wohlig die Beine aus und betrachtete die Zimmerdecke. Die feingewebte Seidenbettwäsche umspielte seinen nackten Körper. Vom Bett aus sah er sich jedes Detail der sorgfältig ausgearbeiteten und noch sorgfältiger restaurierten Stuckdecke an. Die Philosophin hatte er losgeschickt, Brötchen und Bioeier zu holen. Er fühlte sich wohl, sehr wohl. Bisher hatte er das Liebeslager stets nur mit den Sekretärinnen und Sachbearbeiterinnen seines Finanzamtes geteilt. Wie anders war diese Wohnung in dem Berliner Gründerzeithaus im Vergleich mit denen seiner früheren Gespielinnen: Seidenbettwäsche statt Baumwoll-Bezügen, Designer-Einrichtung statt Spanplatten aus dem Stadtrand-Möbelmarkt, hohe Decken statt der Wohnkäfige des sozialen Wohnungsbaus.

Er reckte die Arme und gähnte sich die letzte Müdigkeit aus dem Körper. Ein neuer Tag als Bundesvorsitzender der Deutschlandpartei konnte beginnen. Er schlüpfte in den seidenen Morgenmantel, den ihm seine Freundin zum Geburtstag geschenkt hatte, und ging ins Bad. Es war größer als die allermeisten Wohnzimmer. Dr. Angelika Erdmann-Benz hatte Geschmack, und ihre Eltern hatten Geld. Gleich nach ihrer Nominierung als Bundestagskandidatin hatte die Familie Erdmann-Benz die große Wohnung im Prenzlauer Berg in Berlin gekauft. »Die Frau sollte ich heiraten«, murmelte Müller vor sich hin. Bisher hatte er sich allen Hochzeitsabsichten entzogen, die Richtige war noch nicht dabei gewesen. Er stand auf jüngere Frauen, und manchen von ihnen schien der Vorsteher eines Finanzamtes eine gute Partie.

Er hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, dann die klare Stimme von Angelika Erdmann-Benz. »Ich bin wieder da, Martin.«

Hast du die Bioeier bekommen, die ich haben wollte?«, rief Müller zurück.

Die Philosophin seufzte, rief dann aber freundlich: »Ja, habe ich. Das Junge Deutschland ist auch schon gekommen.«

Müller betrat die Küche und setzte sich an den Tisch, wo seine Freundin ihm die Zeitung hingelegt hatte. Sie bereitete am Herd die Rühreier zu.

Müller las die Überschrift. In riesigen Lettern stand da: »Der aufrechte Deutsche«. Darunter, die ganze Zeitungsseite einnehmend, war Hans-Jürgen Lehmann abgebildet. Er stand aufrecht, sein Blick weit nach vorne gerichtet, die rechte Hand heroisch zum winkenden Gruß erhoben. Diese Position kannte Müller von den Standbildern römischer Kaiser.

»Schau dir das mal an!«, kommandierte er seine Gespielin zu sich.

Die Philosophin ließ von den Eiern ab und trat an den Tisch.

»Was ist denn das wieder für ein Mist? Das ist doch dieser Nazi, über den der Demokratische Beobachter kürzlich geschrieben hat«, sagte Lehmann.

Sie setzte sich auf den Schoß des Politikers, beide lasen den Text, er leise, sie laut: »Die Deutschlandpartei soll eine nationale und vor allem soziale Partei werden, eine Partei der kleinen Leute. Dafür will Hans-Jürgen Lehmann bis an das Ende seiner Tage kämpfen.«

Die Philosophin hörte auf zu lesen und schaute ihren Freund an: »National und sozial? Kommt mir irgendwie bekannt vor.«

Müller schaute grimmig. »Sei still! Mir ist jetzt schon übel. Da steckt doch bestimmt wieder dieser Sehlings dahinter.«

»Der Sehlings?«, fragte Angelika Erdmann-Benz erstaunt.

»Der hat doch auch diese Köster in die Partei geholt. Lies weiter!«, kommandierte er.

Der Artikel endete mit den Worten: »Auch die stellvertretende Bundesvorsitzende der Deutschlandpartei, Marie Köster, ist ganz begeistert von dem unbeugsamen und aufrechten Deutschen Hans-Jürgen Lehmann: ›Das ist wirklich mal ein richtiger deutscher Mann. Mit seinen tiefen blauen germanischen Augen hat er die Zukunft Deutschlands und unserer Partei im Blick. Er ist der neue Star unserer Partei.‹«

Die Philosophin war erbost. »Diese Schlampe!« Sie erinnerte sich noch gut an das erste Zusammentreffen mit BDM-Marie. Es war während der Wahlparty zum Einzug in den Landtag auf der Damentoilette des Landgasthofes. Als sich die Philosophin vor dem Spiegel den Lippenstift nachzog, stand die ihr damals gänzlich unbekannte Frau plötzlich hinter ihr und rief: »Willst noch was werden? Schmeißt dich deshalb wohl so an den Müller ran. Solche Flittchen können wir in der Partei gar nicht gebrauchen.« Dann drehte sich Marie Köster um und stampfte aus der Toilette. Seitdem herrschte Zickenkrieg zwischen den beiden Frauen.

Müller reagierte nicht darauf, was seine Freundin zu ihm sagte. Es roch verbrannt, und vom Herd stieg Rauch auf. »Himmel, die Eier!«, stieß er hervor.

Laut fluchend stürzte die Philosophin zum Herd.


Die Aufregung war Hans-Jürgen Lehmann anzumerken, während der Fahrt rutschte er die ganze Zeit unruhig auf dem Beifahrersitz hin und her. Endlich kam die Zugbrücke zur Pfalz in Sicht. »Ich verehre Barbarossa seit Jahren, lese alles von ihm«, sagte er zu Friedrich Sehlings, als sie durch den Torbogen auf den Hof fuhren, »er ist ein großer Denker. Sehlings parkte den Wagen. Kaum waren sie ausgestiegen, rannten auch schon zwei Männer der Diskrepanten Bewegung in Hosenträger-Uniform auf die beiden zu, nahmen militärische Grundstellung ein und salutierten.

»Guten Tag, Herr Lehmann«, rief der eine. »Wir heißen Sie als Ehrengast auf der Pfalz herzlich willkommen. Dürfen wir Sie ins Haus geleiten?«

Lehmann wusste gar nicht, wie ihm geschah, und blickte Sehlings ungläubig an. Dann trottete er ihm und den beiden Uniformierten hinterher. Sie führten die Gäste in die Bibliothek, wo zwei Gläser mit Wasser für sie bereitstanden. »Vielleicht möchten Sie eine kleine Erfrischung«, rief der zweite Uniformierte. »Sie hatten ja eine lange Fahrt. Ihr Gepäck werden unsere Kameraden auf Ihre Stuben bringen. Der Vortrag geht gleich los.«

Während sie ihr Wasser tranken, wollte sich Lehmann in der schummrigen Bibliothek, die nur vom Kaminfeuer beleuchtet wurde, etwas umsehen. Er kam aber nicht weit. Ohne dass ihn jemand hätte hereinkommen hören, stand plötzlich Barbarossa mitten im Raum. Herzlich willkommen«, rief der Rauschbärtige mit pathetischer Stimme. »Ich begrüße einen aufrechten deutschen Mann auf meiner Pfalz.« Er trat näher und streckte Lehmann die Hand entgegen. »Ich freue mich besonders, dass gerade Sie heute unser Ehrengast bei meinem Vortrag sind und Sie einige der besten Kameraden meines Jüngerkreises kennenlernen dürfen.« Kurz und wortlos schüttelte er auch Friedrich Sehlings die Hand, dann rief er: »Es ist Punkt 16 Uhr, wir sollten beginnen. Pünktlichkeit ist eine deutsche Tugend, die hier noch gepflegt wird.«

Im selben Augenblick schlug auch schon die alte Standuhr vier Mal. Die beiden Uniformierten öffneten die Tür zum Pfalzsaal, stellten sich rechts und links kerzengerade auf und warteten. »Meine Herren …«, sagte Barbarossa, zu Lehmann und Sehlings gewandt: »Ich bitte Sie, mir zu folgen.« Er schritt durch die Tür in den Pfalzsaal, dahinter Lehmann, dann Sehlings.

Auf den Stühlen im Pfalzsaal saßen rund fünfzig junge Anhänger der Diskrepanten Bewegung in ihrer typischen Hosenträger-Uniform. »Achtung!«, schrie einer der Männer. Blitzschnell erhoben sich alle und nahmen militärische Grundstellung ein. »Barbarossa, ich melde Ihnen 51 Angehörige der Diskrepanten Bewegung in den Pfalzsaal zum Vortrag über die Bolschewistische Revolution eingerückt.«

Jetzt ergriff Barbarossa das Wort: »Guten Tag, deutsche Männer! Guten Tag, deutsche Frauen!«

»Guten Tag, Barbarossa«, schallte es im Chor zurück.

Barbarossa gab Handzeichen, dass sie sich setzen sollten. Er führte Lehmann zu einem Tisch, der vorn als eine Art Logenplatz aufgestellt war. Auf einem großen Schild stand: »Ehrengast Hans-Jürgen Lehmann«. Sehlings ging nach hinten und setzte sich wie üblich auf einen Stuhl außen in der letzten Reihe. Von hier aus konnte er sich das Theaterstück ansehen, das speziell für den heutigen Abend inszeniert worden war. Für einen einzigen Zuschauer: Hans-Jürgen Lehmann.

Mit lauter, klarer Stimme begann Barbarossa zu reden: »Deutsche Männer und Frauen! Ich begrüße euch heute sehr herzlich zu meinem Vortrag. Doch bevor ich beginne, möchte ich unseren heutigen Ehrengast begrüßen, den aufrechten Deutschen Hans-Jürgen Lehmann.«

Die Männer und Frauen begannen zu klatschen. Lehmann erhob sich zögernd und machte eine kleine Verbeugung.

Dann begann Barbarossa mit seinem Vortrag: »Wladimir Iljitsch Lenin war ein sehr geschickter Kommunikator. Obwohl sie eigentlich die Minderheit waren, nannte sich sein radikaler Flügel der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands einfach Bolschewiki, also Mehrheitler. Ihre Gegner nannten sie Menschewiki, die Minderheitler …«

Von seinem Platz in der letzten Reihe sah Sehlings, wie Lehmann auf Wolken schwebte. Endlich durfte er einer Vorlesung eines seiner geistigen Helden beiwohnen, er machte sich sogar Notizen. Sehlings unterdrückte ein Gähnen, den Vortrag Barbarossas konnte er inzwischen schon fast wörtlich mitsprechen.

Es gab Zeiten, da konnte er mit dem Pathos, mit dem Barbarossa sich zu umgeben suchte, besser umgehen. Beide kannten sich jetzt schon mehr als 30 Jahre. Als sie das erste Mal bei einer Wanderfahrt aufeinandertrafen, waren sie beide gleichaltrige Jungs auf der Suche nach einer rechten Identität. Sie mochten sich, freundeten sich an, gründeten einen Literaturzirkel. Schnell war die Arbeitsteilung klar. Barbarossa, damals noch mit einem schütteren Ziegenbärtchen, war mehr der intellektuelle Charismatiker, Sehlings mehr der Macher, der die intellektuellen Denkspiele Barbarossas in Handlungen umsetzte und der die Jünger des Rauschbärtigen so führen konnte, dass sie auch ihm willig folgten.

Einer dieser Jünger benutzte einmal aus einer Laune heraus für Friedrich Sehlings den Spitznamen »Commander«, was ihm jedoch sofort einen Rüffel Barbarossas einbrachte: »Ein deutscher Mann darf keine Spitznamen aus der amerikanischen Militärkultur tragen. Im deutschen Militär heißt das Kommandeur.« Seit dieser Zeit trug Friedrich Sehlings den Spitznamen Kommandeur.

Nach dem Vortrag führte Barbarossa Lehmann und Sehlings in die Bibliothek, Sie nahmen in den schweren, braunen Ledersesseln vor dem lodernden Kamin Platz. Ein Serviermädchen mit streng nach hinten geflochtenem Zopf, in weitem Rock, Schnürmieder und Schnürstiefeln brachte drei große steinerne Krüge Bier herein. Die drei Männer ergriffen die Krüge.

Lehmann war ganz beglückt. »Ich bin seit Langem ein großer Anhänger von Ihnen«, rief er. »Aber was ich heute hier erlebt habe, hat mich wirklich überzeugt.«

»Sie kennen meine Schriften und Bücher«, ergriff Barbarossa das Wort. »Dann wissen Sie ja auch, dass ich ein großer Kritiker der Deutschlandpartei bin. Sie ist, wie alle Parteien, ein waberndes Schleimgebilde, wie eine Qualle, nicht fassbar, nicht greifbar, ohne Geist. Es ist etwas Ekelhaftes.«

Lehmann nickte demonstrativ. Was Barbarossa sagte, war auch seine Ansicht.

»Es herrschen die Karrieristen, es herrschen die Postenjäger«, fuhr der Rauschbärtige mit theatralischer Stimme fort. »Es herrschen die, für die Politik nur ein Zeitvertreib ist. Die Partei wird von Männern dominiert, denen jegliches Verständnis für den deutschen Geist fehlt. Männer, die unser heiliges Deutschland längst aufgegeben haben für ihre eigenen geistlosen Ambitionen.«

Lehmann nickte immer heftiger mit dem Kopf.

»Erlauben Sie mir, dass ich eine sehr vereinfachte Form der Lenin’schen Theorie auf Ihre Partei anwende. Zu den Menschewiki gehört die Mehrheit in der Deutschlandpartei. Sie wollen Reformen, sie wollen Posten im Parlament und in den Regierungen und hoffen so, das Blatt umzuwenden. Aber das wird nicht funktionieren. Wir brauchen einen Umsturz, eine Revolution. Doch das geht nur mit einer Kaderpartei. Wenn Sie Erfolg haben wollen, müssen Sie die Deutschlandpartei zu einer Kaderpartei umbauen.«

Lehmann hing förmlich an den Lippen Barbarossas. Der strich sich den Rauschebart und fuhr fort: »Was Sie brauchen, sind geschulte Berufsrevolutionäre, die Ihr Handwerk verstehen. Sie brauchen uns. Ich möchte Ihnen gerne meine Männer und Frauen der Diskrepanten Bewegung zur Verfügung stellen. Sie werden die bolschewistische Kerngruppe sein, mit der Sie die Deutschlandpartei zu einer Revolutionspartei umbauen können. Man könnte sie Deutsches Herz nennen, denn sie ist das Herz der neuen nationalen und sozialen Bewegung. Auch der Führer hat sich damals eine solche Organisation geschaffen.«

Bei der Erwähnung des Wortes »Führer« leuchteten Hans-Jürgen Lehmanns stahlblaue Augen. Lehmann war wie berauscht von den Ideen Barbarossas, und ebenso berauscht war Barbarossa, dass er jemanden gefunden hatte, bei dem seine Revolutionsfantasien auf fruchtbaren Boden fielen.

Ruckartig stand Barbarossa auf, Lehmann und Sehlings taten es ihm gleich. Dann hob der Rauschbärtige den Krug und sagte mit kräftiger Stimme: »Auf das heilige Deutschland.« Die drei stießen miteinander an.

Friedrich Sehlings hatte sich die ganze Zeit vornehm zurückgehalten, er war höchst zufrieden mit dem Ablauf des Abends. Dass Lorenz Meyer und der Leiter des Newsrooms bereits einen detaillierten Fahrplan zur Gründung des Deutschen Herzens samt Logo und Corporate Design ausgearbeitet hatten, behielt er lieber für sich. Ihnen hatte bisher nur der richtige Mann an der Spitze gefehlt. Der war nun gefunden und in die Spur gesetzt. Jetzt brauchte Sehlings nur noch den Marschbefehl zu geben für die »Operation Bolschewiki«.


Florentine Fischer blickte auf ihr Handy und gab die Adresse des »Alten Fritz« auf der Seite des Online-Kartendiensts ein. Vor dieser Pressekonferenz war sie noch nie in Kaulsdorf gewesen. Sie hatte sich in der Zeit verschätzt und kam zu spät. Am Eingang drückte ihr eine junge Frau in einem himmelblauen T-Shirt mit einem großen blutroten Herzen auf Brusthöhe einen Jutebeutel in die Hand. Der Saal des »Alten Fritz« war restlos überfüllt, sie musste an der Wand stehen. Das ärgerte sie. Die anderen Vertreter der Hauptstadt-Leitmedien saßen ganz vorne, direkt vor dem Tisch, an dem Marie Köster und Hans-Jürgen Lehmann Platz genommen hatten. Hinter ihnen war ein großes himmelblaues Rollup mit einem großen blutroten Herz in der Mitte. Ebensolche Fahnen hingen an den Wänden.

Seitdem sie vor knapp zwei Jahren, damals noch als Jung-Redakteurin, die Berichterstattung über die gerade gegründete Deutschlandpartei übertragen bekommen hatte, war viel geschehen. Die Partei war nicht nur als zweitstärkste Kraft in den ersten Landtag eingezogen, mit ihrem Onkel als Fraktionschef. Sie zog in ein Landesparlament nach dem anderen ein. Nun stand die Bundestagswahl an, und alle Demoskopen sagten voraus, dass sie auch in den Berliner Reichstag kommen würde.

Keiner ahnte bei ihrer Gründung, dass diese Partei so viel Erfolg haben würde. Alle dachten, das Ganze sei nur ein Strohfeuer – und dass die Deutschlandpartei genauso schnell wieder in der Versenkung verschwinden würde wie all die anderen Versuche in der Geschichte der Bundesrepublik, eine Partei rechts von der Christpartei zu etablieren. Ein alter Kollege, der im Berliner Büro des Demokratischen Beobachters für die Sozialpartei zuständig war, sagte damals zu ihr: »Na, Kindchen, da hast du dir ja einen echten Rohrkrepierer andrehen lassen.«

Florentine Fischer griff in den Jutebeutel und zog die Pressemappe hervor, ebenfalls himmelblau mit blutrotem Herz. Sie blickte auf den ebenfalls himmelblauen Jutebeutel, der jedoch anders bedruckt war: Statt des blutroten Herzens war in dessen Mitte das blutrote Schattenrisskonterfei von Hans-Jürgen Lehmann zu sehen, darunter in dicker weißer, gotischer Schrift die Worte: »Der aufrechte Deutsche«.

Die Journalistin griff noch einmal in den Jutebeutel. Irgendetwas Schweres war noch darin. Es war ein himmelblauer Kaffeebecher, ebenfalls mit dem blutroten Konterfei Lehmanns und der gleichen Aufschrift. Offenbar standen die Anhänger der Deutschlandpartei auf Personenkult, dachte sie.

Da begann auch schon die Pressekonferenz. Erst sprach Lehmann, dann Marie Köster. Florentine Fischer war ziemlich irritiert, und ihren Kollegen ging es ebenso. Hans-Jürgen Lehmann sprach nämlich gar nicht von der Deutschlandpartei und dem Deutschen Herzen, um dessen Gründung es an diesem Vormittag gehen sollte, sondern von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, er sprach von Menschewiki und Bolschewiki und auch von Lenin.

Die Redakteurin des Demokratischen Beobachters hatte zu wenig Ahnung von der Russischen Revolution und vom Kommunismus, als dass sie verstand, worauf Lehmann eigentlich hinauswollte. Der frisch gewählten stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Herzens, Marie Köster, schien es ebenso zu ergehen. Während Lehmann dozierte, spielte sie demonstrativ mit ihren blonden Zöpfen, bis sie endlich mit ihrem Statement an der Reihe war. Ihre Kernaussage verstanden die Journalisten sofort: Sie pries das Deutsche Herz als Verkörperung des Völkischen in der Deutschlandpartei und schloss mit den Worten: »Wir dürfen auch vor der Idee einer Spaltung der Partei nicht zurückschrecken, wenn die Bürgerlichen nicht machen, was wir Völkischen wollen.«

Es war fast schon ein Running Gag in der Deutschlandpartei: Immer wieder forderte irgendeiner die Spaltung oder kündigte sie mit großen Worten an. Mal wollten sich die Völkischen von den Bürgerlichen, mal die Bürgerlichen von den Völkischen trennen. Das wunderte die Journalistin nicht, sie wusste ja, wie groß die Bandbreite der Positionen in dieser jungen Partei war: Sie sog alles auf, mochte es noch so widersprüchlich sein.

Beim Hinausgehen fiel Florentine Fischers Blick auf den Papierkorb am Ausgang. Er war gefüllt mit den Jutebeuteln mit Lehmanns Konterfei. Offensichtlich hatten die meisten der versammelten Journalisten keine Verwendung für solcherlei Fanartikel. Sie überlegte kurz, ob sie ihren Beutel dazuwerfen sollte, dann besann sie sich und stopfte ihn in die Tasche ihres Trenchcoats.

Für die folgenden Wochen war der Terminkalender von Florentine Fischer dichtgepackt. Der Bundestagswahlkampf war in der heißen Phase, und zusammen mit ihrem Fotografen klapperte sie die Veranstaltungen der Deutschlandpartei ab. An diesem Tag waren sie auf dem Weg in ein Provinznest, wo Dr. Adalbert Hausding auf dem Marktplatz eine Rede halten sollte.

»Halt mal bitte an«, rief der junge Mann auf dem Beifahrersitz.

Florentine Fischer lenkte den Kleinwagen an den Rand der Landstraße. Der Fotograf griff nach der Kamera und sprang aus dem Auto. Er hatte ein ausgezeichnetes Auge für Symbolbilder. Wenn er ein passendes Motiv erspähte, dann gab es nichts, was ihn aufhalten konnte. Auch nicht der kalte Nieselregen, der durch die offene Beifahrertür hineindrang. Die junge Frau fröstelte.

Am Straßenrand schoss der Mann unzählige Fotos von einem Laternenmast, aus den verschiedensten Winkeln. Er diente als Halter für drei überdimensionierte Wahlplakate der Deutschlandpartei. Im Hintergrund, einige hundert Meter entfernt, war ein verlassenes und halbverfallenes Fabrikgebäude zu sehen, eine perfekte Kulisse.

Nach zehn Minuten saß der Fotograf wieder im Auto. Der Wagen rumpelte auf der mit Kopfstein gepflasterten Straße, umstanden von pittoresken Alleen, über die Schlaglöcher. »Warum nur muss die Deutschlandpartei ihre Wahlveranstaltungen immer in irgendwelchen gottverlassenen Käffern machen?«, murmelte die Journalistin leise fluchend vor sich hin. »Warum nicht einmal bei uns im Prenzlauer Berg?«

»Na, weil sie dort kein Schwein wählt«, sagte der junge Mann. »Hier ist Deutschland!« Er wies mit der Hand durch die Windschutzscheibe auf die endlosen Äcker, die sich rechts und links der Allee erstreckten. »Ist dir eigentlich aufgefallen, dass wir bisher noch kein Wahlplakat gesehen haben, dass nicht von der Deutschlandpartei stammt? Sieht fast so aus, als hätten die anderen Parteien die Leute hier aufgegeben.«

Florentine Fischer überlegte. Der Mann hatte recht. Seit sie den Berliner Speckgürtel verlassen hatten und auf dem platten Land unterwegs waren, dominierten die Plakate der Deutschlandpartei mit den immer gleichen Motiven und Slogans: »Islamfreie Schule«, »Konsequent abschieben«, »Heimat bewahren«, »Sicherheit für unsere Frauen und Töchter«, »Geld für Rente statt für illegale Migranten«.

Nach einer weiteren Dreiviertelstunde Autofahrt standen sie auf dem Marktplatz eines kleinen Städtchens. Die Polizei hatte den Marktplatz weiträumig abgesperrt, junge Polizisten lungerten in ihren Einsatzwagen herum. Ein paar Jungs in Hosenträger-Uniformen schmückten eine kleine Bühne mit Wahlplakaten, probierten die Mikrofone aus.

Es war noch reichlich Zeit, bis die Veranstaltung begann. Die Journalistin flüchtete vor der Kälte und dem Nieselregen in ein Café am Rande des Platzes. Sie setzte sich an das große Fenster, um das Geschehen im Auge zu behalten. Der Fotograf begrüßte derweil einen Kollegen, einen ungepflegten Mann, den sie auf etwa sechzig schätzte, mit einem langen Pferdeschwanz aus dünnem, grauem Haar. Er trug eine ausgebleichte Fotografenweste und hatte zwei Kameras mit riesigen Objektiven umgehängt. Florentine Fischer hatte den Mann schon oft bei Veranstaltungen der Deutschlandpartei gesehen.

»Wer ist denn der Typ?«, fragte sie ihren Fotografen, als er das Café betrat.

»Das ist Woody«, erwiderte er. »Der macht seit dreißig Jahren Fotos von Nazis und Rechten, reist durch ganz Europa von Veranstaltung zu Veranstaltung. Er hat ein riesiges Archiv und weiß extrem gut Bescheid.«

Dr. Florentine Fischer zeigte sich interessiert. »Vielleicht kann uns der mal behilflich sein. Hast du seine Nummer?«

Der Fotograf nahm sein Mobiltelefon und scrollte in seinem Adressbuch. »Na klar. Aber sei behutsam. Der Mann hat eine Obsession. Ein waschechter Linker. Der verkauft seine Bilder nicht an jeden.«

Während sich die beiden mit einem Tee wärmten, füllte sich der Platz. Immer mehr Zuschauer kamen herangeströmt, einige mit großen Deutschlandfahnen, andere schwenkten Wirmer-Flaggen mit schwarz-goldenem Kreuz auf rotem Grund, ursprünglich die Flagge der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944. Auch viele Regenschirme in den deutschen Nationalfarben waren zu sehen. Trotz des Regens war der Platz im Nu gerappelt voll.

Da rauschte auch schon der Bus mit Dr. Adalbert Hausding heran, eskortiert von zwei Streifenwagen. Er wurde immer mit dem Bus der Landtagsfraktion gefahren, nie mit dem schwarzen Mercedes, der ihm in seiner Eigenschaft als Fraktionsvorsitzender vom Landtag zur Verfügung gestellt worden war. Hausding saß stets direkt hinter dem Fahrer, umringt vom »Führerbegleitkommando«, wie die sieben jungen Männer in Hosenträger-Uniform intern genannt wurden: der Kommandoführer, ein Fahrer, zwei Pressebetreuer und drei Sicherheitsleute, die alle bei den Feldjägern gedient hatten. Sie hatten ein Auge für brenzlige Situationen.

Adalbert Hausding wurde von der Menge auf dem Marktplatz jubelnd begrüßt. Er war der Spitzenkandidat der Deutschlandpartei und im Wahlkampf der große Star – zusammen mit BDM-Marie. Sie war die ungekrönte Königin der völkisch Gesinnten und wusste, wie sich die Stimmung anheizen ließ. Und ihre Anhänger konnten sich darauf verlassen, dass ihnen eine gute Show geboten wurde. Sie schimpfte auf alles und jeden: die Systemparteien, die Mainstream-Medien, das Establishment, die Bonzen, die Amerikaner, die Ausländer, die Flüchtlinge, die Lehrer, die Singles. Kaum eine Gruppe wurde verschont.

Bei den Reden von Adalbert Hausding ging es gesitteter zu, er spulte stets seine gewohnte Ansprache ab, so auch diesmal auf dem Marktplatz. Nach wenigen Minuten steuerte er auf den ersten Höhepunkt zu, mit seinem Angriff auf die »Vegetarier-Lattemacchiato-Christpartei« und das »grüne Multikulti-Deutsch-land«. Die versammelten Anhänger johlten.

»Na, das kennen wir schon zur Genüge«, murmelte der Fotograf, während er nach Motiven in der Menge Ausschau hielt.

Auch die Polizeibeamten in den beiden Streifenwagen, die den Bus mit dem Parteivorsitzenden zum Veranstaltungsort eskortiert hatten, lauschten der Rede mit kaum verhohlener Sympathie. Einer der jungen Beamten hatte den Fahrer des Busses begrüßt mit den Worten: »Herzlich willkommen. Wir sind die Ehrenbegleitung für Dr. Hausding.« Und ein anderer ergänzte: »Wir hätten da nur eine Bitte. Könnten die Kollegen und wir nachher noch ein Foto mit Dr. Hausding machen? Wir sind nämlich große Fans.«

Machtergreifung

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