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Zum ersten Mal in der Gaskammer

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Es war an einem Sonntag im Mai 1942. Die Strahlen der Frühlingssonne bahnten sich mühsam ihren Weg durch den Morgendunst und schienen auf den Hof des Blocks 11. Dort war ich mit etwa 500 anderen Häftlingen in Zehnerreihen angetreten, um nach den in Auschwitz geltenden Bräuchen die Sonntagsruhe zu genießen. Eine heisere, laute Stimme hallte über den Hof. Auf der obersten Stufe der Treppe, die in den Block führte, stand der Blockschreiber Vacek. Von hier aus konnte er jeden Winkel des Hofes überblicken und seine abgehackten Kommandos ertönen lassen: »Stillgestanden! Mützen auf! Mützen ab! Rührt euch!«

In dieser Miniaturwelt des absoluten Bösen war er ein kleiner Herrscher. Der grüne Winkel auf seiner Häftlingsmontur wies ihn als ehemaligen Berufsverbrecher aus.

Seine stereotypen Kommandos, deren Ausführung er mit Habichtsaugen verfolgte, waren schon hundertmal wiederholt worden. Auf das Kommando »Mützen ab!« rissen wir unsere tellerartigen Mützen von den kahlgeschorenen Köpfen und knallten sie mit der flachen Hand gegen den rechten Oberschenkel. Nach Vaceks Vorstellung mußte sich das wie ein Peitschenknall anhören, sonst wurde das Manöver so lange wiederholt, bis er zufrieden war. Auf den ersten Blick konnte es so scheinen, als wäre an diesem stumpfsinnigen Drill, der an das Exerzieren von Rekruten erinnerte, nichts Besonderes. Aber diese Dressurmethode schaffte Vacek den gewünschten Vorwand, Häftlinge totzuschlagen.

Sein erstes Opfer war Nandor Delikat, Vater von vier Kindern, der an der rechten Hand gelähmt war. Daheim, in meiner Vaterstadt Sered an der Waag, hatte er sich dadurch ernährt, daß er für Almosen den Verstorbenen in der Synagoge das Totengebet, den Kaddisch, sprach. Wie hätte er auch die Kommandos »Mützen auf! Mützen ab!« korrekt ausführen sollen?

Vacek stürzte sich auf den Invaliden und zerrte ihn über den Hof bis zum Nachbarblock. Dort stellte er ihn mit dem Gesicht gegen die Wand. Der zweite, mit dem er genauso verfuhr, war der schwerhörige Schneider Mendel Weimann, der bei dem Kommando »Stillgestanden!« die Hacken seiner Holzpantinen um den Bruchteil einer Sekunde zu spät zusammengeklappt hatte.

Vacek ließ weiterexerzieren. Als es wirklich schon klappte, wartete jeder darauf, daß nun endlich Schluß sei mit dem stumpfsinnigen Drill. Aber Vacek genügten die zwei Todeskandidaten noch nicht. Er holte sich weitere Opfer aus den Reihen seiner Sklaven. Vorwände suchte er schon nicht mehr. Eine lange Nase, eine Brille mit dicken Gläsern, eine schlecht sitzende Mütze oder irgend etwas anderes, was ihm nicht paßte, waren für ihn Grund genug, einen nach dem andern aus den Reihen zu zerren und an die Wand zu stellen. Ob sie ahnten, daß ihre letzte Stunde geschlagen hatte?

Denn hier gab es kein Erbarmen und kein Mitleid mit den Lahmen, Tauben, Blinden und Gebrechlichen. Die zehn Gebote, die Grundsätze der Humanität, galten hier nicht. Auschwitz war ein Ort mit eigenen Gesetzen und makabren Diskrepanzen. Hier konnte man für Goldzähne einen Teller Rübensuppe bekommen; hier spielte ein Lagerorchester nicht nur morgens, wenn die Häftlinge zur Arbeit ausrückten, schmissige Märsche, sondern auch abends, wenn sie erschöpft und zerschunden ihre toten Kameraden ins Lager schleppten. Hier erhielten Kapos Prämien und Vergünstigungen, wenn sie ihre Kommandos dezimierten. Wie sie das machten, war ihre Sache. Hier gab es den Block 10, wo man Frauen sterilisierte, während in einem anderen Block Männer kastriert wurden. Auschwitz war ein Ort, an dem alle europäischen Sprachen gesprochen wurden, aber auch ein Ort, wo Menschen nicht nur an Hunger, Krankheiten und Seuchen starben, sondern auch erschlagen, mit Phenolspritzen ins Herz getötet oder in die Gaskammer gejagt wurden. Dieses fluchbeladene Stück Land im östlichen Europa stand unter der Herrschaft der SS, die sich als Elite eines Volkes verstand, das der Welt nicht nur einen Goethe, Schiller und Mendelssohn, sondern auch einen Adolf Hitler als Führer beschert hatte. Das polnische Oświęcim, das die Nazis zum deutschen Auschwitz gemacht hatten, war zu einem Ort des Infernos geworden, und wen es hierher verschlug, der war endgültig von Gott und den Menschen verlassen.

Dreißig »Auserwählte« standen nun an der Wand. Vacek und seine Gehilfen, die Stubendienste, befahlen ihnen, in Fünferreihen anzutreten. Hinter unserem Rücken begann jetzt, was man in Auschwitz »Sport« nannte.

»Laufschritt! Marsch, marsch! Hinlegen! Auf, marsch, marsch! Hinlegen! Kriechen! Auf, marsch, marsch! Hüpfen! Im Laufschritt! Marsch, marsch! Kehrt, marsch, marsch!« Die bedauernswerten Häftlinge wurden wie bei einer Treibjagd gehetzt und gejagt. Sie warfen sich auf die Erde, robbten, sprangen wieder auf, hüpften mit vorgehaltenen Armen, rannten keuchend herum und schubsten einander, um den Schlägen zu entgehen, die pausenlos auf sie niederprasselten. Ihre Gesichter waren vor Anstrengung rot angelaufen, Schweiß lief ihnen in Strömen über Stirn und Nacken und vermischte sich mit Blut, das von den vielen Schlägen herrührte. Nur nicht liegenbleiben! Wer das tat, war verloren. Ein Schlag mit dem Gummiknüppel, wenn nötig auch mehrere, machte ihm den Garaus. Viele hatten schon aufgegeben. Mehr als die Hälfte lag bereits reglos am Boden, obwohl erst zwanzig Minuten vergangen waren. »Laufschritt, marsch, marsch! Hinlegen! Aufstehen! Marsch, marsch! Hüpfen! Auf, marsch, marsch! Hinlegen! Kriechen!« Ein Kommando folgte schlagartig dem anderen. Die noch Übriggebliebenen versuchten mit letzter Kraft, diese Befehle auszuführen. Doch es dauerte nicht lange, bis auch die letzten in ihren zebragestreiften Monturen reglos dalagen und von den Henkersknechten totgeprügelt wurden.

Blutrünstig ließ Vacek seinen Blick über die Saat des Todes wandern. Dann wischte er sich die schweißbedeckte Stirn ab. Man sah ihm an, daß er mit seiner Arbeit zufrieden war. Ein Grinsen verzerrte sein Gesicht zur Fratze, während seine Augen noch immer gefährlich blitzten. Es war nicht schwer zu erraten, daß er am liebsten jedem von uns das gleiche Schicksal bereitet hätte. Langsam wandte er dann seinen Blick nach links, als wäre überhaupt nichts geschehen. Dort waren die Toten inzwischen zusammengetragen und nebeneinander auf den Rücken gelegt worden. Ihre Hände waren auf der Brust gekreuzt, und sie starrten mit geöffneten Augen fragend in den Himmel. Befriedigt wandten sich Vacek und seine Stubendienste nach getaner Arbeit ab.

Während all dem machte der diensthabende SS-Rottenführer Schlage den Eindruck, als ginge ihn dieses mörderische Treiben überhaupt nichts an. Er verschwand ein paar Mal im Block und tauchte dann wieder auf der obersten Stufe der Treppe auf. Von hier sah er seinem Blockschreiber Vacek zu, um sich zu vergewissern, daß dessen Aktivität nicht nachließ. Sonst hätte er seine scheinbare Nichteinmischung aufgegeben und selbst gezeigt, wie in Auschwitz richtig »Sport« getrieben wird.

Von irgendwo aus unseren Reihen vernahm ich ein Gemurmel. Ich nahm es nur beiläufig wahr, weil meine Aufmerksamkeit ganz darauf gerichtet war, nicht aufzufallen. Naiv, wie ich noch war, glaubte ich, man könne durch exakte Befolgung und Ausführung der Befehle dazu beitragen, die teuflische Schinderei abzukürzen.

Das anfangs unverständliche Gemurmel ging in ein deutlich vernehmbares Selbstgespräch über: »Mein Gott, wo sind wir denn, was geht hier eigentlich vor? Häftlinge werden von ihresgleichen erschlagen. Davon wissen die Vorgesetzten bestimmt nichts. Ich protest …« Eine neue Folge von Kommandos unterbrach das Selbstgespräch. »Stillgestanden! Mützen auf! Mützen ab! Rührt euch!«

Vacek holte sich nochmals vier Häftlinge aus den Reihen. Es dauerte nicht lange, bis auch sie auf dem Leichenhaufen lagen.

»Nein, das darf nicht möglich sein. Was hier vorgeht, ist ja schrecklich. Hier werden unschuldige Menschen totgeschlagen!« Ich sah mich um, um herauszubekommen, woher diese Worte kamen und wer da vor sich hinredete.

Es war Dr. Albert Paskus, der dieses Selbstgespräch führte. Er stammte aus meiner Heimatstadt Sered und war dort als redlicher Mann bekannt, ein tüchtiger und geschätzter Rechtsanwalt, ein Kenner des jüdischen Schrifttums, der stets die Härte des Gesetzes für die Schwachen zu mildern gesucht hatte. Dr. Paskus war, wie auch ich, vor kaum einem Monat nach Auschwitz gekommen und gehörte zu jenen, die sich der harten Realität zu langsam bewußt wurden. Noch hatte er nicht erkannt, daß Wertvorstellungen und Gebote, die die Grundlagen der Zivilisation bildeten, in Auschwitz nicht galten. Paskus war fest davon überzeugt, daß die Morde hier willkürlich von den Häftlingsfunktionären ohne Wissen der SS-Führer verübt wurden. Es paßte einfach nicht in sein Bild vom Recht, daß Häftlinge ihre Mithäftlinge grundlos totschlugen. Er hatte noch nicht begriffen, daß wir uns an einem Ort befanden, wo ein Häftling nichts anderes als Freiwild war.

Der stundenlange Drill ging auch an diesem Sonntag zu Ende. Wir begannen, uns zum Zählappell zu formieren. Blockschreiber Vacek kam die Treppe herunter und kommandierte stereotyp sein »Stillgestanden! Mützen auf! Augen gerade aus!« Zuerst zählte er die in Reih und Glied angetretenen Häftlinge, dann die Erschlagenen, die in einer Ecke des Hofes nebeneinander lagen. Das Ergebnis kritzelte er auf einen Zettel Papier, den er dem Blockältesten übergab. Auf das Kommando »Mützen ab!« rissen wir unsere schmuddeligen Mützen vom Kopf und klatschten sie gegen die Hosennaht. Ein synchroner Knall war für Vacek der Beweis, daß die voraufgegangene blutige Generalprobe ihren Zweck erfüllt hatte.

Rottenführer Schlage, der in der Blocktür stand, schritt nun gravitätisch die Treppen herunter. Auf dem Hof angelangt, nahm er die Meldung des Blockältesten entgegen und begann, die Zahlen auf ihre Richtigkeit zu prüfen, indem er zum linken Flügel der schnurgerade ausgerichteten Reihen trat und dann die Häftlinge abzählte. Totenstille herrschte, sie wurde nur von dem Gezwitscher der über uns fliegenden Schwalben unterbrochen. Da drängte sich plötzlich, von einem Geraune begleitet, Dr. Paskus durch die Reihen und blieb drei Schritte vor Schlage stehen. Er stand stramm, sah dem SS-Mann furchtlos in die Augen und erklärte mit echter Entrüstung: »Herr Kommandant, als Mensch und Jurist melde ich Ihnen, daß der Blockschreiber hier« – dabei zeigte er auf Vacek – »grundlos unschuldige Menschen erschlagen hat. Hier liegen sie tot auf einem Haufen. Ich bin überzeugt, daß er diese Häftlinge ohne Wissen der Vorgesetzten und der Staatsorgane erschlagen hat. Wir sind hierher geschickt worden, um zu arbeiten, und nicht, um totgeschlagen zu werden. Der Präsident des slowakischen Staates, Monsignore Tiso, hat höchstpersönlich unsere Sicherheit garantiert.

Deshalb ersuche ich Sie, das, was hier geschehen ist, untersuchen zu lassen und die Schuldigen ihrer Bestrafung zuzuführen.«

Als Paskus seine Beschwerde vorgebracht hatte, herrschte eine so beklommene Stille, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören. Die Häftlinge, über den Mut und die Zivilcourage eines der Ihren erstaunt, hielten den Atem an und starrten auf Schlage. Aber auch der war von dem unerwarteten Verhalten des Häftlings so überrascht, daß er eine Zeitlang wie zu einer Statue erstarrt Dr. Paskus gegenüberstand. Sein Gesicht und sein Hals waren vor Zorn und Erregung rot angelaufen. Es schien, als wollte er etwas sagen, einige Muskeln zuckten in seinem Gesicht, wie von einem galvanischen Strom gereizt. Es dauerte einige Sekunden, dann schrie er, wie aus einer Lethargie erwacht: »Vacek, komm mal her!«

»Jawohl, Herr Rottenführer!« erwiderte Vacek und stand stramm vor seinem Herrn.

»Hast du gehört, was der Saujud da gequatscht hat?«

»Jawohl, Herr Blockführer!« antwortete Vacek beflissen.

»Dann gib ihm, was er verdient hat!« befahl Schlage.

Vacek rannte zur Treppe, wo sein Knüppel lag. Er hob ihn auf, stürzte auf Paskus zu und schlug ihm ein paarmal auf den Schädel, bis er tot zu Boden fiel. Dann schleifte Vacek den reglosen Körper zu dem Leichenhaufen.

Als Ergebnis des sonntäglichen Frühsports lagen jetzt 35 Erschlagene auf dem Hof von Block 11. Schlage, der Vaceks Verhalten mit Genugtuung verfolgt hatte, wandte sich nun an uns und fragte zynisch: »Hat noch jemand eine Beschwerde vorzubringen?«

Während seine Blicke durch unsere Reihen wanderten, beendete der Blockälteste auf ein Zeichen von ihm den Mittagszählappell mit dem Befehl »Rührt euch!«. Wer freilich geglaubt hatte, damit seien die Schikanen zu Ende, der hatte sich getäuscht.

Ziemlich entkräftet stellten wir uns hinter den Holzbottichen mit dem Tee auf, der schon in der Frühe hätte ausgegeben werden sollen und inzwischen kalt geworden war, und warteten darauf, eine Kelle voll zu bekommen. Freilich vergebens. Aber das war nichts Neues. Vacek rannte immer noch wie ein Verrückter auf dem Hof herum, gestikulierte mit den Händen und schrie, wir Scheißkerle hätten auf nichts, nicht einmal auf Dreck ein Recht, einzig und allein darauf – und dabei zeigte er mit dem Finger nach oben –, durch den Schornstein gejagt zu werden. Dann herrschte er seine Stubendienste an, den Tee in den Kanal zu gießen. Mit trockenen Kehlen und gierigen Blicken mußten wir ohnmächtig diese neue Teufelei über uns ergehen lassen. Ich konnte Vaceks Verhalten nicht begreifen, war er doch ein Häftling wie wir auch. Ich überlegte, ob er vielleicht ein Spitzel war. Aber dann hätte er sich doch anders benommen und hätte versucht, unser Vertrauen zu gewinnen.

Erst später erfuhr ich, daß Vacek einer der ersten sogenannten Funktionshäftlinge in Auschwitz war. Er hatte sich hier einer Gruppe von 30 Berufsverbrechern zugesellt, die im Konzentrationslager Sachsenhausen auf ihre Aufgaben besonders vorbereitet worden waren. Schon dort waren sie als prominente reichsdeutsche Häftlinge gefürchtete Lagerfunktionäre gewesen. Rapportführer Palitzsch hatte sie alle im Mai 1940 in das neugegründete Konzentrationslager Auschwitz mitgenommen, wo sie die brutalen Methoden der seit 1933 auf deutschem Boden bestehenden Konzentrationslager praktizieren sollten. Diese Gruppe von Berufsverbrechern und ihre Zöglinge, zu denen Vacek gehörte, hatten in der Häftlingsselbstverwaltung in Auschwitz eine besonders privilegierte Stellung und erfreuten sich der Wertschätzung der SS-Leute. Als Lagerfunktionäre brauchten sie körperlich nicht zu arbeiten und hatten faktisch unumschränkte Gewalt über Leben und Tod ihrer Mithäftlinge. Sie bekamen mehr und besseres Essen, trugen hohe Lederstiefel und maßgeschneiderte Häftlingsmonturen und hatten noch viele andere Vorteile und Privilegien.

Vacek kam nicht lange in deren Genuß. Im Herbst 1942 starb er im Krankenbau an Flecktyphus. Pfleger, die erfahren hatten, was für ein sadistischer Totschläger er gewesen war, sollen ihm, als er tot war, in den Mund fäkiert haben.

Auch als der Tee in die Gosse geschüttet worden war, kamen wir nicht zur Ruhe. Jetzt wurde Entlausung befohlen. Wir standen in kleineren Gruppen auf dem Hof, um unsere abgestreiften Hemden nach Läusen zu durchsuchen. Dieses Ungeziefer machte uns viel zu schaffen, und in unseren Hemden wimmelte es davon. Ich nahm mir eine nach der andern vor und zerknackte diese Quälgeister zwischen den Daumennägeln. Die andern taten das gleiche.

Von den vielen Parolen an den Wänden im Block entbehrte eine nicht impertinenter Zynik: »Eine Laus – dein Tod.« Das war keine Übertreibung, denn dieser Fall konnte jederzeit eintreten. Eine Laus konnte einen mit Flecktyphus infizieren, und das bedeutete in Auschwitz den sicheren Tod. Aber auch jede Laus, die bei der Hemdenkontrolle von einem Kapo oder Stubendienst entdeckt wurde, konnte schlimmste Folgen haben. Das lag in der Logik der »Auschwitzer Gerechtigkeit« begründet. Denn ein Häftling, bei dem nach einer befohlenen Entlausung noch eine Laus gefunden wurde, hatte einen Befehl nicht befolgt. Damit war er ein Befehlsverweigerer, der hart bestraft werden mußte.

Daß nur selten einmal Wasser aus den Hähnen lief und wir weder Seife noch ein Handtuch hatten, interessierte niemand.

Nach der Läusekontrolle wurden die Schikanen fortgesetzt, indem man uns damit beschäftigte, das harte, steife Oberleder unserer Holzpantinen mit schmutzigem Öl zu bearbeiten. Dann mußten wir die blutige Prozedur des »Rasierens« über uns ergehen lassen, die einmal in der Woche stattfand. Rasiert wurde ohne Seife, nur mit Wasser. Die Rasiermesser, mit denen die Barbiere arbeiteten, waren schon so stumpf, daß die Barthaare mehr herausgerissen als abrasiert wurden. Von all dem blieb Paskus verschont. Daran mußte ich denken, als ich sah, wie die Leichenträger seinen toten Körper auf einen hölzernen Wagen legten, mit dem die Erschlagenen weggebracht wurden.

Inzwischen war es Mittag geworden. Die Stubendienste schleppten mit hölzernen Tragstangen dampfende Kessel heran. Der Dunst der dünnen, alles andere als wohlriechenden Suppe breitete sich auf dem Hof aus und wurde gierig wahrgenommen. Leben kam wieder in uns, Schikanen, Quälereien und Totschlag waren vergessen. Alle Sinne waren auf den Fraß aus Futterrüben und zerkochten, fauligen Kartoffeln konzentriert, der zwar immer gleich schmeckte, aber doch eine Zeitlang das Überleben garantierte. Suppe war hier das Lebenselexier, und es war für jeden ein großes Ereignis, wenn er durch einen Glücksfall hin und wieder einmal eine zusätzliche Portion ergattern konnte.

Zitternd vor Gier stand ich in der langen Reihe, bis mir einer der Stubendienste mit einer Kelle einen Schlag in meinen rotemaillierten, schon angerosteten Blechnapf goß. Ohne einen Löffel zu benutzen, schlürfte ich bedächtig die Suppe hinunter, jeden Schluck auskostend. Dabei hatte ich das Gefühl, meine Lebensenergie würde sich erneuern. Aber gleichzeitig stellte ich voller Enttäuschung fest, daß die Suppe immer weniger wurde. Gierig leckte ich auch die letzten Reste aus der Schale. Dann ging ich, mehr durstig als hungrig, auf die Stube im Block, um mich dort der befohlenen Sonntagnachmittagsbettruhe zu unterziehen.

Die Stubendienste händigten jeweils zwei Häftlingen, die zusammen auf einer Pritsche lagen, eine Decke aus. Ich hatte mich in der Nähe der Tür in einen Verschlag im Parterre gelegt. Neben mir lag ein Häftling, der vielleicht 25 oder 26 Jahre alt war. Die gemeinsame Pritsche, auf der wir lagen, brachte uns einander näher, und bei dem allgemeinen Lärm, der herrschte, begannen auch wir ein Gespräch miteinander.

»Wo kommst du her?« fragte ich ihn.

»Pas compris, camarade«, erwiderte er.

»Sprichst du nicht deutsch?« fragte ich weiter.

»Un petit peu, pas beaucoup«, antwortete er mir.

»Ich heiße Filip und komme aus der Slowakei«, versuchte ich zu erklären.

Er verstand: »Moi, Maurice de l’ Algérie; Je suis venu de Drancy.« Dann sagte er: »Moi kaputt, par ici alles kaputt.« Mit Gesten und gestammelten Worten versuchte er mir klarzumachen, daß wir hier alle früher oder später durch den Kamin gehen würden.

Dann tauchte plötzlich Schlage in der Tür auf. »Vielleicht gibt’s bald Ruhe hier, ihr verlausten Scheißer, sonst könnt ihr was erleben!« schrie er gereizt. Mit einem Schlag wurde es ruhig, und die Stubendienste, ihre Angst vor dem SS-Schergen verbergend, trieben alle noch nicht auf einer Pritsche liegenden Häftlinge mit Stockschlägen in die nächste Koje. Schlage, lässig gegen den Türrahmen gelehnt, verfolgte das Vorgehen seiner Kreaturen mit Befriedigung. Er sah sich noch einmal gebieterisch um und entfernte sich dann.

Jetzt wurde es still, nur hin und wieder hörte man jemanden husten oder ächzen. Die meisten waren vor Erschöpfung in Schlaf gefallen. Viele schnarchten, auch ich sehnte mich nach Schlaf, aber ich konnte nicht einschlafen. Immer wieder mußte ich an Dr. Paskus denken. Mein Durst wurde immer quälender. Die Zunge klebte mir am Gaumen, und meine Kehle war völlig ausgetrocknet. Sich an die Wasserleitung im Block zu schleichen, hätte wenig Zweck gehabt; denn dort lief meistens kein Wasser.

Meinem Nachbarn auf der Pritsche ging es ähnlich. Er sagte etwas, was ich nicht richtig verstand. Deshalb fragte ich auf deutsch: »Was sagst du?«

»Aqua, aqua«, erwiderte er, »Aqua, Appell.« Mit Gebärden und Gesten versuchte er mir klarzumachen, was er vorhatte. Ich kapierte schließlich, daß er mit mir zusammen auf den Hof schleichen wollte. Dort standen jetzt schon die Bottiche mit dem Tee für den Abend, und da hätten wir Gelegenheit, unseren Durst zu löschen. Die Idee gefiel mir. Auch der Zeitpunkt, sie zu verwirklichen, schien günstig, denn fast alle schliefen. Auch der Gedanke, Vacek könnte am Abend den Tee vielleicht wieder wegschütten lassen, bestärkte mich darin, den Plan von Maurice auszuführen. Die Hoffnung, meinen quälenden Durst bald zu löschen, ließ mich die Furcht vergessen, ertappt zu werden. Ohne ein Geräusch zu verursachen, glitten Maurice und ich von unserer Pritsche und gingen auf Zehenspitzen zu der halboffenen Tür. Maurice streckte seinen Kopf hinaus, spähte nach rechts und links und gab mir dann ein Zeichen, ihm zu folgen. Vorsichtig schlichen wir weiter und tasteten uns dann behutsam und geräuschlos, Schritt für Schritt, die Steintreppe hinunter. Auf dem Hof herrschte Grabesstille. Rechts streifte mein Blick die schwarze Wand, die Hinrichtungsmauer; dem Galgen in der Ecke schenkte ich keine Beachtung. Meine Aufmerksamkeit war nach links gerichtet, wo die zwei Holzbottiche mit dem Tee nebeneinander standen. Irrsinnig vor Gier stürzten wir uns darauf. Mein hageres, verzerrtes Gesicht spiegelte sich einen Augenblick lang in der dunklen Oberfläche der Flüssigkeit. Ich erschrak vor meinem Spiegelbild, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Über den Rand des Bottichs geneigt, benetzte ich zuerst vorsichtig meine Lippen, dann schlürfte ich gierig und genüßlich den lauen Tee, der mich etwas erfrischte. Um Luft zu schnappen, hob ich den Kopf etwas hoch und schöpfte ein wenig Atem, die Hände immer noch auf den Rand des Bottichs gestützt. Dann sog ich von neuem das lebensspendende Naß in mich hinein.

Plötzlich spürte ich, daß mich jemand von hinten hart im Genick packte und meinen Kopf mit Gewalt in den Bottich drückte. Ich versuchte, mich herauszuwinden und von dem eisernen Griff zu befreien. Vergebens. Als ich verzweifelt den Mund aufriß, um nach Luft zu schnappen, war mein Kopf schon so weit in den Bottich gedrückt, daß mir der Tee in die Lungen drang. Meine Ohren dröhnten, und ich dachte, ich sollte wie eine Ratte ertränkt werden. Dann verlor ich das Bewußtsein.

Ein dumpfer Schmerz in den Waden, ein Rumoren im Kopf und ein seltsames Knacken in den Ohren überzeugten mich, daß ich noch lebte. Ich stellte fest, daß ich auf der Erde lag. Noch etwas benommen hörte ich, wie jemand krakeelte: »Los, los, aufstehen! Ihr verfluchten jüdischen Bolschewisten! Los, los! Dalli! Dalli!« Stechende Schmerzen hielten mich davon ab, die Augen zu öffnen. Als ich dann doch aufblickte, zeichneten sich die Umrisse einiger Gestalten ab. In die Wirklichkeit zurückgerufen, erkannte ich Blockführer Schlage und seinen Blockschreiber Vacek. Einen kleingewachsenen SS-Führer, der sich ihnen zugesellt hatte und dem ich am Abend nochmals begegnen sollte, sah ich zum ersten Mal.

Offensichtlich hatten sie gewartet, bis wir wieder zum Bewußtsein gekommen waren. Ein Eintunken in den Teebottich schien ihnen sicher eine zu geringe Strafe für unser Vergehen. Jetzt stand uns sicher Schlimmeres bevor als das, was uns gerade widerfahren war.

Mühsam stand ich auf. Der Anblick des totenblassen Gesichts von Maurice, der noch regungslos am Boden lag, ließ mich erschrecken. Nach einer Weile kam aber auch er wieder zu sich und erhob sich. Vacek führte uns nun über die Treppe in den Block. Dort stellte er uns gegenüber der Blockführerstube mit dem Gesicht gegen die Wand. Ich war ziemlich schwach auf den Beinen und hatte Angst vor dem, was nun passieren würde.

Während wir so dastanden und warteten, malte ich mir in der Phantasie aus, was jetzt auf uns zukommen könnte. Vielleicht würden sie warten, bis wir wieder etwas bei Kräften waren, und dann »Sport« mit uns treiben. Im Geist hörte ich schon die Kommandos »Hinlegen! Auf, marsch, marsch! Lebhaft! Wollt ihr laufen! Hinlegen!«, wie Kugeln, die aus einem Maschinengewehr knattern und nichts anderes bedeuten als das Präludium des Todes. Unbemerkt verlagerte ich mein Körpergewicht von einem Fuß auf den andern, um meine verkrampften Glieder etwas zu entspannen. Doch den Kopf herumzudrehen wagte ich nicht. Das geringste Geräusch jagte mir einen panischen Schrecken ein. Jeden Augenblick fürchtete ich, unsere Peiniger würden kommen. Es schien, als stünde die Zeit still. Sekunden waren wie eine Ewigkeit, in meinem Gehirn jagte ein Gedanke den anderen. Die ganze mir bekannte Skala von Quälereien, mit denen man Häftlinge fertigzumachen pflegte, beschäftigte meine Phantasie: 25 Schläge auf das nackte Gesäß; an den gefesselten Händen aufgehängt werden; in der Dunkelzelle verhungern; Sport auf dem Hof … davor hatte ich am meisten Angst. Vielleicht würde ich es schaffen, mich hundertmal oder auch hundertfünfzigmal wieder aufzuraffen. Aber irgendwann wäre es mit Sicherheit soweit, daß ich nicht mehr die Kraft hätte aufzustehen. Dann würde ich von Vacek genauso erledigt wie die 35 anderen heute morgen.

Vor lauter Angst wäre es mir fast entgangen, daß jemand geläutet hatte und die Tür am Eingang zum Block aufgeschlossen wurde. Erst als Schlage schrie: »Raus aus dem Block, ihr Verbrecher!«, lief ich mit Maurice auf den Hof hinaus, wo schon ein SS-Posten wartete und uns zum Lagerausgang trieb. Am Haupttor übergab er uns an zwei SS-Leute, die dort bereitgestanden hatten. Hinter der Blockführerstube führten sie uns, die Waffe im Anschlag, nach rechts. Ich rechnete damit, jeden Augenblick einen Genickschuß zu bekommen.

Statt dessen hörte ich aus einiger Entfernung, es kann nicht weit gewesen sein, Musik. Deutlich erkannte ich Schubertsche Weisen. Sie konnten nur von einem richtigen Orchester stammen. Die Musik verdrängte meine düsteren Gedanken vom Sterben ein wenig. Denn an einem Ort, wo man mit Orchesterbegleitung Schuberts »Leise flehen meine Lieder durch die Nacht zu dir« sang, so dachte ich, müßte doch auch für ein wenig Menschlichkeit Platz sein.

Als uns die SS-Posten etwa hundert Meter weit geführt hatten, tauchte vor uns ein eigenartiges Gebäude mit einem flachen Dach auf. Dahinter ragte ein runder Schornstein aus roten Ziegeln in den Himmel. Zu diesem Gebäude führten uns die Posten durch ein hölzernes Tor. Wir befanden uns jetzt in einem Hof, der durch eine Mauer von der Außenwelt getrennt war. Rechts von uns lag das Gebäude, in dessen Mitte sich ein Eingang befand. Über der Tür hing eine eiserne, kunstgeschmiedete Laterne. Unter ihr stand ein noch junger, stattlicher, rotblonder SS-Mann mit den Rangabzeichen eines Unterscharführers. Später erfuhr ich, daß er Stark hieß. Drohend hielt er einen Ochsenziemer in der Hand. Mit den Worten: »Herein, ihr Schweinehunde!« empfing er uns und jagte uns mit Schlägen durch die Tür in einen Gang. Wir waren ganz verdutzt und wußten nicht, durch welche der hellblau gestrichenen Türen wir gehen sollten. »Geradeaus, ihr Drecksäcke!« schrie Stark und machte eine Tür auf. Wir kamen in einen Raum, in dem uns ein feuchter Geruch und stickiger, beißender Rauch entgegenschlug. Undeutlich konnte man die Umrisse mächtiger Öfen erkennen. Wir befanden uns im Verbrennungsraum des Auschwitzer Krematoriums. Ein paar Häftlinge liefen herum, den sechszackigen Judenstern auf ihren Monturen. Als der Schein der lodernden Flammen den Rauch und Qualm durchbrach, sah ich in dem aus roten Ziegelsteinen gemauerten Quader zwei große Öffnungen. Es waren gußeiserne Verbrennungsöfen, zu denen Häftlinge auf einer Lore Leichen hinschoben. Stark riß jetzt eine weitere Tür vor uns auf, schlug auf Maurice und auf mich ein und trieb uns in einen größeren Raum neben der Verbrennungsanlage.

Vor uns lagen zwischen Koffern und Rucksäcken Haufen aufeinander- und durcheinanderliegender toter Männer und Frauen. Ich war starr vor Entsetzen. Ich wußte ja nicht, wo ich mich befand und was hier vor sich ging. Ein heftiger Schlag, begleitet von Starks Gebrüll: »Los, los! Leichen ausziehen!« veranlaßte mich das zu tun, was auch ein paar andere Häftlinge taten, die ich erst jetzt bemerkte. Vor mir lag die Leiche einer Frau. Zuerst zog ich ihre Schuhe aus. Meine Hände zitterten dabei, und ich bebte am ganzen Körper, als ich begann, ihr die Strümpfe auszuziehen. Zum ersten Mal in meinem Leben kam ich mit einer Leiche in Berührung. Sie war noch nicht richtig erkaltet. Als ich den Strumpf vom Bein herunterzog, riß er ein wenig ein. Stark, der es bemerkt hatte, schlug wieder auf mich ein und ereiferte sich: »Was ist das für eine Arbeit! Paß auf und tummel dich! Die Sachen werden noch gebraucht!« Um zu zeigen, wie es richtig gemacht wird, ging er zu einer anderen Leiche und begann, ihr die Strümpfe auszuziehen. Aber auch bei ihm ging es nicht ohne Riß ab.

Die Angst vor weiteren Schlägen, der grausige Anblick der gestapelten Leichen, der beißende Rauch, das Surren der Ventilatoren und das Flackern der lodernden Flammen aus dem Verbrennungsraum, dieses ganze chaotische, infernalische Tohuwabohu hatte meine Orientierung und mein Denkvermögen derart gelähmt, daß ich jeden Befehl wie hypnotisiert befolgte. Erst allmählich begann ich zu begreifen, daß da Leute vor mir lagen, die man vor kurzem umgebracht haben mußte. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie so viele Menschen auf einmal getötet worden waren.

Als Stark wiederkam, beorderte er mich und Maurice in den Verbrennungsraum. Er drückte jedem ein langes Stemmeisen und einen schweren Hammer in die Hand und befahl uns, damit die Schlacken von den Rosten der Öfen, die gerade nicht in Betrieb waren, zu entfernen. Maurice und ich hatten so etwas noch niemals getan, deshalb wußten wir nicht, was wir eigentlich machen sollten. So kam es, daß wir die Stemmeisen nicht in die Schlackenschicht auf den Rosten, sondern in den Aschenraum stießen, wo die Schamottausmauerung beschädigt wurde. Als Stark das entdeckte, jagte er uns zurück in den Leichenraum und holte Fischl, der später unser Vorarbeiter werden sollte. Dieser begann nun, die Roste zu reinigen. Maurice und ich fuhren fort, Leichen auszuziehen. Ich sah mich jetzt vorsichtig in dem Raum um, wo die Toten lagen. Hinten entdeckte ich auf dem Betonboden kleine, grünblaue Kristalle. Sie lagen verstreut unter einer Öffnung, die durch die Decke gebrochen war. Dort war auch ein großer Ventilator angebracht, dessen Propeller sich surrend drehte. Es fiel mir auf, daß sich an der Stelle, wo die Kristalle lagen, keine Leichen befanden, während sie weiter entfernt, vor allem in der Nähe der Tür, haufenweise herumlagen.

Der Aufenthalt im Lager hatte meine Gesundheit schon ziemlich angegriffen. Ich war vom Hunger geschwächt, meine Füße waren geschwollen und die Sohlen von den groben Holzpantinen aufgeschürft. Daher war es kein Wunder, daß ich mich bei der Hetze, die hier herrschte, nach einem Augenblick der Ruhe sehnte. Wachsam verfolgte ich jede Bewegung Starks, um unbemerkt etwas verschnaufen zu können. Dieser Augenblick war gekommen, als er in den Verbrennungsraum hinüberging. Mein Blick fiel auf einen halb geöffneten Koffer, in dem ich Lebensmittel entdeckte, die wohl als Reiseproviant hatten dienen sollen. Mit der einen Hand tat ich so, als wäre ich damit beschäftigt, einen Toten auszuziehen, mit der anderen durchwühlte ich den Koffer. Während ich Käsedreiecke und einen Mohnkuchen aus dem Koffer grapschte, spähte ich ständig zur Tür, um nicht von Stark überrascht zu werden. Mit meinen blutbeschmierten und verschmutzten Händen brach ich den Kuchen auseinander und schlang ihn gierig wie ein Raubtier hinunter. Ich fand gerade noch Zeit, ein Stück Brot einzustecken, als Stark zurückkam. Die Kleiderhaufen waren ihm offensichtlich nicht groß genug, deshalb trieb er uns mit Geschrei und Schlägen an, schneller zu arbeiten. Nach einer weiteren Stunde hatten wir vielleicht hundert Leichen entkleidet. Sie lagen jetzt nackt da und konnten eingeäschert werden.

In einem anderen Koffer fand ich eine runde Käseschachtel mit der Aufschrift: »Liptovský Svätý Mikuláš«, in einem weiteren lagen mehrere Schachteln Zündhölzer mit dem Etikett »Slovenské zápalkỳ«. Ich schaute mir nun auch die Gesichter der Toten an und erschrak, als ich eine ehemalige Mitschülerin erkannte. Kein Zweifel, es war Jolana Weis. Ihr Großvater hatte in meiner Heimatstadt Sered die Mikwe, das jüdische Ritualbad, verwaltet. Nein, ich träumte nicht, es war keine Vision. Ich hatte das Mädchen genau erkannt, als ich ihr Gesicht erblickt hatte. Um ganz sicherzugehen, faßte ich ihre Hand an, die, wie ich wußte, von Kind an verkrüppelt war, und überzeugte mich endgültig. Noch eine Tote erkannte ich: Es war Rika Grünblatt, die in Sered unsere Nachbarin gewesen war. Während die meisten Toten Zivilkleider anhatten, lagen auch einige in Militäruniformen am Boden, auf dem Rücken durch zwei rote breite Streifen und die schwarzen Buchstaben »SU« als sowjetische Kriegsgefangene gekennzeichnet.

In der Zwischenzeit hatte Fischl die Roste gesäubert. Alle sechs Öfen brannten, als Stark den Befehl gab, die nackten Leichen über den nassen Betonboden zu den Öfen zu schleifen. Dort ging Fischl von einem Toten zum andern und stemmte jedem mit einer Eisenstange den Mund auf. Wenn er einen Goldzahn entdeckte, riß er ihn mit einer Zange heraus und warf ihn in eine Blechbüchse. Die Toten, von allem beraubt, sollten nun Opfer der Flammen und in Rauch und Asche verwandelt werden. Stark gab den Befehl, die Ventilatoren einzuschalten. Auf einen Knopfdruck begannen sie zu rotieren. Sie wurden aber bald wieder ausgeschaltet, nachdem Stark in den Ofen geschaut und sich überzeugt hatte, daß das Feuer gut brannte. Auf sein Kommando »In den Ofen!« machte sich jeder von uns an die Arbeit, die ihm zuvor zugewiesen worden war.

Ich hatte erkannt, in welch gefährliche Lage ich geraten war. Es gab im Augenblick nur eine einzige Chance weiterzuleben, und sei es auch nur für Stunden oder Tage. Ich mußte Stark davon überzeugen, daß ich alles konnte, was er von einem Arbeiter im Krematorium erwartete. Und so führte ich wie ein Automat alle Befehle aus.

Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, begann ich, mich in der neuen Umgebung ein wenig umzusehen.

Wenn man von der Gaskammer in den Verbrennungsraum kam, standen zwei Öfen auf der linken und vier auf der rechten Seite. Zwei bildeten jeweils einen Komplex. Mitten durch den Raum war in einer Bodenvertiefung, die vielleicht ein Meter breit und 20 bis 25 cm tief war, ein Gleis verlegt. Es war ungefähr 15 Meter lang. Von ihm führten sechs Quergeleise, die etwa vier Meter lang waren, zu den Öfen.

Auf dem langen Gleis stand eine fahrbare Drehscheibe, die man hin- und herschieben konnte. Mit ihrer Hilfe war es möglich, den Rollwagen auf die Quergeleise zu rangieren.

Der gußeiserne Rollwagen hatte einen kastenförmigen Aufbau aus Stahlblech. Mit dem Aufbau war er knapp einen Meter hoch, genauso breit und vielleicht 80 cm lang. Hinten war ein eiserner Griff angebracht, der über die ganze Breite reichte. Vorn ragte die Ladepritsche aus starkem Stahlblech heraus, die knapp zwei Meter lang war. Sie hatte Seitenwände, die 12 bis 15 cm hoch waren. Die Pritsche, vorn offen, war nicht ganz so breit wie die Ofenöffnung, so daß sie in der Ofenmuffel gut Platz hatte.

Auf der Pritsche befand sich noch ein kastenförmiger Schieber aus Stahlblech. Er war ihrem Querschnitt angepaßt, war aber höher als die Seitenwände und oben abgerundet. Er war ungefähr 50 cm tief und 30 bis 40 cm hoch. Man konnte ihn auf der Pritsche leicht hin- und herschieben. Vor dem Beladen des Wagens wurde er an das hintere Ende der Pritsche geschoben.

Wenn der Rollwagen auf der Drehscheibe stand, wurde sie einfach zum nächsten Quergeleis geschoben und dann so weit gedreht, daß der Rollwagen auf das Gleis rangiert werden konnte. Dabei mußte die Drehscheibe festgehalten werden, damit der Rollwagen beim Herunterfahren nicht aus den Schienen sprang.

Zunächst wurden aus der Gaskammer Leichen in die Nähe der Öfen geschleift. Dann wurde der Rollwagen mit Hilfe der Drehscheibe vor ein Quergeleis gebracht und die Pritsche vorn mit einer Holzlatte abgestützt, damit der Wagen beim Beladen nicht kippen konnte. Nun goß ein Häftling einen Eimer Wasser auf die Pritsche, damit sie in dem glühenden Ofen nicht zu heiß wurde. Unterdessen waren zwei andere damit beschäftigt, einen Toten auf ein Brett zu legen, das neben der Pritsche auf dem Boden lag. Dann hoben sie es hoch und kippten es seitlich ab, so daß die Leiche auf die Pritsche fiel. Ein Häftling auf der anderen Seite brachte sie in die richtige Lage.

Wenn der Wagen beladen war, lagen an beiden Seiten der Pritsche zwei Tote mit dem Kopf zum Ofen, während der dritte umgekehrt zwischen diesen eingeklemmt worden war. Jetzt war es soweit, daß der Ofen geöffnet werden konnte. Glühende Hitze schlug einem entgegen.

Nachdem die Stützlatte entfernt war, packten zwei Mann vorne rechts und links die Pritsche, trugen sie bis an den Ofen und setzten sie am Rand der Muffel ab. Gleichzeitig schoben hinten zwei andere den Rollwagen und drückten so die Pritsche in den Ofen.

Die beiden, die vorne getragen hatten, waren inzwischen ein paar Schritte zurückgesprungen, stemmten sich mit den Armen gegen den Haltegriff am Wagen und drückten mit einem Bein von hinten kräftig gegen den Schieber. Auf diese Weise halfen sie mit, die Toten vollends in den Ofen zu befördern. Wenn sich der vordere Teil des Schiebers im Ofen befand, wurde der Wagen mit der Pritsche schon wieder zurückgezogen. Um zu verhindern, daß beim Zurückfahren die Fracht wieder herauskam, stieß ein Häftling eine Eisengabel von der Seite in den Ofen und stemmte sie gegen die Leichen. Während die Pritsche, die sich mit mehr als drei Viertel ihrer Länge im Ofen befunden hatte, mit dem Rollwagen auf die Drehscheibe zurückbugsiert wurde, wurde die Ofentür wieder geschlossen.

Bei einem solchen Rückfahrmanöver kniete ich bei der Drehscheibe und hielt sie mit aller Kraft fest, damit der Wagen richtig auffahren konnte. Da ich ziemlich konfus war, setzte ich die Drehscheibe nicht exakt genug an die Auffahrschiene, so daß der leere Rollwagen, als er vom Ofen zurückratterte, aus dem Gleis sprang. Ich verspürte einen stechenden Schmerz im kleinen Finger der rechten Hand und merkte, daß ich blutete. Die Wunde jagte mir einen panischen Schrecken ein. Ich erinnerte mich, als Kind irgendwann einmal gehört zu haben, daß es gefährlich wäre, mit Leichengift in Berührung zu kommen. Deshalb riß ich einen Fetzen Stoff aus meinem verschwitzten Hemd und versuchte, die Wunde damit zu verbinden. Alles andere schien mir im Augenblick unwichtig, so daß ich mich ganz auf die Wunde konzentrierte. Aber da tauchte Stark auf. Er war verärgert wegen des entgleisten Wagens und schlug auf mich ein. Ich schrie vor Schmerzen, doch mit letzter Anstrengung sprang ich auf und half mit, den Wagen wieder auf das Gleis zu stellen. Es war mir klar, daß jedes Versagen jetzt meinen sicheren Tod bedeutet hätte.

Als alle sechs Öfen beschickt waren, gingen wir in die Gaskammer zurück und machten uns wieder daran, Leichen zu entkleiden. Ich war nun ganz besonders vorsichtig und bemühte mich, jede Berührung eines Toten mit dem verletzten Finger zu vermeiden. Stark stand in der Tür, von wo aus er beide Räume beobachten konnte. Ich hatte wegen der Wunde schreckliche Angst und zog die Leichen immer schneller aus, aber doch wieder so vorsichtig, daß kein Kleidungsstück zerriß oder beschädigt wurde. Aber die Wunde an meinem kleinen Finger blutete weiter und hatte den Notverband schon völlig durchnäßt. So passierte es, daß ein Wäschestück mit etwas Blut verunreinigt wurde, als Stark gerade in meiner Nähe stand. Er hob drohend seinen Ochsenziemer und schrie mich an: »Los, die Leichen rühren!« Ich begriff zwar nicht, was er von mir wollte, rannte aber instinktiv in den Verbrennungsraum und schaute mich ratlos um. Dann kam Fischl, ging zu einem der Öfen, hob dort eine Klappe hoch und stocherte mit einer langen Gabel in dem Ofen herum. »Los, faß an«, raunte er mir zu, »stich hinein und rüttle, damit sie besser brennen! Mach schnell, sonst schlägt er dich tot!« Ich packte eine der Teufelsgabeln, stieß sie in den Ofen und rüttelte und harkte mit ihr, wie Fischl es mir gezeigt hatte, unter den brennenden, zerfallenden Leichen wie mit einem Schürhaken in einem Kohleofen herum.

Für die Verbrennung von drei Leichen hatte man höheren Ortes 20 Minuten veranschlagt, und Starks Aufgabe war es, dafür zu sorgen, daß diese Zeit eingehalten wurde. Während ich mit der Eisengabel erschöpft in den schweren, angesengten Rümpfen herumstocherte, rannten drei Häftlinge wie von Sinnen vor den Öfen herum. Sie hatten sich geweigert weiterzuarbeiten und versuchten, den Schlägen von Stark auszuweichen, der hinter ihnen herrannte. Schließlich warfen sie sich auf den Betonboden und flehten ihn an, doch Erbarmen mit ihnen zu haben und mit einer Kugel allem ein Ende zu machen. Stark trieb sie in den Raum, wo die Leichen lagen, und befahl ihnen, dort weiterzuarbeiten. Aber sie warfen sich erneut auf den Boden und achteten nicht mehr auf sein Geschrei. Stark lief rot an vor Wut, stürzte sich mit erhobener Hand auf die drei, hielt dann aber plötzlich inne und sagte ironisch: »Ihr Faulenzer, ihr werdet noch was von mir erleben!« Dann ging er, ohne noch ein Wort zu sagen, in den Verbrennungsraum zurück und gab dort den Befehl: »Los, die Leichen in die Öfen!«

Als alle sechs Öfen mit Leichen beschickt waren, wurden wir wieder in den Nebenraum gejagt, um weitere Leichen auszuziehen. Stark blieb im Verbrennungsraum. Ich versuchte, emsige Arbeit vortäuschend, neue Kräfte zu sammeln. Zwischen den Toten entdeckte ich unsere drei Kameraden, die regungslos dalagen. Zwar atmeten sie noch, aber physisch und psychisch waren sie völlig am Ende. Sie hatten aufgegeben, offenbar war für sie schon alles gleichgültig und belanglos geworden.

Auf diesem Punkt der Hoffnungslosigkeit war ich noch nicht angelangt. Natürlich machte ich mir keine Illusionen. Auch ich wußte, daß mich hier mit Sicherheit ein schlimmes Schicksal erwartete. Aber ich war noch nicht bereit, zu kapitulieren. Je mehr der Tod drohte, um so stärker wurde mein Wille zu überleben. Ich war ja noch jung. Meine Eltern, meine Familie und meine Jugend in Sered verblaßten in meiner Erinnerung. Meine Gedanken waren jetzt einzig und allein darauf gerichtet, weiterzuleben, die nächste Minute, Stunde, den nächsten Tag, die nächste Woche zu erleben. Auf keinen Fall aufgeben! Dieser Gedanke, dieses Ziel, dieser Wille hatte mich ergriffen und beherrschte mich. Der Leichenhaufen, den ich gesehen und an dessen Beseitigung ich gezwungenermaßen mitgewirkt hatte, bestärkte mich in dem Willen, alles zu tun, um nicht auf die gleiche Weise zugrunde zu gehen, nicht unter einem solchen Haufen von Leichen zu liegen und nicht auf dem Rollwagen in den Ofen geschoben, mit einer Eisengabel gestochen und schließlich in Rauch und Asche verwandelt zu werden. Nein, alles, nur das nicht! Ich wollte nur eines: weiterleben. Irgendwann und irgendwie gab es vielleicht doch die Möglichkeit, hier wieder herauszukommen. Solche Gedanken beherrschten mich. Um aber das zu erreichen, gab es nur eines: sich zu unterwerfen und jeden Befehl auszuführen. Nur mit dieser Einstellung konnte ein Mensch das schreckliche Handwerk im Krematorium von Auschwitz betreiben.

Am späten Nachmittag hatten die Flammen schon viele der Toten in weißgraue Asche verwandelt. Der größere Teil lag aber noch herum, weil in einer Stunde höchstens 54 Leichen verbrannt werden konnten, wenn in Abständen von 20 Minuten 3 Leichen in jeden Ofen kamen. Es würde schon noch eine Zeitlang dauern, bis alle eingeäschert wären, dachte ich. Doch was würde dann mit uns geschehen? Ich versuchte, dieser unangenehmen, lästigen Frage, auf die es ja keine Antwort gab, auszuweichen. Vielleicht würde darüber auch erst morgen entschieden werden. Und heute lebte ich ja noch. Das war die Hauptsache.

Während die Leichen brannten, bereiteten wir eine weitere Beschickung der Öfen vor. Immer noch arbeiteten wir nur zu viert. In höllischem Tempo hetzten wir herum, und jeder von uns mußte die Arbeit für zwei bewältigen. Es blieb keine Minute, um einmal Atem zu schöpfen. Das Gehetze hatte uns so ermüdet und abgestumpft, daß wir an einem Ofen vergessen hatten, die Ventilatoren auszuschalten, weil wir das Gedröhne gar nicht mehr bemerkten. Die Flammen waren schon so stark angefacht worden, und die Glut hatte schon eine solche Intensität erreicht, daß sich die Schamottziegel im Kamin lockerten und der Ofen durchbrannte, wobei Ziegel in den Kanal fielen, der den Ofen mit dem Kamin verband. Dadurch wurde den Flammen der Weg ins Freie versperrt. Rote Feuerzungen loderten aus dem Ofen, und im Nu war der Verbrennungsraum in einen Nebel aus dichtem, würgendem, süßlichem Qualm gehüllt. Stark rannte wie von Sinnen herum und lief schließlich hinaus in Richtung auf den runden Schornstein, in dessen unmittelbarer Nähe eine Holzbaracke stand, wo die Dienststelle der Politischen Abteilung untergebracht war. Er kam in Begleitung einiger SS-Männer zurück, die uns Anweisungen gaben, wie wir das Feuer löschen sollten. Nachdem wir einen Schlauch an einem Wasserhahn angeschlossen hatten, öffneten wir einen der Öfen und versuchten, die Flammen, die gerade die halbverbrannten Leichen beleckten, mit dem Wasserstrahl einzudämmen. Wenn dieser ins Feuer traf, zischte und prasselte es so heftig, als würde ein Stück Eis in siedendes Fett geworfen. Die Flammen verlöschten zwar, aber unter der Oberfläche schwelte die Glut weiter, und grauschwarzer Rauch drang ständig aus dem Ofen. Aus den Türritzen der übrigen Öfen pufften in Sekundenabständen explosionsartig Flammen und Qualm heraus. Stark rannte aufgeregt herum und schrie, wir sollten mit Eimern Löschwasser herbeischaffen. Dann rissen wir auch die Türen der anderen Öfen auf. Unter Schlägen, Drohungen und großem Geschrei der SS-Männer liefen wir wie scheue Pferde mit den Eimern von der Wasserleitung zu den Öfen und schütteten immer wieder Wasser auf die Brennroste. Blutig geschlagen kämpften wir noch etwa eine halbe Stunde lang mit den Flammen, bis endlich die Häftlingsfeuerwehr anrückte.

Stark rannte immer noch nervös hin und her. Von allen SS-Leuten war er am meisten aufgeregt. Vielleicht fürchtete er, daß man ihn wegen des Brandes zur Verantwortung ziehen würde.

Plötzlich schreckten mich ein paar Schüsse aus dem Nebenraum auf, wo die drei Häftlinge, die sich geweigert hatten weiterzuarbeiten, noch am Boden lagen. Als ich durch die halbgeöffnete Tür hinüberblickte, sah ich, daß man sie erschossen hatte.

Am Abend gelang es schließlich, den Brand zu löschen. Das Krematorium war nun natürlich nicht mehr betriebsfähig. Die Öfen rauchten noch schwach, und man konnte in ihnen noch Reste von verkohltem, angesengtem Fleisch erkennen, das durch nichts mehr an Menschen erinnerte. Wir standen bis zu den Knöcheln im Wasser, und Rauch zog noch immer durch die Fenster und Türen des Krematoriums ins Freie. Auch der Raum, wo die Leichen lagen, war noch voller Qualm, da bei den Löscharbeiten der Ventilator an der Decke beschädigt worden war. Wir Häftlinge waren völlig abgestumpft, gleichgültig sogar gegenüber dem Schicksal, das jetzt vielleicht auf uns wartete. Das war gut, denn sonst wären wir vielleicht auf den Gedanken gekommen, daß jetzt, wo die Öfen kaputt waren, auch wir überflüssig geworden waren. Vielleicht hätte man uns noch die restlichen Toten ausziehen lassen, aber was dann?

Es herrschte jetzt eine merkwürdige Atmosphäre. Niemand schrie, niemand schlug uns. Wir saßen wie Delinquenten, die auf ihre Hinrichtung warten, in einer Ecke des Verbrennungsraums, ohne daß sich jemand um uns kümmerte. Der Abend brach herein. Glühbirnen schimmerten matt durch das neblige Grau und erinnerten an die Friedhofskerzen zu Allerseelen. Die schwarze, kunstgeschmiedete Laterne über dem Eingang zum Krematorium verbreitete ein schummriges Licht und umriß die Konturen des Rebenlaubes, der grauen Wand und der massiven Tür. Ein nichtsahnender Beobachter hätte hinter der freundlichen Fassade des Eingangs vielleicht einladende Räume vermutet. Kein Fremder hätte geglaubt, daß hinter dieser Tür das Inferno begann.

Auch die drei neuen Kameraden, die jetzt kamen, hatten sicher nicht geahnt, wohin sie geraten würden, als sie durch dieses romantisch wirkende Tor gingen. Wie wir am Nachmittag, so waren sie jetzt von SS-Posten hierhergebracht worden, um den Platz der drei erschossenen Häftlinge einzunehmen. Das bedeutete aber, daß man auch uns noch brauchte. Ich schöpfte daher wieder neue Hoffnung.

Am späten Abend rollte ein Lastwagen, mit einer Plane abgedeckt, im Rückwärtsgang durch das Tor auf den Hof des Krematoriums. Eine Weile später erschien eine Gruppe von SS-Führern auf dem Hof. Unterscharführer Stark und seine Spießgesellen standen stramm, rissen den rechten Arm hoch und riefen zackig: »Heil Hitler!« Nach einer kurzen Meldung befahl man uns, die übriggebliebenen Leichen, die inzwischen alle entkleidet worden waren, auf den Lastwagen zu laden.

Maurice und ich schleiften die Toten über den glitschigen Betonboden des Krematoriums nach draußen. Dort packten wir sie an Händen und Füßen und warfen sie mit Schwung auf den Lastwagen. Oben wurden sie von Schwarz und Fischl wie Holzscheite aufeinandergeschichtet. Das alles geschah in einem irrsinnigen Tempo unter großem Geschrei der SS-Männer, denen es nicht schnell genug ging. Unsere neuen Kameraden waren völlig verstört und hatten noch Hemmungen, die glitschigen Leichen anzufassen. Die nassen Arme und Beine entglitten ihnen öfters, so daß die Toten dann auf den Boden fielen. Die SS-Leute reagierten darauf mit Schlägen und Geschrei. Als zwei Neulinge zu Boden gingen, gab es eine üble Schimpferei: »Wenn ihr blöden Hunde die Öfen kaputtmacht, dann muß es eben anders gehen! Rauf mit den Leichen, los, los, dalli, dalli, sonst reiß ich euch den Arsch auf!« Am lautesten krakeelte der kleine SS-Führer, den ich am Nachmittag auf dem Hof von Block 11 bei den Teebottichen gesehen hatte. Seine heisere, rauhe Stimme verriet den Alkoholiker. Breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, stand er da, den Oberkörper etwas nach vorn gebeugt, und verfolgte unsere Arbeit. Ab und zu wandte er sich an die SS-Führer und Unterführer, die um ihn herumstanden, und redete mit wichtigtuerischen Gebärden auf sie ein. Später erfuhr ich, daß es Aumeier war, der Lagerführer des Stammlagers. Neben ihm stand der Chef der Politischen Abteilung der Gestapo, SS-Untersturmführer Max Grabner.

Der Lastwagen war inzwischen so voll beladen, daß die Leichen schon über die seitlichen Klappen des Laderaums hinausragten. Zwei von uns sprangen herunter, hoben die hintere Klappe hoch und machten den Kasten zu. Dann zurrten sie die Plane darüber, so daß man von der Fracht nichts mehr sehen konnte. Nachdem die Ladung so gesichert und getarnt war, daß das Fahrzeug keine Aufmerksamkeit mehr erregen konnte, fuhr der Wagen aus dem Hof des Krematoriums und wurde unweit des SS-Lazaretts am Straßenrand abgestellt.

Es war vielleicht kurz vor Mitternacht, als wir das vierte und letzte Auto beladen hatten. Hinten, zwischen den Toten, war noch ein kleines Plätzchen frei. Dort drängten wir uns hinein. Zusammengepfercht lehnten wir uns gegen die Toten wie gegen eine Wand. Bevor die Lastwagen abfuhren, bekamen wir von einem SS-Mann noch Brotrationen. Wie hungrige Wölfe verschlangen wir das Brot, ohne uns darum zu kümmern, daß unsere Hände mit Blut und Unrat besudelt waren. Der Hunger hatte uns gelehrt, Brot zu schätzen. Sein bloßer Anblick ließ uns alles andere vergessen.

Stück für Stück brach ich davon ab, speichelte es langsam ein und kaute es bedächtig wie eine Delikatesse. Dabei merkte ich gar nicht, daß sich unser Auto schon in Bewegung gesetzt hatte. Erst Lichtstrahlen, die durch die Zeltplane drangen, machten mich darauf aufmerksam. Ich war neugierig und schob die Plane etwas beiseite. Das Licht kam von den Scheinwerfern eines Personenwagens, der hinter uns herfuhr. Seine Insassen sollten wohl aufpassen, daß keiner von uns in der Dunkelheit zu entkommen versuchte. Offenbar hatte man unsere Energien überschätzt. Aber wir waren so niedergeschlagen und entkräftet, daß in diesem Augenblick keiner an Flucht auch nur dachte.

Durch eine Ritze zwischen Ladeklappe und Plane beobachtete ich, daß wir durch eine kleine Stadt fuhren. Hin und wieder ging ein einsamer Passant auf der Straße. Vermutlich fuhren wir durch Auschwitz. Der Motorenlärm der vier Lastwagen hallte durch die stillen und leeren Gassen. Als der gespenstische Konvoi an den letzten Häusern vorbeigerollt war, führte der leicht ansteigende Weg über ein Bahngleis. Dann bogen wir in einen Feldweg ein. Stöße und das Hin- und Herschaukeln des Autos zeigten an, daß wir über einen holprigen Weg fuhren. Als ich mich einmal umdrehte, bemerkte ich, daß die Leichen hinter uns in Bewegung geraten waren. Die Toten, die oben lagen, stießen gegeneinander. Durch die schaukelnde Fahrt über das unebene Gelände war die schaurige Ladung ins Schwanken geraten. Sie hob und senkte sich, so daß es schien, als wären die Toten wieder zum Leben erwacht. Als der Fahrer in einer Kurve plötzlich abbremste, um dann ruckartig wieder anzufahren, rutschte die obere Schicht der Toten in den hinteren Teil des Laderaums und stürzte auf uns herab. Dutzende steifer Leichen fielen wie Balken auf uns und drückten uns auf den Boden der Ladefläche. Dort lag ich jetzt auf dem Bauch; alle Versuche, mich freizumachen, waren vergebens. Mit jedem Stoß verstärkte sich der Druck, und ich bekam kaum noch Luft. Ich rief um Hilfe, aber meine Stimme ging unter im Lärm des Motors und dem Knarren der Karosserie. Meinen sechs Kameraden ging es nicht anders. Wir gaben den vergeblichen Kampf mit den glitschigen, steifen Leichen auf, die von allen Seiten auf uns gestürzt waren, als wollten sie uns unter sich begraben und mit in den Tod reißen.

Endlich hielt der Lkw an. Ein SS-Mann schrie: »Los! Los! Habt ihr nicht gehört! Runter vom Wagen! Los! Raus! Etwas Bewegung!« Die Toten, die auf uns lagen, ließen diese Drohungen kalt, und wir konnten uns nicht vernehmlich machen. Erst als die Scheinwerfer des Wagens, der hinter uns gefahren war, das Heck unseres Lastwagens anstrahlte, konnten die SS-Männer wohl ahnen, was passiert war. Nachdem sie die Ladeklappe heruntergelassen und einige Leichen vom Wagen geworfen hatten, konnten wir uns befreien. Jede Bewegung verursachte mir Schmerzen, ich glaubte, ich hätte alle Rippen gebrochen. Auch meine Kameraden stöhnten. Wir saßen auf der Erde und schnappten nach Luft. Ein paar Schritte weiter standen die bis unter die Planen beladenen Lastwagen und ein Sanitätswagen, der auf allen Seiten mit dem Emblem des Roten Kreuzes bemalt war. Seine Scheinwerfer beleuchteten eine verhältnismäßig große Fläche, in deren Mitte sich eine tiefe, ovale Grube befand. Auf ihrem Grund hatte sich eine Wasserlache gebildet, in der sich der Mond spiegelte. Die Ränder der Grube waren von Aufschüttungen aus lockerem, nicht festgestampftem Lehm umsäumt, ein untrüglicher Beweis, daß es noch nicht lange her war, seit man sie ausgehoben hatte. Den Gesprächen der in der Nähe palavernden SS-Leute entnahm ich, daß Grundwasser in die Grube eingesickert war. Man war sich offenbar noch nicht klar, ob sie für den Zweck geeignet war, für den man sie hatte ausheben lassen. Die SS-Männer besichtigten eingehend die Erde an den Rändern, dann wurde einer von ihnen an einem Seil die Grubenwand hinuntergelassen. Dort stellte er fest, wie hoch das Grundwasser stand; dann kletterte er wieder herauf und teilte das Ergebnis seiner Beobachtungen den andern mit, die nun erneut über das Grundwasser diskutierten.

Meine Müdigkeit war größer als meine Neugier. Die Beratungen der SS-Leute boten eine unerwartete Gelegenheit, sich auszuruhen. Ich hörte auf, mich weiter für das, was um mich herum vorging, zu interessieren, legte mich auf den Boden und schlief ein.

Durch die Geräusche von Autos, die sich näherten, wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Eine Gruppe von SS-Führern mit dem Lagerführer Aumeier und dem Gestapochef Grabner an der Spitze stieg aus. Sie liefen schnurstracks auf die beleuchtete Grube zu, betrachteten und prüften sie von allen Seiten und palaverten dann eine Zeitlang. Dann forderte man uns auf, die Leichen in die Grube zu werfen. Während Fischl und Schwarz sie vom Wagen herunterwarfen, schleiften sie die drei französischen Kameraden an den nahen Rand der Grube. Dort standen Maurice und ich bereit. Wir packten die Toten an den Händen und Füßen und warfen sie mit Schwung möglichst weit zur Mitte der Grube hin. Sobald sie klatschend auf die Wasserfläche fielen, spritzte es nach allen Seiten. Danach lief das Wasser, wenn sie wie Mühlsteine auf den flachen Grund sanken, über ihnen zusammen. Allmählich verließen uns die Kräfte, und die letzten Leichen aus dem ersten Lastwagen brachten wir gerade noch über den Rand der Grube. Als die SS-Leute sahen, daß wir beide mit unseren Kräften am Ende waren, ließen sie uns ablösen. An unsere Stelle traten jetzt die neuen Kameraden aus Frankreich.

Der Morgen graute schon, als wir in das Lager zurückkehrten. Alle schliefen noch. Hunderte von Glühbirnen, die an den Betonpfeilern des Stacheldrahtzaunes hingen, umsäumten die Lagerstraße, auf der kein Mensch zu sehen war. Nur das Klappern unserer Holzpantinen hallte durch die gespenstische Stille und Leere. Der Anblick der uns umzingelnden endlosen, aus Stacheldraht gebildeten Parallelen mit Warnschildern »Achtung, Lebensgefahr!«, auf die Totenköpfe mit gekreuzten Gebeinen gemalt waren, der Blick auf die Wachttürme mit den drohend auf uns gerichteten Mündungen der Maschinengewehre, die unwirtlichen Häftlingsblocks aus roten Ziegelsteinen, all das konnte einen in einen Zustand völliger Hoffnungslosigkeit und grenzenloser Verzweiflung versetzen. Viele wählten daher, wenn sie ihre Lage erkannt hatten, den Freitod. Auch jetzt, als wir ins Lager einrückten, lagen wieder einige Tote in der »verbotenen Zone«, »im Todesstreifen«, wie das Terrain entlang der mit Starkstrom geladenen Drähte genannt wurde. »Er ist in den Draht gegangen«, sagte man im Lagerjargon, wenn ein Häftling entweder durch einen Stromstoß oder, noch bevor er den Draht erreicht hatte, von einer Maschinengewehrgarbe von seinen Leiden erlöst wurde.

Die SS-Männer führten uns zum Block 11, dessen Eingangstür im Gegensatz zu den übrigen Häftlingsunterkünften abgeschlossen war. Einer der Posten stieg die Treppen hinauf und läutete. Oberscharführer Plagge schloß auf und ließ uns ein. Während er zu dem Labyrinth von Kerkerzellen im Keller des Blockes hinunterstieg, wurde die nächtliche Ruhe nur durch das Gerassel seiner Schlüssel gestört. Das Schloß knarrte, als Plagge die eiserne Gittertür aufschloß, durch die wir in den mittleren Gang gelangten. Aus ihm schlug uns eine Wolke würgenden Gestanks entgegen. In dem funzligen Licht hoben sich die mit Kalk geweißten Wände von dem schwarzen, geölten Fußboden des Ganges ab, in dem sich die Gefangenenzellen befanden. Die Zelle, in die wir von Plagge getrieben wurden, hatte weder ein Fenster noch irgendeine Lüftung. Sie war drei Schritte lang und ebenso breit. Nachdem unser Aufseher die eisenbeschlagene Zellentür wieder abgeschlossen hatte, ging auch das Licht aus. Todmüde ließen wir uns auf den Boden fallen, wo wir sofort vom Schlaf überwältigt wurden. Erst jetzt war dieser folgenschwere Tag für mich zu Ende gegangen.

Als ich aufwachte, mußte es schon längst Tag sein. Ich entnahm das den Stimmen, die von draußen zu uns drangen; denn in unserer Zelle, in die sich auch nicht der kleinste Lichtstrahl verirren konnte, gab es keine Zeitorientierung. In dieser Abgeschiedenheit kam mir sogar das Leben im Lager wie eine Oase der Freiheit vor.

Wir schlugen in der Zelle das Wasser ab wie Tiere in einem Stall, denn in der Dunkelheit hatte keiner bemerkt, daß neben der Tür ein Eimer mit einem Holzdeckel stand. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper, die mir jede Bewegung zur Qual machten. Dazu plagte mich unerträglicher Durst, der mich fast um den Verstand brachte.

Das Gerassel von Schlüsseln, das Öffnen der Gitterverschläge, das Aufschließen der Zellen, die Schritte der Aufseher, all das erzeugte in den Zellen eine fast unerträgliche Spannung. Denn keiner wußte, was es bedeutete, wenn die Zelle aufgeschlossen wurde. Es konnte sein, daß man in die ersehnte »Lagerfreiheit« zurückgelangte, es konnte aber auch sein, daß man auf den Hof hinausgeführt und an der schwarzen Wand mit einem Genickschuß erledigt wurde. Noch schlimmer war vielleicht ein Verhör bei der Politischen Abteilung der Gestapo, das fast immer mit grausamen, lange dauernden Folterungen verbunden war.

Wir hingegen registrierten jedes Geräusch und Lebenszeichen von draußen als ein gutes Omen. Doch vergebens warteten wir darauf, hinausgelassen zu werden. Man ließ uns einfach hier drinnen, in Unsicherheit, in absoluter Finsternis, schlimmer als Vieh. Endlich, nach langem Warten, ging das elektrische Licht an. Die Tür wurde aufgeschlossen, Schlage tauchte auf und jagte uns aus der Zelle auf den Gang. Dort wartete schon ein SS-Mann, der uns zum Haupttor führte. Es war offenbar schon Mittag, denn die Stubendienste trugen aus dem nahegelegenen Küchengebäude Kessel mit Rübensuppe heraus. Sie hingen an langen Stangen, die sich unter der Last durchbogen. Auf der Lagerstraße, die im Schein der Sonne lag, wimmelte es von Häftlingen. Obwohl auch sie hinter Stacheldraht lebten, kamen sie mir wie frei vor, und ich beneidete sie. Einige von ihnen wandten sich uns zu, als ob sie uns ansprechen wollten, führten ihr Vorhaben aber nicht aus, als sie auf unseren Händen und in unseren Gesichtern verkrustetes Blut, Schlamm und Dreck bemerkten. Fast alle gingen weiter, ohne uns zu beachten. Offenbar knurrte ihnen der Magen, so daß ihr Interesse mehr auf das unmittelbar bevorstehende Ritual der Suppenausgabe gerichtet war.

Vor dem Tor wartete ein grüner Sanitätskraftwagen auf uns. Wir stiegen ein und fanden einen Kessel voll dampfender Suppe vor. Es waren vielleicht fünfundzwanzig Liter, etwa drei Liter für jeden von uns. Als wir uns den Magen mit der dünnen Steckrübenbrühe vollgeschlagen hatten, wandte ich mein Augenmerk der Umgebung zu. Die Sonne stand gerade im Zenit und strahlte auf eine flache Landschaft, in der weder ein Baum noch ein Strauch zu sehen war. Die Fahrt ging vorbei an Mooren und morastigen Wiesen, die vereinzelt von gelb- und auch rotgefärbter, lehmiger Erde durchzogen waren. Wohin das Auge auch blickte, überall dehnte sich eine öde, trostlose, wie tot scheinende Landschaft aus. Nur weit in der Ferne zeichnete sich am Horizont schwach die Silhouette der Beskiden ab. Es erschien mir unwirklich, daß dahinter, nur ein paar Stunden Bahnfahrt entfernt, meine Heimatstadt Sered lag. Dort hatte ich zwanzig Jahre meines Lebens verbracht, bis man mich vor etwas mehr als einem Monat hierher deportiert hatte. Doch schon diese kurze Zeit kam mir vor wie eine Ewigkeit.

Als der Sanitätswagen anhielt, riß ein SS-Mann die Tür auf und befahl uns auszusteigen. Wir setzten uns auf die Erde, während die SS-Leute um uns herumstanden. Neben dem in der Nähe aufgeworfenen Lehm tuckerte eine Motorpumpe. Aus mehreren Schläuchen ergoß sich Wasser auf die umliegenden Felder. Hinter der Lehmaufschüttung war unschwer die Grube zu erkennen, in die wir während der vergangenen Nacht die Leichen geworfen hatten.

Aus den Blicken, die wir uns gegenseitig zuwarfen, sprach Angst. SS-Männer in hohen Gummistiefeln hantierten an den Pumpen herum. Einige schraubten Dichtungen fest und verlegten Schläuche, andere standen breitbeinig auf dem aufgeworfenen Lehmdamm und beugten sich immer wieder, die Hände in die Hüften gestemmt, über den Rand der Grube, um den Pegelstand des Wassers auf dem Grund der Grube zu beobachten. Ein Uneingeweihter hätte sie vielleicht für Feuerwehrleute oder für Fischer halten können, die gerade einen Teich abließen. Mir war klar, daß uns nichts Gutes erwartete, wenn die Motoren der Pumpe abgeschaltet und das Wasser aus der Grube abgesaugt sein würde. Vielleicht würden wir am Ende selbst die oberste Schicht der Toten in der Grube bilden. Wieder überkam mich jenes beklemmende Gefühl der Angst, gegen das ich nichts tun konnte. Ich suchte nach irgend etwas, was mich hätte beruhigen können. Ich rief mir bedeutende und vorbildliche Menschen ins Gedächtnis, die auch hatten sterben müssen, und dachte daran, daß es vor dem Tod kein Entrinnen gab. Die lähmende Untätigkeit brachte mich auch auf den Gedanken, daß der Tod zwangsläufig Teil des Lebens eines jeden Menschen sei und irgendwann einmal eintreten müsse. Solche Erwägungen vermochten jedoch meine Angst nicht zu verdrängen. Daß ich unter ihr litt, bewies eigentlich nur, daß immer noch ein unbeugsamer Lebenswille in mir steckte.

Als die Motoren der Pumpen verstummt waren, führten uns bewaffnete SS-Posten zu der Grube. Bei Tageslicht sah alles ganz anders aus. Die Grube war nicht einmal zur Hälfte mit einigen hundert nackten Leichen angefüllt. Ihre glotzenden, pflaumengroßen Augäpfel waren aus den Höhlen herausgetreten, die geschwollenen Lippen wie von einer blauroten Membrane überzogen. Die unbeschreibliche, grausige Erscheinung des Todes faszinierte und zog mich geradezu an, als gehörte ich dazu. Bevor wir jedoch Zeit fanden, dieses grausige Bild, das sich uns bot, richtig in uns aufzunehmen, hagelte es schon Schläge, begleitet von lautem Geschrei: »Los! Rein in die Grube, ihr Scheißer! Los! Los! Die Leichen auf einen Haufen in die Mitte der Grube ziehen!«

Von Schlägen getrieben, sprangen wir über den Aushub hinweg in die Grube hinunter, mitten unter die Toten. Ich versank in schmierigem, lehmigem Schlamm, in dem meine Holzpantinen nach den ersten Schritten steckenblieben. Man forderte uns auf, die Toten, die am Rand der Grube lagen, in die Mitte zu schleifen. Das taten wir unter ständigen Drohungen der SS-Leute, die oben am Rande der Grube herumstanden. Sie hatten ihre Pistolen gezogen und fuchtelten damit herum, um ihren Drohungen Nachdruck zu verleihen. Mühsam watete ich durch den Schlick am Rande der Grube, wo eine tote Frau lag. Aber ihre glitschige Hand, an der ich sie in die Mitte der Grube schleifen wollte, entglitt mir. Ich rutschte aus, fiel mit dem Gesicht in den Schlamm und kam nur mit Mühe wieder hoch. Ich hatte die Lippen fest aufeinandergepreßt, wischte die Augen und schlug dann vorsichtig die dreckverklebten Augenlider auf. Meinen Kameraden erging es nicht anders. Auch sie waren vom Schlamm in der Grube völlig verdreckt.

Zwei von den SS-Leuten ließen sich nun in die Grube abseilen, während oben Lagerführer Aumeier, Lagerführer Schwarzhuber und der Gestapo-Chef Grabner wie aufgescheuchte Hühner hin- und herliefen. Sie beratschlagten, fuchtelten mit den Händen, schrien und stießen immer neue Drohungen aus: »Wenn ihr das nicht schafft, ihr Drecksäcke, könnt ihr was erleben!«

Die Toten ließ dieses Geschrei kalt. Ihnen war es egal, wo sie lagen, ob oben oder unten, am Rand oder in der Mitte der Grube, es interessierte sie auch nicht mehr, ob wir wegen ihnen Schwierigkeiten hatten, weil sie uns aus den Händen glitten und wir uns abmühten, ihre glitschigen, nassen Leiber in den Schlamm dieses Abgrunds des Todes zu werfen.

Das Wasser in der Grube begann wieder zu steigen. Der zunächst teigige Schlamm verwandelte sich mehr und mehr in einen dünnen Brei, der uns die Arbeit zusätzlich erschwerte. Zwei unserer Kameraden konnten schon nicht mehr. Sie lagen völlig erschöpft am Rande der Grube. Dort versuchten sie ein wenig zu verschnaufen und neue Kräfte zu sammeln. Das Gesicht des einen war von einer grauen Schlammschicht verkrustet.

Trotzdem konnte man immer noch eine schwarze Klappe erkennen, die seine leere Augenhöhle verdeckte. Auf der andern Seite der Grube jammerte ein junger Student aus Paris, der offenbar ausgerutscht war, Wasser geschluckt hattte und nun hustete, als wäre er am Ersticken. Die herumstehenden SS-Männer versuchten, die beiden zur Arbeit anzutreiben, und schrien: »Los, dalli, dalli! Rappelt euch auf, ihr Scheißer! Weitermachen!« Aber die beiden reagierten nicht mehr, alles was um sie herum vorging, war ihnen schon egal.

Aumeier hatte das Geschehen aus der Distanz beobachtet. Er mischte sich nun auch ein und brüllte: »Macht doch diese Scheißkerle endlich kaputt!«

Seine Unterführer ließen sich das kein zweites Mal sagen und zogen ihre Pistolen. Nach ein paar gezielten Schüssen sackten die Körper der beiden langsam in sich zusammen. Auf dem Grunde der Grube hinterließ ihr Blut rote Rinnsale im Grundwasser.

Jetzt waren wir noch fünf und schleiften immer noch die verstreut herumliegenden Leichen ins Innere der Grube, wo sie so etwas wie eine Pyramide bildeten, die wie eine Insel aus dem schlammigen und dreckigen Grundwasser herausragte.

Als nach Stunden unsere Arbeit in der Grube beendet war, kletterten wir heraus. Hunderte von Armen, Beinen, leblosen Gesichtern und ineinanderverschlungenen Gliedern starrten uns wie eine gräßliche Laokoongruppe an. Dann gab jemand den Befehl, das Massengrab zu desinfizieren. Mit den Händen schöpften wir aus einem bereitgestellten Holzbottich pulverisierten Chlorkalk und streuten ihn auf die Kadaver in der Grube. Er wurde uns vom Wind ins Gesicht geblasen, so daß unsere Augen brannten und wir sie kaum noch offenhalten konnten. Aber die Arbeit ging weiter. Auch nur einen Augenblick lang zu verschnaufen hätte das sichere Ende bedeutet. Das war jedem klar, der das hysterische Geschrei der SS-Leute hörte, die um uns herumstanden. Zum Glück legte sich der Wind. Der weiße Staub auf den Toten war jetzt grau geworden. Ich spürte, wie der ätzende Chlorgeruch die vom Hauch der Verwesung erfüllte Luft durchdrang. Von oben warfen wir dann mit Schaufeln Lehm in die Grube, um die Leichenpyramide, aus der da und dort noch reglose Glieder herausragten, unsichtbar zu machen. Das alles geschah in irrsinniger Hetze unter unaufhörlichem Geschrei und ständigen Drohungen der SS-Leute, denen wir die Spuren ihrer Verbrechen nicht schnell genug verwischten. Ihr Anführer Aumeier sagte es klipp und klar: »Man sieht, daß ihr nie richtig gearbeitet habt. Jetzt ist aber endgültig Schluß mit eurem Geschacher!« Aber auch diese Drohung blieb für uns ohne Nachhall, wir waren schon zu sehr erschöpft. Wenn ich daran dachte, welch kleinen Teil der großen Grube wir erst zugeschüttet hatten, hätte ich verzweifeln können. Die Leichen waren zwar schon nicht mehr zu sehen, weil sie mit einer dünnen Schicht Erde oberflächlich bedeckt waren. Es schien, als ob die uniformierten Totengräber für heute genug hätten. Sie rüsteten sich zum Aufbruch, nachdem eine andere Gruppe von bewaffneten SS-Männern erschienen war, um rings um das Massengrab Posten zu beziehen.

Völlig durchnäßt, barfuß, von Schlamm und Blut verschmutzt, stiegen wir in den Ambulanzwagen. Das Emblem des humanitären internationalen Roten Kreuzes wirkte grotesk. Mußten wir bei seinem Anblick doch davon überzeugt sein, daß es keine Macht der Erde gab, die diesem teuflischen Spuk hätte ein Ende machen können. Der Lebensfunke, der noch in uns glühte, war schwächer geworden nach dem, was wir erlebt hatten.

Durch die Fenster des Ambulanzwagens, der durch die Abenddämmerung fuhr, war nichts zu erkennen. Ich hatte mich ermattet auf die Planken des Fahrzeugs niedergelegt. Im Halbschlaf war ich in Sered an der Waag. Ich sah den hageren Kommandanten der slowakischen Hlinka-Garde wieder, wie er gutmütig zu uns sagte: »Ihr fahrt jetzt nach Osten! Dort könnt ihr euch eine neue Heimat aufbauen. Ihr braucht keine Angst zu haben. Wir behandeln euch menschlich, und dort wird es genauso sein. Jeder von euch wird tun, was er kann. Der Schuster wird Schuhe machen, der Schneider Anzüge und Kleider, und die Ärzte werden die Kranken behandeln. Vor allem, ihr seid dort unter euch! Wer gesund ist und die Arbeit nicht scheut, dem wird es auch dort gutgehen. Von Zeit zu Zeit werden wir euch besuchen, nach dem Rechten sehen und uns vergewissern, wie ihr dort lebt.« Nach dieser Ansprache waren wir auf dem Rangiergeleise des Bahnhofs von Sered in die bereitgestellten Güterwaggons eingestiegen. Der Häuptling der Hlinka-Gardisten – einer Art slowakischer SS –, auf dessen Uniformärmel ein Doppelkreuz, das Emblem des neuen slowakischen Staates, prangte, hatte uns beim Abschied noch wohlwollend zugewinkt und »Glückliche Reise!« zugerufen.

Unser Ambulanzwagen hielt vor dem Lagertor mit der Inschrift »Arbeit macht frei« und warf mich in die harte Wirklichkeit zurück. Die Posten eskortierten uns wieder durchs Tor, führten uns den Lagerweg entlang, der sich zwischen den zweistöckigen Häftlingsblocks aus roten Ziegelsteinen hinzog. Vor Block 11, dessen unterirdischer Kerker uns schon in der vergangenen Nacht zur Wohnung geworden war, blieben wir stehen. Oberscharführer Engelschall, der gerade Dienst hatte, jagte uns in unseren finsteren Koben. Auf dem Boden lagen in einer Reihe sieben Portionen Brot, auf jeder ein Harzer Käse, aber nur drei Portionen Tee in rotemaillierten Blechschalen. Engelschall erschien uns in diesem Augenblick menschlicher als seine Kollegen, denn als er die Tür unserer Zelle abschloß, ließ er das Licht brennen. So konnten wir wenigstens richtig essen. Wir fanden das »anständig« von ihm. Zuerst stürzten wir uns wie Wölfe auf das Brot und den Käse. Als es dann an das Trinken ging, wurde es schwierig. Drei Schalen Tee waren da, und wir waren fünf. Fischl, der stärkste von uns, hob eine davon hoch und zeigte mit dem Finger an, bis zu welchem Pegel jeder trinken durfte. Da ich der Jüngste war, bekam ich aus jeder Schale den Rest. Als der Tee alle war, lagen die beiden Brotportionen, die für unsere erschossenen Kameraden bestimmt waren, noch unberührt auf dem Boden. Fischl brach sie mit peinlicher Genauigkeit in möglichst gleiche Teile und verteilte sie dann. Ausgehungert, wie wir waren, verschlangen wir das Brot. Währenddessen hatte Fischl wie aus heiterem Himmel begonnen, ein Gebet zu murmeln. Dabei blickte er zu der niedrigen Decke empor, als ob er den Himmel sähe, rief Gott an, neigte sich in regelmäßigem Rhythmus vor und zurück, wendete sich nach rechts und links und betonte in seinem unverständlichen Gemurmel irgendwelche Worte, denen ich betroffen entnahm, daß er den Kaddisch sprach. Plötzlich, als wäre er aus einer Trance erwacht, starrte er uns wie geistesabwesend an. Als er sah, daß wir am Essen waren, während er inbrünstig betete, schlug er mit den Fäusten auf uns ein und schrie erregt: »Ihr Hurensöhne, fressen, das könnt ihr, aber dawenen für die Tojten, deren Brojt ihr freßt, tuts nischt!« Dann geriet er wieder in Ekstase. Er hob seine großen, blutunterlaufenen Augen zum Himmel empor und beendete sein Gebet mit den Worten: »Oseh scholom bimromov Hu jaaseh scholom olenu weal Kol – Jisroel weimru Omen. – Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns in ganz Israel, sprechet Amen.«

Fischl, unser Vorarbeiter, ein untersetzter, muskulöser Mann, blickte nun etwas zufriedener drein. Ich sah Tränen in seinen Augen. Eine Weile später, wie wenn sich ein Krampf, der seine Kehle zuschnürte, gelöst hätte, sagte er demütig: »Der Mensch unterscheidet sich dadurch vom Tier, daß er an Gott glaubt.« Seine letzten Worte an diesem Tag, bevor er sich hinlegte, lauteten: »As men dawent, is man a Mensch. E gite Nacht, Jiden!«

Damit war ein weiterer schwerer Tag zu Ende gegangen. In unseren verdreckten Monturen legten wir uns auf den Boden und waren im Nu eingeschlafen. Als Engelschall am nächsten Morgen die Tür aufschloß, lagen wir wie schlammverkrustete Nilpferde da und schnarchten. Wir mußten schlimm ausgesehen haben, denn Engelschall herrschte uns an: »Marsch, in den Waschraum mit euch Schweinen!« Verschlafen wankten wir auf den Gang, von wo er uns zum Waschraum im Erdgeschoß hinaufführte. Durch das Fenster, das auf den Hof hinausging, erkannte ich den »Sportplatz«, der jetzt öd und leer dalag.

Im Waschraum war es ziemlich kalt. Aus den Wasserhähnen, die über dem gußeisernen Waschtrog aus der Wand ragten, floß erstaunlicherweise tatsächlich Wasser. Eine seltene Gelegenheit, unseren Durst einmal richtig zu löschen. Ich drehte den Hahn auf und trank so gierig von dem Wasserstrahl, daß ich fast erstickt wäre. Dann zogen wir uns aus, legten die verdreckte Kluft und die schmutzige Wäsche auf den Betonboden und versuchten, unsere Dreck- und Schlammkruste abzuwaschen. Nach dem Duschen bekam jeder eine neue, gestreifte Häftlingsmontur und ein frisches Hemd. Damit kehrten wir in die Unterwelt zurück. Diesmal jedoch nicht in unser dunkles, muffiges Verlies, sondern in die Zelle 13, wo es sogar Tageslicht gab. Es fiel durch ein Fenster, das auf den Hof des Hinrichtungsblocks hinausging, aber von allen Seiten so ummauert war, daß nur senkrecht von oben Licht hereindrang, man also nicht sehen konnte, was draußen auf dem Hof vorging. Wir legten uns auf den Boden, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Wir fragten uns, was es wohl zu bedeuten hatte, daß man uns saubere Monturen und sogar ein wenig Tageslicht hatte zukommen lassen. Fischl schrieb diese offenkundige Wende zum Besseren seinen Gebeten und dem Gott Zebaoth zu. »Der Schemisborah werd schojn helfen! Men darf, Jatten, dawenen – Gott wird schon helfen! Man darf, Burschen, beten!« Nach diesen Worten erhob er sich, wandte sich mit dem Gesicht dem Fenster zu und begann, das Morgengebet zu murmeln, zu dem jeder fromme Jude Tefilim, das sind lederne Gebetsriemen, anlegen muß. Da Fischl keine hatte, ahmte er das Umwickeln durch Gesten mit einer solchen Geschicklichkeit nach, wie ich sie vergebens zu erlernen mich bemüht hatte, als unser Rabbiner mich als Dreizehnjährigen auf meine Einsegnung, die Bar Mizwah, vorbereitete.

Wenn Fischl betete, gab er uns mit der Hand ein Zeichen zum Aufstehen, und jedesmal, wenn er nach einem bestimmten Abschnitt des Gebetes mit dem Kopf nickte, antworteten wir ihm: »Omen!« Es schien mir unsinnig, in Auschwitz zu beten, und absurd, hier noch an Gott zu glauben. In jeder anderen Situation und an jedem anderen Ort hätte ich Fischl, diesen eigenwilligen, in vielem abstrusen Mann, nicht ernst genommen. Aber hier, an der Markscheide von Leben und Tod, folgten wir gefügig seinem Beispiel, weil uns nichts anderes mehr blieb oder weil wir fühlten, daß sein Glaube uns stärkte.

Unser isoliertes Leben ging auch in der Zelle 13 weiter. Wir waren jetzt, ohne es zu wissen, »Geheimnisträger« geworden und durften deshalb mit anderen Häftlingen und auch mit uneingeweihten SS-Männern nicht mehr in Berührung kommen. Aus diesem Grund traten wir auch nicht mit den übrigen Häftlingen im Block zum Zählappell an; wir wurden vielmehr auf einer besonderen Häftlingsliste geführt, in der wir nur nach der Nummer unserer Zelle verzeichnet waren. In den nächsten Tagen ging die Zellentür regelmäßig dreimal am Tag auf, wenn Essen ausgegeben wurde. Zur Arbeit wurden wir nicht gerufen, es war, als hätte man uns vergessen. Dabei herrschte im Untergeschoß des Blockes 11 ein reges Treiben. Die Eisentür und die Gitter des Kerkers öffneten sich auch heute, und aus den Gesprächen draußen hörten wir heraus, daß eine Gruppe von SS-Leuten in den Keller gekommen war. Sie schlossen eine Zelle nach der andern auf, und jedesmal hörten wir, wie ein Häftling in großer Erregung »Achtung!« rief. Unter den Stimmen erkannte ich das heisere Gekrächze des Trinkers Aumeier und die zackigen Einwürfe des Gestapochefs Grabner.

Beide ließen sich von dem Rapportführer, der sie begleitete, kurz berichten, warum die einzelnen Häftlinge hier einsaßen. Dann beratschlagten sie kurz und gaben ihre Entscheidung bekannt, die meist lapidar lautete: »Los, heraus!« Mit diesen beiden Worten, die einem Standgerichtsurteil gleichkamen, wählten sie die Todeskandidaten aus. Als sie an unserer Nebenzelle angelangt waren, befiel auch uns Erregung und Angst, was jetzt wohl mit uns geschehen würde. Sie gingen aber an unserer Zelle vorbei und wandten sich der nächsten zu. Die Selektion der Todeskandidaten dauerte etwa eine Stunde. Das Nachspiel folgte an der schwarzen Todeswand. Wir konnten zwar nicht auf den Hof hinausschauen, doch hörten wir von draußen klägliches, verzweifeltes Jammern, Flehen und Weinen, Anrufungen Gottes, aber hin und wieder auch patriotische Ausrufe in polnischer und russischer Sprache wie: »Es lebe ein freies Polen«! oder: »Es lebe Stalin!« Aumeier liebte solche Szenen nicht. Damit die Opfer ihn verstanden, bediente er sich der einzigen Worte, die er aus ihrer Muttersprache aufgeschnappt hatte. Während er »szybko, szybko«! (schnell, schnell!) krächzte, wurden sie wie am laufenden Band ins Jenseits befördert. Starr vor Schrecken saßen wir auf dem Boden unserer Zelle und hörten dem eigenartigen Pitschen der schallgedämpften Kleinkalibergewehre zu. So konnten wir die Hinrichtungen zwar akustisch wahrnehmen, ohne aber etwas davon zu sehen. Wenn jeder Schuß einen Toten bedeutete, dann waren an diesem Tag mehr als 100 Häftlinge erschossen worden. Der Tod hatte an der schwarzen Wand im Hof des Blockes 11 wieder einmal reiche Ernte gehalten. Als alles vorbei war, breitete sich Totenstille aus, die erst durch den Ruf »Essenholer raustreten«! unterbrochen wurde. Einige Zeit später brachte man auch uns einen Schlag Suppe. Wir schlangen sie hinunter, und während dieser Beschäftigung war alles andere vergessen.

Es waren schon einige Tage vergangen, die wir untätig in unserer Zelle verbracht hatten, als nach dem Abendappell plötzlich die Tür aufgeschlossen wurde. Draußen auf dem Gang stand Stark, neben ihm ein Häftling, den wir nicht kannten. Offenbar sollte er an die Stelle der Kameraden treten, die in der Grube erschossen worden waren. Stark trieb uns, nachdem wir den Block verlassen hatten, im Laufschritt zum Haupttor und von dort spornstreichs auf den Hof des Krematoriums. Dann mußten wir uns neben dem vergitterten Fenster des Verbrennungsraumes an die Wand stellen. Dort ermahnte uns Stark zu äußerster Verschwiegenheit und drohte uns die schlimmsten Strafen an, falls wir mit irgendeinem Menschen, der hierherkam, sprechen würden. Mit einem Augenzwinkern gab er Fischl zu erkennen, daß er ihn als Garanten für die strikte Einhaltung seines Befehls ansehe. Fischl bestätigte gehorsam: »Jawohl, Herr Unterscharführer!«

Stark machte seinem Namen alle Ehre. Er war eine große, stattliche Erscheinung, hatte rotblonde Haare, und auf seinen stämmigen, muskulösen Beinen ruhte ein breiter, kräftiger Oberkörper. Er machte den Eindruck eines gesunden, sportlich durchtrainierten jungen Mannes. Seine schlimmste Eigenschaft war sein Jähzorn. Wenn er – oft aus nur geringfügigem Anlaß – einen seiner Tobsuchtsanfälle bekam, verschwand man am besten aus seiner Nähe; denn sonst wurde es gefährlich.

Es waren Welten, die ihn von uns Häftlingen trennten. Uns gegenüber schien er keiner menschlichen Regung oder Lebensäußerung fähig zu sein. Wir kannten ihn nur, wie er schroff seine Befehle erteilte, uns wüst beschimpfte, schlimme Drohungen ausstieß, uns zur Arbeit antrieb, schlug und knüppelte. Seinen Vorgesetzten gegenüber zeigte er sich dagegen dienstbeflissen und unterwürfig.

Ich habe mir oft Gedanken gemacht, wie es kam, daß dieser junge Mensch, der kaum älter war als ich, so grausam und brutal sein konnte und weshalb er einen so abgrundtiefen Haß gegen die Juden hatte. Ich zweifelte daran, ob er überhaupt schon einen Juden kennengelernt hatte, bevor er nach Auschwitz gekommen war. Wahrscheinlich war er ein Opfer jener Naziindoktrination geworden, die den Juden die Verantwortung für jede Not und jedes Elend, für den Krieg und jede Misere überhaupt in die Schuhe schob. Wie konnte es geschehen, so fragte ich mich oft, daß ein normal begabter, zivilisiert aussehender, sonst unauffälliger junger Mann Untaten von so schrecklichem Ausmaß in dem Bewußtsein vollbringen konnte, dadurch seine vaterländische Pflicht zu erfüllen, ohne zu durchschauen, daß er von pervertierten politischen Machthabern als Werkzeug mißbraucht wurde?

Vom Hof des Krematoriums waren alle Spuren des Grauens der vergangenen Tage beseitigt worden. Auch die Pflastersteine, mit denen der Hof ausgelegt war, waren von den Blutspuren gereinigt worden und glänzten vor Sauberkeit. Hinter der hohen äußeren Betonmauer, in Richtung zur »SS-Fahrbereitschaft«, dem Kraftfahrzeugpark, begann ein riesiger, weit ausladender Baum mit mächtigen Ästen zu grünen. Sein Wipfel sollte heute mit uns zusammen Zeuge einer Aktion werden, der Himmler oder gar der Führer selbst den Namen »Geheime Reichssache« gegeben hatte.

SS-Leute tauchten auf dem Hof auf, alle mit Knüppeln in der Hand. Nach ihnen kam die Lagerprominenz, Aumeier, Grabner und Untersturmführer Hössler sowie ein weiterer SS-Führer, den ich nicht kannte und der das Emblem der Ärzte, den Äskulapstab mit der Schlange, am Ärmel trug. Ich zog daraus den Schluß, daß es sich um einen Arzt handelte. Vergebens versuchte ich dahinterzukommen, was für eine Aufgabe er bei dem zu erwartenden Massaker haben könnte.

Wir standen noch nicht lange auf dem Hof, als eine große Menge Menschen durch das geöffnete Holztor hereinströmte, die meisten in dunklen Kleidern. In Brusthöhe trugen sie rechts den gelben sechszackigen Judenstern. Nach und nach füllten die Menschen die ganze Fläche des Hofes. Sie sprachen polnisch und jiddisch miteinander. Daraus entnahm ich, daß es sich um einen Transport polnischer Juden handelte. Die meisten waren mittleren Alters, es waren aber auch alte Männer, Frauen und Kinder dabei. Alle waren etwas außer Atem und machten den Eindruck, als hätte man sie hierher gehetzt. Diese Annahme wurde durch eine Gruppe alter Frauen bestärkt, die jetzt völlig erschöpft, meistens mit gebeugtem Rücken, durch das Tor hinterhergetrippelt kamen. Offensichtlich hatten sie dem Marschtempo der großen Masse nicht folgen können. Als auch sie auf dem Hof waren, wurde das Hoftor geschlossen.

Nun traten die uniformierten Schergen vor die erschöpfte, ungeduldige, mehrere hundert Menschen zählende Menge. Wie auf Befehl fingen sie an, die Menschen anzuschreien, wobei sie mit ihren Knüppeln herumfuchtelten und den Befehl gaben, alle sollten sich so schnell wie möglich ausziehen. Die Menschen waren völlig verstört. Sicher ahnten sie, daß ihnen etwas Schlimmes bevorstand, aber sie konnten nicht recht einsehen, warum sie sich hier auf dem Hof ausziehen sollten, die Männer vor den Frauen und umgekehrt. Aber die SS-Leute, die ihnen keine Gelegenheit zum Nachdenken geben wollten, schrien in einem fort: »Los, los! Ausziehen! Schneller machen! Los, los! Ausziehen!«

Jetzt begriff ich, was hier vorging. Irgendeiner mußte auf die Idee gekommen sein, daß es zweckmäßiger wäre, die Menschen nackt in die Gaskammer zu schicken; denn dann brauchte man sie hinterher nicht mehr mühsam und zeitraubend auszuziehen. Außerdem würden die noch Lebenden, wenn sie sich auszogen, ihre Kleidungsstücke nicht beschädigen, weil sie glaubten, daß sie sie noch brauchen würden. Mir wurde klar, daß diese neue Prozedur heute zum ersten Mal erprobt werden sollte.

Sie funktionierte jedoch nicht ganz nach den Vorstellungen derer, die sie ausgedacht hatten. Mißtrauen und Angst spiegelten sich in den erschrockenen und verlegenen Gesichtern der auf dem Hof Versammelten. Sie wußten zwar nicht, was sie erwartete, aber sie ahnten doch den Ernst der Lage und spürten die Gefahr, in der sie sich befanden. Auf die Drohungen, die ständig ausgestoßen wurden, reagierten die meisten Männer so, daß sie anfingen, sich den Kragen und die Hemdbrust aufzuknöpfen, während die Frauen sich bückten und verlegen ihre Schnürsenkel aufknüpften. Das alles ging sehr langsam, nicht so, wie es sich die SS-Leute vorgestellt hatten. Sicher überlegten viele, wozu das alles gut sein sollte.

In der Ecke rechts neben dem Tor bemerkte ich eine junge Mutter mit ihrem Kind. Krampfhaft preßte sie ihren Mund so fest zusammen, daß man ihre Lippen kaum noch sehen konnte. Sie wirkten wie eine Narbe. Dann sah sie ihr Töchterchen an, streichelte es und zog es langsam aus. Größere Kinder, die genauso verstört waren wie ihre Eltern, fingen nun auch an, sich langsam auszuziehen.

Die Repräsentanten der SS-Hierarchie standen währenddessen auf dem Erdwall, der auf die Decke des Krematoriums aufgeschüttet worden war. Von dort beobachteten sie wie aus der Vogelperspektive den Verlauf der Aktion. Sie griffen nicht ein und überließen alles den Unterführern. Aber das Unbehagen und die Unruhe der Menschen wurden größer, ihre Angst, daß ihnen Gefahr drohte, wuchs von Minute zu Minute, und deshalb zogen sie sich nur langsam aus, um Zeit zu gewinnen.

Sie kamen aus dem Ghetto Sosnowitz, das nur wenige Kilometer entfernt war. Sicher hatten sie dort schon manches über das Lager Auschwitz gehört und sich vielleicht auch Gedanken gemacht, ob alles, worüber gemunkelt wurde, nur Gerüchte waren oder ob man tatsächlich das Schlimmste annehmen mußte.

Das brutale Vorgehen der SS-Schergen übertraf all ihre Befürchtungen. Die Menschen fühlten instinktiv, daß sie sich in großer Gefahr befanden, und fingen an, miteinander zu reden. Auf dem Hof summte es jetzt wie in einem Bienenkorb. Als die SS-Leute erkannten, daß ihr Täuschungsmanöver durch das Verhalten der Opfer in Frage gestellt war, stürzten sie sich in die Menge, schlugen mit ihren Stöcken blindlings um sich und brüllten: »Los! Los! Ausziehen! Schneller machen!« Die beabsichtigte Wirkung blieb nicht aus. Die Menschen schienen aus einem bedrückenden Schlaf zu erwachen. Die Männer, von denen die meisten bislang nur ein paar Knöpfe am Hemd und Kragen aufgemacht und die Schnürsenkel an den Schuhen gelöst hatten, zogen nun hastig Röcke, Schuhe und Hosen aus. Viele Frauen liefen ratlos hin und her und suchten bei ihren Männern Schutz, erschrockene Kinder schmiegten sich noch enger an ihre Mütter. Die Drangsalierungen hatten die Menschen ganz aus der Fassung gebracht. Sie waren verwirrt, verschreckt, unfähig, sich richtig zu verständigen und außerstande, noch zu denken oder zu überlegen. Da die SS-Männer weiter wüteten, geriet die Menge in einen chaotischen Zustand. Auch der passive Widerstand der Menschen war jetzt gebrochen, und sie taten, was man ihnen von allen Seiten immer wieder mit Schlägen einbleute: »Los! Ausziehen! Los! Schneller machen! Dalli, dalli!« Männer, Frauen und Kinder zogen sich jetzt hastig aus, sie rissen sich geradezu die Kleider vom Leib, einer half dem andern, um den pausenlosen Schlägen zu entgehen. Innerhalb kürzester Zeit standen nun alle nackt da, und jeder hatte ein Häufchen Kleider vor sich aufgestapelt!

Auch wir waren entsetzt und bebten am ganzen Körper. Noch nie hatte ich etwas so Schreckliches erlebt. Selbst der fromme Goliath Fischl zitterte, aber trotzdem hatte er noch so viel Kraft und Glauben, leise zu beten und Gott anzurufen: »Schema Jisrael, Adonaj Elojhenu …« Als er sich bewußt wurde, daß er mit seinem frommen Gemurmel die Aufmerksamkeit der SS-Leute auf sich lenken könnte, verstummte er. Er war zwar als starker und beflissener Roboter schwer entbehrlich für sie, doch hätten sie für seine religiöse Leidenschaft wohl kaum Verständnis aufgebracht.

Mein Blick fiel währenddessen wieder auf die junge Mutter in der Ecke am Tor. Auch sie stand jetzt entkleidet da und trug ihr Kind auf dem Arm. Sie schämte sich ihrer Blöße nicht, aber die Ahnung, daß sie sich und ihr Kind vielleicht zum letzten Mal im Leben ausgezogen hatte, versetzte sie in einen Zustand ratloser Gottergebenheit.

Zwei SS-Männer bezogen jetzt zu beiden Seiten der Eingangstür Posten. Die übrigen jagten mit großem Geschrei und mit Stockschlägen die nackten Männer, Frauen und Kinder in den großen Raum im Krematorium. Zurück blieb nichts als die Kleiderhäufchen, die wir aufsammeln und wegschaffen mußten, damit der leergeräumte Hof die restlichen Menschen des Transports aufnehmen konnte. Wie Kraut und Rüben trugen wir Koffer, Rucksäcke, Kleider und Schuhe in eine Ecke des Hofes. Dort stapelten wir alles auf einen großen Haufen und deckten ihn mit einer Zeltplane ab.

Als wir damit fertig waren, strömten von neuem mehrere hundert Menschen auf den leeren Hof. Das Präludium des Todes wiederholte sich mit der gleichen Brutalität und dem gleichen Verlauf. Im Krematorium waren am Ende an die 600 verzweifelte Menschen eingepfercht. Einige SS-Männer kamen aus dem Gebäude, und der letzte von ihnen schloß die Eingangstür zur Gaskammer von außen zu. Es dauerte nicht lange, dann konnte man hinter der Tür immer lauter werdendes Husten, Schreie und Hilferufe vernehmen. Einzelne Worte konnte ich nicht verstehen, denn die Schreie wurden vom Poltern und Pochen gegen die Tür übertönt, in das sich auch Heulen und Weinen mischte. Nach einiger Zeit wurde der Lärm immer schwächer, die Schreie verstummten, nur hier und da war noch ein Stöhnen, Röcheln oder ein dumpfes Klopfen gegen die Tür zu vernehmen. Aber auch das hörte bald auf, und in der plötzlich eingetretenen Stille spürte jeder von uns das Grauen dieses schrecklichen, hundertfachen, qualvollen Todes.

Während der ganzen Aktion war im SS-Lazarett, das sich in einiger Entfernung gegenüber dem Krematorium befand, hinter einem der Fenster einige Male eine Gestalt aufgetaucht, die sich aber immer rasch wieder abwandte. Auch in den Unterkünften im Lager, die etwa 100 Meter entfernt waren, hatte man die Schreie der Sterbenden vielleicht hören können. Aber zu der Stunde, als die Deportierten eines schrecklichen Todes starben, wurde auf den Blöcken das Essen ausgegeben. Dann waren die Häftlinge, ermüdet von der Fron des Tages, mit nichts anderem beschäftigt als mit dem Verzehr ihrer Portion Brot und dem Löffel voll Rübenmarmelade, die es dazu gab. Aber auch dann, wenn sie geahnt hätten, was nur ein paar Schritte weiter geschah, hätten sie am Lauf der Dinge nichts ändern können und wären nur noch in tiefere Resignation verfallen.

Als es im Krematorium ruhig geworden war, erschien auf dem flachen Dach Unterscharführer Teuer, von einem Helfer gefolgt. Beiden baumelten Gasmasken um den Hals. Sie stellten längliche Blechdosen hin, die wie Konservenbüchsen aussahen. Auf den Dosen waren Etikette mit einem Totenkopf und der Aufschrift »Achtung Gift«! aufgeklebt. Eine furchtbare Vorstellung wurde zur Gewißheit: die Menschen im Krematorium waren mit Gas vergiftet worden.

Nachdem die SS-Führer verschwunden waren, mußten wir die Kleider sortieren und sie nach Geld und Wertsachen durchsuchen. Da der Hofraum nur von der Laterne über dem Eingang spärlich erleuchtet wurde, war es ziemlich düster. Daher sortierten wir die Effekten nur grob und oberflächlich. Die Dinge, welche die Menschen in ihren Taschen und Schuhen versteckt hatten, waren ein Beweis, daß sie nicht glaubten, es werde ihnen etwas Schlimmes passieren. Nichts deutete darauf hin, daß auch nur einer von ihnen mit dem Tod gerechnet hatte.

Nachdem einige Kisten auf den Hof gebracht worden waren, sollten wir in die erste das Geld, in die zweite Uhren, Gold- und andere Wertsachen werfen. Kleider, Schuhe und Wäsche mußten wir gesondert sortieren. Daneben legten wir auf andere Stapel Messer, Brillen, Flaschen, Medikamente und Puppen, die von ihren kindlichen Müttern für immer verlassen worden waren. Einen großen Haufen bildeten auch die Gebetbücher und die Samtbeutel mit den jüdischen Gebetsriemen Tefilim. An diesem Haufen machte sich Fischl in auffälliger Weise zu schaffen; in einem unbeobachteten Augenblick gelang es ihm, einen Tefilim-Beutel unter seiner Jacke zu verstecken. Alle aussortierten Sachen wurden auf einen Rollwagen geladen und in die Kleiderkammer des Lagers gebracht.

Es war schon spät am Abend, als wir wieder in die Zelle 13 auf Block 11 eingeschlossen wurden. Auch heute brannte das Licht noch eine Weile, damit wir essen konnten. Wir stürzten uns diesmal nicht wie wild auf unsere Brotrationen, sondern zogen unter unseren Hemden, Jacken und aus den Taschen die Sachen hervor, die wir »organisiert« hatten. Einer nach dem andern legte Brot, Zucker, Sacharin, Machorka-Tabak und andere Dinge vor unseren Vorarbeiter hin.

Fischl schaute sich alles genau an, sortierte und verteilte die Beute in sechs gleiche Teile. Trotz allem, was wir erlebt hatten, schien Fischl heute der Zufriedenste von uns zu sein. Adonaj hatte ihn erhört – jetzt besaß er ein hebräisches Gebetbuch und Tefilim, die er in den Bunker geschmuggelt hatte. Früh am nächsten Morgen erhob er sich als erster, wickelte sich die Tefilim um den linken Arm über den Nacken bis zum Scheitel des Kopfes und band sich den kleinen, schwarzen Würfel mit der Tefilah vor die Stirn. Dann begann er zu beten. Dabei beugte er sich vor, drehte sich zur Seite, betonte manche Worte unverständlich murmelnd mit frommer Hingabe und schrie ganze Sätze voller Leidenschaft heraus. Fischl betete so inbrünstig und so gottergeben, daß Gott – falls es ihn gab – seine Stimme hätte hören müssen; denn sie erhob sich von einem Ort, wo Menschen vom gleichen Stamm, die wie er an den Ewigen glaubten und den allmächtigen HERRN anbeteten, wie Vieh hingeschlachtet wurden.

Und dieser Vorarbeiter, der gezwungen war, den SS-Mördern zu helfen, seine eigenen Blutsbrüder und Glaubensgenossen ins Verderben zu führen, dieser starke, auf den ersten Blick scheinbar zu allem bereite Fischl verzichtete in seiner Seele nicht auf den Glauben seiner Väter. In diesem Augenblick war er wohl der einzige von Millionen Juden auf der Welt, der den Namen Gottes an einem Ort pries, wo er am verworfensten geschändet wurde. Fischl kam mir wie ein Geschöpf aus einer anderen Welt vor, aus einer Welt, die Gott, den ich in Auschwitz vergebens zu begreifen suchte, allein regierte und verkörperte.

Unsere Befürchtungen, daß wir am nächsten Morgen wieder ins Krematorium müßten, um Tote zu verbrennen, erwiesen sich vorerst als unbegründet. Wir blieben drei Tage lang in unserer Zelle; am vierten Tag weckte uns in aller Herrgottsfrühe die schreckenerregende Stimme von Stark, der vom Hof durch das Zellenfenster schrie: »Fischl-Kommando, fertigmachen!« Unsere Arbeitsgruppe hatte jetzt einen Namen bekommen.

Es war im Morgengrauen, einige Stunden vor dem Appell, als wir den Hof des Krematoriums betraten. Die Häftlinge im Lager schliefen noch. Doch die SS-Leute mit ihren Maschinengewehren auf den Wachttürmen waren gerade jetzt besonders wachsam, denn bei Tagesanbruch pflegten sich jene Häftlinge für den einzigen Weg des Entrinnens zu entscheiden, den es gab – über die Sperrzone in den hochgespannten Strom des Stacheldrahtzauns. Oberscharführer Quackernack erschien jetzt mit einigen jungen SS-Unterführern. Es fiel mir auf, daß sie heute keine Stöcke trugen. Wir mußten uns wieder unter dem Fenster des Verbrennungsraumes an die Wand stellen. Ein paar Minuten lang herrschte spannungsgeladene Stille. Dann hörten wir das Motorengeräusch von Lastwagen sich nähern. Vor dem Hof des Krematoriums hielten sie an, die Motoren wurden abgestellt, und dann wurde es wieder still, bis sich die beiden Flügel des hölzernen Hoftors öffneten. Eine Prozession von einigen hundert Männern und Frauen mittleren Alters kam auf den Hof. Auch einige Greise und ein paar Kinder waren dabei. Sie schritten friedlich herein, und man konnte bei ihnen keine Zeichen von Erschöpfung erkennen, wie bei den gejagten Menschen vor ein paar Tagen. Auch die sie begleitende SS-Eskorte benahm sich anders als zuvor. Die SS-Männer schrien nicht, trieben keinen an und schienen auch ihr ständiges Geschrei vergessen zu haben. Ihre Pistolen hatten sie unauffällig verborgen, und kein böses Wort kam aus ihrem Mund. Die Posten am Tor wurden schon ungeduldig, etwas schien ihnen nicht geheuer, die Kolonne ging zu langsam, und sie mußten, bevor sie das Tor schließen konnten, geduldig warten, bis auch der letzte des Zuges, ein einbeiniges, an einer Krücke humpelndes Männlein, den Hof erreicht hatte.

Auch uns kam das überraschend sanftmütige Auftreten der SS-Leute merkwürdig vor. Alle schauten freundlich drein, sie schubsten keinen, trieben die Menschen nicht an, prügelten nicht und zeigten den Leuten wie Verkehrspolizisten auf einer Straßenkreuzung mit den Armen an, wohin sie gehen sollten, damit alle gleichmäßig über den Hof verteilt waren. Manche aus dem Zug schauten sich neugierig, aber doch beunruhigt um und stellten erst dann ihre kleinen Koffer, Rucksäcke, Pakete und Bündel, die sie auf ihrem letzten Weg bei sich hatten, vor sich auf den Boden. Aus ihren Mienen und ihrem Aussehen konnte man entnehmen, daß sie schon viel mitgemacht hatten. Sie sprachen polnisch und jiddisch. Auch ich konnte einige Worte aufschnappen und daraus entnehmen, daß die Leute in einer Fabrik gearbeitet hatten. Von dort waren sie – angeblich als Fachleute für wichtige Aufgaben – abtransportiert worden. Obwohl das Verhalten der SS-Leute keinen Grund zur Beunruhigung gab, rief der abgeriegelte Hof bei den Ankömmlingen ein gewisses Mißtrauen hervor. Die Worte »melochenen, hargenen, Fachowez, Malchemowes, Tojt – arbeiten, töten, Facharbeiter, Todesengel, Tod«, die ich mehrmals hörte, waren ein untrüglicher Beweis, daß ihre Gedanken sich an der Grenze von Leben und Tod bewegten und daß sie auf etwas warteten, was darauf hindeutete, daß man ihnen eine Chance geben würde, noch etwas Nützliches und Brauchbares zu tun. Das Leben und die Erfahrung im Ghetto, aus dem sie – mit dem gelben Judenstern gezeichnet – gekommen waren, hatten sie gelehrt, daß nur derjenige eine Chance hatte zu überleben, der sich als »nützlich« erwies und den die Nazis für ihre Ziele und Zwecke noch brauchen konnten. In dieser merkwürdigen Atmosphäre auf dem Hof des Krematoriums, wo zwar nichts auf eine Gefahr hindeutete, empfanden die Menschen dennoch Unsicherheit und Angst. Das Barometer ihrer Hoffnung schwankte auf und ab, wie ich aus vielen Gesprächsfetzen heraushörte.

Ich dachte nach, wie wir uns in dieser Situation verhalten sollten und was wir tun könnten; wir wußten ja, was mit den Menschen geschehen würde. Wie angewurzelt standen wir an der Wand, gelähmt von einem Gefühl der Ohnmacht und der Gewißheit von ihrem und auch unserem unabwendbaren Ende.

Ich kam zu der Überzeugung, daß es keine Macht auf der Welt gab, weder im Himmel noch auf Erden, die diese unschuldigen, arbeitsamen, nach Gottes Ebenbild geschaffenen Menschen vor dem Tode hätte retten können, zu dem sie ein größenwahnsinniger Diktator ohne Richter und ohne Urteil verdammt hatte, der sich eine Theorie über die Schädlichkeit der Juden erdacht hatte und entschlossen war, sie wie Ungeziefer auszurotten, wo immer er in seinem Machtbereich ihrer habhaft werden konnte. Hitler und seine Spießgesellen hatten diese Absicht nie verheimlicht und schon lange unverblümt kundgetan. Die ganze Welt wußte es und schwieg, und wer schweigt, so glaubten wir, stimmt zu. Solche Überlegungen hatten mich und meine Gefährten zu der Überzeugung kommen lassen, daß die Welt mit dem, was hier geschah, einverstanden sein mußte.

Hätte sich daher etwas am Lauf der Dinge geändert, wenn einer von uns vor die Menge getreten wäre und gerufen hätte: »Leute, laßt euch nicht hinters Licht führen, ihr geht euren letzten Gang, ein schrecklicher Tod wartet in der Gaskammer auf euch!«?

Die meisten hätten uns wahrscheinlich nicht geglaubt, weil das, was ihnen bevorstand, zu schrecklich war, als daß man daran hätte glauben können. Eine Warnung hätte nur Panik hervorgerufen, die mit einem blutigen Massaker geendet und auch unseren sicheren Tod bedeutet hätte. Hatten wir das Recht, solch ein Risiko einzugehen und damit unsere Chance zu verspielen, wenigstens vorläufig noch weiterzuleben? Was war in diesem Augenblick wichtiger, einige hundert noch lebende, aber vor dem unmittelbar bevorstehenden Tod nicht zu rettender Menschen oder eine Handvoll Augenzeugen, von denen der eine oder andere um den schrecklichen Preis des Leids und der Selbstverleugnung womöglich überleben und dereinst Zeugnis wider die Mörder ablegen konnte?

Das Geraune und Gemurmel der Menge verstummte plötzlich. Der Blick einiger hundert Augenpaare wandte sich nach oben zu dem flachen Dach des Krematoriums, auf das einige SS-Führer über den schrägen Damm hinaufgestiegen waren. In ihrer Mitte, direkt über dem Eingang zum Krematorium, stand Aumeier, flankiert von Grabner, dem Chef der Lagergestapo, und von Hössler, der später Führer des Frauenlagers wurde.

Als erster ergriff Aumeier das Wort. Mit seiner versoffenen Stimme redete er großsprecherisch auf die verschreckten, verängstigten und von Zweifeln geplagten Menschen ein. »Ihr seid hierhergekommen«, so ließ er sich laut vernehmen, »um so zu arbeiten, wie unsere Soldaten an der Front kämpfen. Wer arbeiten kann und will, dem wird es hier gutgehen.« Nach Aumeier ergriff Grabner das Wort. Er forderte die Leute auf, sich auszuziehen, weil sie in ihrem eigenen Interesse wegen der bestehenden Seuchengefahr desinfiziert werden müßten. »Als erstes müssen wir für euere Gesundheit sorgen«, erklärte er. »Deshalb müßt ihr zuerst unter die Dusche. Wenn ihr gebadet habt, bekommt jeder einen Teller Suppe.«

In die erstarrten Gesichter der Menschen, die begierig auf jedes Wort lauschten, war wieder Leben zurückgekehrt. Jetzt blickten sie schon etwas zuversichtlicher in die Zukunft. Die überzeugenden Ansprachen der SS-Führer hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Das anfängliche Mißtrauen und der Argwohn waren der Hoffnung, vielleicht sogar der Gewißheit gewichen, daß doch noch alles gut ausgehen würde. Hössler hatte die Situation erkannt und ließ sich auch noch vernehmen. Um dem großangelegten Täuschungsmanöver den Anstrich völliger Redlichkeit zu geben, spielte er den arglos gewordenen Menschen ein perfektes Theater vor. »Sie, dort drüben in der Ecke«, rief er und deutete mit dem Finger auf einen kleinen Mann, »was sind Sie denn von Beruf?«

»Schneider«, lautete, wie aus einer Pistole geschossen, die Antwort.

»Herren- oder Damenschneider?« erkundigte sich Hössler.

»Beides«, erwiderte der Gefragte selbstbewußt.

»Ausgezeichnet!« Hössler schien begeistert. »Genau solche Leute brauchen wir in unseren Ateliers. Wenn Sie aus dem Bad kommen, dann melden Sie sich sofort bei mir. Und Sie dort, was haben Sie denn gelernt?« Mit dieser Frage wandte er sich nun an eine gutaussehende Frau in mittleren Jahren, die ganz vorn stand.

»Ich bin Krankenschwester, Herr Offizier«, antwortete sie.

»Da haben Sie Glück, wir brauchen dringend Krankenschwestern in unserem Lazarett, und wenn noch andere dabei sind, sollen sie sich auch nach dem Bad bei mir melden.«

»Wir brauchen Handwerker aller Art«, mischte sich jetzt Grabner wieder ein. »Installateure, Elektriker, Automechaniker, Schweißer, Maurer und Betonmischer müssen sich alle melden. Aber auch Hilfsarbeiter brauchen wir. Jeder bekommt hier Arbeit und guten Lohn.« Dann schloß Grabner mit den Worten: »Und jetzt zieht euch aus. Beeilt euch, damit die Suppe nicht kalt wird.«

Die anfängliche Angst und die Befürchtungen der Menschen waren wie weggezaubert. Friedlich wie Lämmer zogen sich Männer und Frauen aus, ohne daß man sie hätte anschreien oder schlagen müssen. Jeder bemühte sich, so schnell wie möglich mit dem Ausziehen fertig zu werden, um ins Bad und in die unvermeidliche Desinfektion zu kommen. Nach kurzer Zeit war der Hof von Menschen leer. Nur noch zurückgelassene Schuhe, Kleider, Wäsche, Koffer und Kartons lagen auf dem Boden herum. Betrogen und getäuscht gingen Hunderte von Männern, Frauen und Kindern arglos und zukunftsgläubig in den großen, fensterlosen Raum des Krematoriums. Als der letzte die Schwelle überschritten hatte, schlugen zwei SS-Leute, die darauf gewartet hatten, die schwere, eisenbeschlagene und mit einer Gummidichtung versehene Tür zu und schoben die Riegel vor.

Die diensthabenden SS-Unterführer hatten sich inzwischen auf das flache Dach des Krematoriums begeben, von dem aus die SS-Führer zu der Menge gesprochen hatten. Sie nahmen von sechs getarnten Öffnungen die Deckel ab und schütteten, durch Gasmasken geschützt, die grünblauen Kristalle des Zyklon-B-Gases in die Gaskammer.

Nun wurden die Motoren der Lastwagen angelassen, die immer noch in der Nähe standen. Ihr Lärm sollte verhindern, daß man im Lager das Geschrei der Sterbenden in der Gaskammer und ihr Pochen gegen die Türen hören konnte. Uns blieb es nicht erspart, das alles aus nächster Nähe mitzuerleben. Es war, als wäre der Jüngste Tag angebrochen. Deutlich hörten wir herzzerreißendes Weinen, Hilferufe, Stoßgebete, heftiges Schlagen und Pochen gegen das Tor, und all das übertönt von dem Geräusch der auf Hochtouren laufenden Motoren der Lastwagen. Aumeier, Grabner und Hössler verfolgten auf ihren Armbanduhren die Zeit, die verging, bis es in der Gaskammer still geworden war. Dabei amüsierten sie sich und rissen makabre Witze. Einen hörte ich sagen: »Das Wasser im Duschraum muß heute sehr heiß sein, weil sie so laut schreien.«

Ihren Gesichtern sah man an, daß sie zufrieden waren über diesen kampflosen Sieg, den das Dritte Reich heute über seinen erklärten Erzfeind errungen hatte. Mit dem Stöhnen und Röcheln der Sterbenden verstummte auch das Dröhnen der Motoren. Damit war wieder ein Einsatz der Aktion »Sonderbehandlung« erfolgreich beendet worden, wie der Befehl »Posten einziehen«! bestätigte.

Kurz danach erwachte hinter dem abgeschlossenen Areal des Todes das Lager wieder zum Leben. Die Essenholer schleppten Bottiche mit Tee in die Blocks, die Blockältesten bereiteten den morgendlichen Zählappell vor, die Kapos teilten die Häftlinge in die Arbeitskolonnen ein, und die schmissige Musik des Lagerorchesters, die das Ausrücken der Arbeitskommandos begleitete, drang zu uns herüber.

Aumeier war mit seiner Gefolgschaft vom Dach über die Böschung auf den Hof des Krematoriums heruntergestiegen. Selbstbewußt und mit einem gewissen Stolz wandte er sich an Quackernack und seine Spießgesellen und meinte wie ein Meister zu seinen Lehrlingen: »Habt ihr jetzt kapiert, wie man so etwas macht?«

Diese Praxis wurde in der Folgezeit als eine bewährte Methode der Massenvernichtung von Menschen ohne Blutvergießen angewandt und begann, ein ungeheuerliches Ausmaß anzunehmen. Seit Ende Mai 1942 verschwand auf diese Weise ein Transport nach dem andern im Auschwitzer Krematorium.

Freilich barg die Lage des Krematoriums in unmittelbarer Nachbarschaft des Stammlagers die Gefahr in sich, daß die »Geheime Reichssache« mit höchster Vertraulichkeitsstufe nicht sehr lange geheim bleiben könnte. Deshalb wurden die Kolonnen der Deportierten meistens ganz früh, wenn das Lager noch schlief, oder abends nach dem Appell ins »Bad« geführt. Im Lager wurde dann Blocksperre verhängt, und niemand durfte den Block verlassen, wenn er nicht riskieren wollte, erschossen zu werden. Aus dem gleichen Grund hatte man auch uns Häftlinge, die an den Vorbereitungen zur Vernichtung von Juden und beim Verwischen der Spuren der Verbrechen mitwirken mußten, in zwei Gruppen eingeteilt, die voneinander getrennt arbeiten sollten. Dadurch wollte man verhindern, daß wir tiefere Einblicke in das Vernichtungssystem gewinnen konnten.

Erst wenn der Hof völlig leergefegt und gesäubert war, erschienen die Häftlinge des zweiten Kommandos, die Krematoriumsheizer. Bei ihrer Ankunft lagen in der bereits entlüfteten Gaskammer die Leichen der Vergasten, als wären sie gerade nackt vom Himmel heruntergefallen.

Die SS-Leute merkten bald, daß es vor uns nichts zu verbergen gab. Deshalb vereinigten sie unsere beiden Gruppen zu einem Arbeitskommando, den »Krematoriums-Kommando«. Zu seinem Kapo wurde der polnische politische Häftling Mietek Morawa bestimmt.

Wenn bis zum Morgengrauen kein Transport angekommen war, traten wir aus unserer Zelle im Block 11 auf den Hof hinaus und gesellten uns dort zu den Heizern. Ihr Kapo war mit seinen zwei polnischen »Kollegen« in einen »freien« Häftlingsblock untergebracht, während die drei jüdischen Heizer in Block 11 hausten.

Wie eine Arbeitskolonne, in Reih und Glied formiert, warteten wir auf den Abmarsch zur Arbeit. Dabei ergab sich häufig die Gelegenheit, mit anderen Häftlingen zu sprechen und Kontakte zur Welt des »freien« Lagers anzuknüpfen. Das verlieh uns neue moralische Kräfte in unserer Isolierung. Vor dem Ausrücken liefen die Kapos der verschiedenen Arbeitskommandos um ihre Gruppen herum, richteten die Reihen aus und zählten die Häftlinge mit peinlicher Sorgfalt, damit die Zahl ihrer »Schafe« bei der Kontrolle durch den Arbeitsdienstführer, einen SS-Mann, stimmte. Erst wenn das Lagerorchester anfing zu spielen, zogen die Kommandos unter den Klängen von Marschmusik zu ihren Arbeitsstätten, an ihrer Spitze der Kapo, der dem Arbeitsdienstführer Arbeitsauftrag und Häftlingszahl seiner Kolonne meldete. So marschierte ein Kommando nach dem anderen durch das Haupttor aus dem Lager, ausgerichtet in Reih und Glied, ein vieltausendköpfiges Heer von Sklaven in gestreiften Häftlingsmonturen. Ihre Zwangsarbeit war so organisiert, daß sie direkt oder indirekt ihrer eigenen Vernichtung förderlich war.

So reparierten und warteten die Häftlinge des Kommandos »Fahrbereitschaft« die Lastkraftwagen der SS, die nicht nur Material zum Aufbau des Lagers herbeischafften, sondern auch Lebende und Tote ins Krematorium brachten. Das Baukommando stellte die Betonpfeiler der endlosen Zäune auf, die von den Häftlingsschlossern mit Stacheldraht bespannt wurden. Die Elektriker-Kolonne war damit beschäftigt, den Stacheldraht unter Starkstrom zu setzen, und knüpfte so das Netz, in dem sie selbst und ihre Leidensgefährten unentrinnbar gefangen saßen, noch dichter. Die Tischler vom DAW-Kommando – DAW war die Abkürzung für Deutsche Ausrüstungswerke – hatten neben Arbeiten für die Waffen-SS auch das Holztor zum Hof des Krematoriums und die massive Tür gezimmert, die die Gaskammer luftdicht verschloß. Installateure hatten eine Wasserleitung in die Räume des Krematoriums gelegt und reparierten sie, wenn nötig, damit der Betrieb nicht ins Stocken kam. Das Maurerkommando errichtete anstelle des runden Kamins, der beim Brand des Krematoriums zerstört worden war, einen neuen, mächtigen viereckigen Schornstein. Ein Kommando von Fuhrleuten brachte mit Pferdegespannen Koks und Holz zur Verbrennung der Ermordeten herbei und transportierte vom Hof des Krematoriums und aus den Magazinen die Kleider und Effekten der Vergasten ab, das einzige, was außer Asche von ihnen übriggeblieben war.

Es war jedoch nicht nur die schwere physische Arbeit, mit der die Häftlinge zu ihrem eigenen Untergang beitragen mußten. Im Hexenkessel von Auschwitz, wo Menschen zu Tausenden dahinstarben wie Fliegen, wurden Häftlinge in den Prozeß des gewaltsamen Sterbens so einbezogen und manipuliert, daß die Nazis vom ersten Augenblick ihre Mitwirkung an dem Massenmord, der unentdeckt bleiben sollte, erzwangen.

Die Vereinigung mit dem Heizerkommando hatte uns aus unserer trostlosen Isolierung befreit, und dadurch hatte sich auch unsere Stimmung etwas gehoben. Wir merkten jedoch bald, daß uns eine Gefahr drohte, mit der wir nicht gerechnet hatten. Sie ging aber nicht von SS-Leuten, sondern von den eigenen Reihen aus, nämlich von Mietek Morawa, einem jungen, stämmigen, blonden Polen. Als Zwanzigjährigen hatte man ihn im Herbst 1940 nach Auschwitz verschleppt. Auf seiner Brust war die Häftlingsnummer 5730 eintätowiert. Auf der Bluse trug er den roten Winkel der politischen Häftlinge, und das bedeutete im Lager schon etwas. In dem Milieu des Grauens und der Brutalität war aus dem jungen Mietek ein Rohling und Sadist geworden. Aber nur jüdische Mithäftlinge waren das Ziel seiner brutalen Attacken. Vielleicht war das damit zu erklären, daß Morawa infolge seiner ständigen Kontakte mit den SS-Leuten zu der Überzeugung gelangt war, daß an allem, was im Lager und auch draußen passierte, vor allem aber am Krieg, die Juden schuld seien, die ihn – wie es die Nazipropaganda ausposaunte – angezettelt und alles Leid, das er über die Menschen brachte, verschuldet hatten. Jedenfalls hatten ein übertriebener Nationalismus und unerklärbarer Judenhaß den Kapo des Krematorium-Kommandos zu einem gefürchteten Mörder seiner Mithäftlinge werden lassen. Treu und ergeben diente er den Henkern. Er wurde, nachdem er ein Günstling der Gestapomänner Grabner und Quackernack geworden war, immer überheblicher und brutaler. Schon in den ersten Tagen nach der Vereinigung des Fischlkommandos mit dem Heizerkommando kam es zwischen unserem Vorarbeiter und dem polnischen Kapo zu einem ernsten Zwist. Beide bestanden auf ihrer führenden Stellung. Morawa besaß das Vertrauen der Politischen Abteilung der Gestapo und die Unterstützung der mit ihm im Krematorium arbeitenden Polen Josef Ilczuk und Wacław Lipka. Fischls Stütze war der Lagerführer Aumeier. Außer uns fünfen aus Fischls Kommando ergriffen aber auch die drei jüdischen Heizer aus Morawas Kommando für Fischl Partei. Von ihnen erfuhren wir, wie hart und brutal Morawa sie traktierte und wie viele unschuldige Häftlinge er schon ins Jenseits befördert hatte.

Gleich nach der Vereinigung der beiden Kommandos versuchte Mietek Morawa, auch einen von uns zu erledigen, aber Fischl bot ihm die Stirn und verhinderte es. So hatte das Auschwitzer Krematorium im Sommer 1942 praktisch zwei Kapos. Den offiziellen Kapo Mietek Morawa und Fischl, der sich durch seine körperlichen Kräfte und sein unerschrockenes Auftreten die nötige Autorität erworben hatte. Während unschuldige Opfer in der Gaskammer ihre Seelen aushusteten, rangelten und stritten die beiden Kapos um ihre Autorität und um die Herrschaft über das Kommando. Morawas Verhalten war brutal, und die Zeit, die ich in seinem Kommando verlebte, gehörte zu der schlimmsten meines Lebens. Er stand seinen SS-Vorbildern nicht nach, wenn es darum ging, Mithäftlinge zu demütigen, zu schikanieren oder neue Grausamkeiten zu erfinden. Als der Sommer zu Ende ging, starb Fischl an Flecktyphus. Schon vor seiner Inhaftierung in Auschwitz war sein Leben eine Kette von Erschütterungen und tragischen Erlebnissen gewesen. Doch der junge, dreiundzwanzigjährige Fischl war ihnen nicht unterlegen. Seine Erlebnisse hatten ihn bestärkt und gelehrt, sich in den schlimmsten und gefährlichsten Situationen zurechtzufinden. Schon bald nach dem Einmarsch der Nazis in Polen war sein Vater vor seinem Fleischerladen von Nazi-Soldaten erschossen worden. Seine Mutter, durch den Tod ihres Mannes vergrämt, war bald darauf gestorben. Wegen angeblichem Schwarzhandel mit Fleisch wurde der junge Fischl dann verhaftet und ins Gefängnis geworfen, nach einigen Monaten jedoch ohne Untersuchung und ohne Gerichtsurteil nach Auschwitz gebracht. Ins Krematorium war er ein paar Stunden früher als ich gekommen. Der Lagerführer Aumeier hatte ihn ausgesucht, als er im Block 11 nach »starken Männern für eine gute Arbeit« Ausschau hielt. Ohne zu zögern hatte sich Fischl gemeldet, doch als er durch das Tor des Krematoriums trat und im Verbrennungsraum eine Menge Leichen sah, war er genauso schockiert wie ich. Seine Erfahrung hatte ihn aber schon eher als uns gelehrt, daß ein Aufbegehren gegen die SS einem Todesurteil gleichkam. Im Gefängnis hatte er nicht nur die Mentalität der SS-Leute kennengelernt, sondern auch die Fähigkeit, sich ihnen anzupassen und sie für sich einzunehmen. Vom ersten Augenblick an zeigte er bei der Arbeit nicht den kleinsten Deut von Unentschlossenheit, Erschrockenheit oder Unsicherheit. Er reagierte augenblicklich und prompt auf alle Befehle der SS-Leute, führte sie rasch und verläßlich aus, als gehörte das, was im Krematorium vorging, zu den alltäglichen Selbstverständlichkeiten. Er hatte sich im Laufe von ein paar Stunden erstaunliche Fertigkeiten beim Verbrennen von Leichen angeeignet, und durch die vorgespiegelte Beflissenheit eines zu allem entschlossenen Rabauken gewann Fischl von Anfang an die Sympathien, man könnte fast sagen das Wohlwollen des allmächtigen Aumeier. Dabei spielte Fischl ein doppeltes, sehr gefährliches Spiel, das er im Umgang mit den SS-Männern virtuos beherrschte. Meisterhaft täuschte er auch die von ihm erwartete unerläßliche Härte des Kapos vor, ohne aber jemals die Gesundheit, geschweige denn das Leben eines seiner Mithäftlinge zu gefährden. Fischl war kein Engel, aber auch alles andere als ein Mörder, und nach seinem Tod gelang es keinem mehr von uns, eine solche Autorität zu erlangen und ein ähnliches Gegengewicht gegen den rücksichtslosen Mietek Morawa zu bilden. Mit Fischls Tod aber ließ Mietek seine letzten Skrupel fallen.

So konnte ihn beispielsweise der Zustand eines der Fahrräder, die wir Häftlinge unter seiner Aufsicht für die SS-Leute von der Politischen Abteilung putzen mußten, wenn es ihm nicht sauber genug schien, in wilde Raserei versetzen. Auch dann, wenn er etwa auf den geschrubbten Steinen, mit denen der Hof des Krematoriums gepflastert war, eine kaum noch merkliche Spur von Blut fand, spielte er verrückt. Gab es im Krematorium einmal keine Leichen zu verbrennen, dann duldete Morawa bei seinen Untergebenen keinen Müßiggang. Er jagte alle in einem fort herum und dachte sich alle möglichen Schikanen aus. Wir mußten fegen, putzen, polieren, während er alles peinlich kontrollierte. Mit Vorliebe widmete er sich den Winkeln und Ecken im Verbrennungsraum, wobei er mit den Fingerkuppen über die gußeisernen Armaturen der Öfen fuhr und einen Tobsuchtsanfall bekam, wenn vielleicht etwas Staub oder Schmutz daran haften blieb. Nach einer Litanei unflätiger Flüche und antisemitischer Drohungen forderte er dann den »Schuldigen« auf, sich zu melden. Wenn er ihn gefunden hatte, kam gewöhnlich der Befehl: »Maurice, Taburett!« Der von Mietek für schuldig Befundene mußte sich auf den Holzschemel legen, den Maurice geholt hatte. Dann hagelte eine Tracht Prügel, meist 25 Stockschläge auf das entblößte Gesäß des Unglücksraben. Am schlimmsten waren immer die ersten Schläge, bei denen die meisten »Delinquenten« sich bemachten. Erfahrene Häftlinge bissen die Zähne zusammen, um die ersten wütenden und heftigen Hiebe ohne sichtbare Regung zu ertragen, weil danach die Wut des Kapos abzuebben pflegte. Wenn einer die ersten Prügel aushielt, ohne zu mucksen, pflegte Morawa auf polnisch zu sagen: »Du Hurensohn, du bekommst nur fünfzehn, weil du so lange stillgehalten hast.«

Neue Häftlinge, die schon bei den ersten Schlägen schrien, sich krümmten, vom Taburett sprangen oder gar noch vor Mietek auf die Knie fielen und um Erbarmen flehten, steigerten nur seinen Zorn und seine Wut. Morawa prügelte sie dann blindlings, schlug sie auf die Hände und auch auf den Kopf, und je mehr sich der Bedauernswerte krümmte und vor Schmerzen wand, desto brutaler schlug der Kapo zu, wobei er nicht selten seine Opfer totknüppelte. Auf diese Weise verringerte Morawa innerhalb von wenigen Tagen die Zahl seiner ersten jüdischen Mithäftlinge von acht auf sechs. Für die Erschlagenen kamen neue kräftige Häftlinge, die aus dem nächsten Transport ausgesucht wurden.

Morawa unterschied sich von den übrigen Häftlingen nicht nur durch seine Brutalität, sondern auch durch sein gepflegtes Äußeres. Immer hatte er eine saubere, maßgeschneiderte Montur an, auch sein täglich frisches Hemd trug einiges zu seinem dandyhaften Aussehen bei. Wer ihn einmal beobachtete, wie er mit seinen polnischen Gefährten vertraulich, ja fast freundschaftlich plauderte, oder zuhörte, wie er sich im Kreis der Lagerprominenten unterhielt, hätte nie geglaubt, daß dieser Mensch sich von einem Augenblick zum andern in einen Totschläger verwandeln konnte.

Ein besonders gutes Verhältnis hatte Mietek Morawa zu dem Unterscharführer Lorenz, einem Untergebenen des Gestapochefs Grabner. Lorenz machte mit seinem schwarzen, an einen Zigeuner erinnernden Schnurrbart und seinem schon etwas vorgerückten Alter einen leutseligen und gutmütigen Eindruck. Er sprach perfekt polnisch und redete mit Morawa nur in dessen Muttersprache. Dieser nannte ihn familiär, ja fast zärtlich, dziadunio, was soviel wie Großväterchen bedeutet. Lorenz tauchte fast täglich, manchmal mehrmals im Krematorium auf, um nachzusehen, ob Morawa für ihn und seine Spießgesellen in der Politischen Abteilung etwas organisiert hatte. Auch diese Aufgabe erfüllte Mietek Morawa offenbar zur vollen Zufriedenheit von Lorenz, denn nur so war das ungewöhnlich intime Verhältnis zwischen einem Häftling und einem SS-Unterführer zu erklären.

Nach jeder Demonstration seiner Stärke und Autorität notierte sich Morawa die Nummer des Erschlagenen und ging in die nahe Gestapo-Baracke, um die Dezimierung des »Mannschaftsstandes« zu melden und um Ersatz nachzusuchen. Anfangs erschien dann regelmäßig ein SS-Mann, um die Identität des Getöteten zu überprüfen. Später kam keiner mehr, denn inzwischen hatte sich der Kapo des Krematoriums das volle Vertrauen seiner SS-Vorgesetzten erworben. Morawa wohnte mit seinen zwei polnischen Gefährten mitten unter der Lagerprominenz auf Block 15, während wir weiterhin auf Block 11 in unserer Isolierung blieben.

Es war Spätherbst 1942, als wir eines Tages Unterscharführer Stark vermißten. Zunächst rätselten wir herum, ob er krank war und wiederkommen würde oder ob man ihn vielleicht versetzt hatte. Als er nach einer Woche immer noch nicht wieder aufgetaucht war, kam das Gerücht auf, er sei an die Front versetzt worden. Einige wollten auch wissen, daß er Studienurlaub bekommen habe. Wir sahen ihn jedenfalls von dieser Zeit an nicht mehr im Krematorium. Keiner weinte ihm eine Träne nach.

Die Tötung von Menschen durch Gas war nicht die einzige Art des Massenmords in Auschwitz. Eine andere Art der Hinrichtung, von der ich an der schwarzen Wand des Blocks 11 häufig Zeuge geworden war, wurde auch in der Gaskammer des Krematoriums praktiziert, die wir auch als »Leichenhalle« bezeichneten. Kam ein zur Liquidierung bestimmter Transport mit weniger als 200 Menschen an, dann wurden sie meistens nicht durch Gas, sondern durch Genickschuß getötet. In solchen Fällen führten Morawa und seine zwei polnischen Gehilfen die Todeskandidaten einen nach dem andern zu der holzverkleideten Wand der »Leichenhalle« und hielten sie dort mit eisernem Griff fest. Die diensthabenden SS-Männer schickten dann die Opfer wie am laufenden Band eines Schlachthofs durch Genickschüsse aus schallgedämpften Kleinkalibergewehren in den Tod. Wurden Juden auf diese Weise umgebracht, dann ließ dies Morawa kalt. Er führte sie ruhig und gelassen zur Hinrichtung. Mußte er aber Polen auf ihrem letzten Weg begleiten, dann hatte er meist Tränen in den Augen. Wenn solch eine Exekution zu Ende war, gebärdete sich Morawa wie ein Irrer. Er zitterte dann vor Erregung und schrie uns zornig an: »Ihr jüdischen Hurensöhne, ihr seid schuld daran, daß meine Landsleute umgebracht werden!« In derartigen Situationen stürzte er sich oft wie wild auf einen jüdischen Häftling und prügelte ihn so lange mit einem Knüppel, bis der arme Teufel tot war. Ilczuk und Lipka versuchten oft, Morawa ins Gewissen zu reden und ihn von seinen Rasereien abzuhalten. Aber ihr Bemühen war meistens vergeblich, so daß sie schließlich schwiegen, weil sie fürchteten, der Kapo könnte seine ungezügelten Aggressionen gegen sie selbst richten.

Vielleicht ist es schwer zu verstehen, wie schnell sich in diesem Milieu, in dem wir lebten, die Charaktere vieler Häftlinge veränderten. Aber weder Intelligenz, noch Bildung schützten vor einer Deformierung der Persönlichkeit und des Charakters, und gerade der junge Krakauer Student Mieczislaw Morawa war ein typisches Beispiel dafür.

Erst später habe ich erfahren, welchem Umstand Morawa seine »Karriere« als Kapo verdankte. Bevor er ins Krematorium kam, hatte es zu seinen Aufgaben gehört, in der Politischen Abteilung die Fahrräder zu reinigen. Dabei muß er dem Gestapochef Grabner durch seinen Eifer, seine Beflissenheit, seine Pedanterie und Zuverlässigkeit so imponiert haben, daß dieser ihn zum Kapo im Krematorium machte.

In den Öfen der Krematorien wurden auch die Toten verbrannt, die in anderen Lagerbereichen verstorben waren. Jeden Abend brachte man mit einem Rollwagen die Leichen aus dem Auschwitzer Krankenbau. Es waren hauptsächlich Muselmänner. So wurden Häftlinge genannt, die seelisch und vor allem körperlich vollkommen heruntergekommen waren. Sie bestanden nur noch aus Haut und Knochen und waren ohne Muskeln und ohne Fett. Ihre dünne, pergamentartige Haut war von den spitzen Knochen des Skeletts oft durchgescheuert, so daß sich schwärende, entzündliche Wunden gebildet hatten.

Sie waren vor Entkräftung gestorben oder mit Phenolinjektionen »abgespritzt« worden. Auch Opfer pseudomedizinischer Versuche waren manchmal unter den Toten. Die Leichenträger, die den Rollwagen vom Krankenbau auf den Hof des Krematoriums herüberschieben mußten, waren weiß gekleidet. Meistens kamen sie zu sechst oder zu siebt. Beim Abladen kletterten zwei von ihnen auf den Wagen hinauf und warfen die Leichen herunter. Dabei packte einer die Toten an den Handgelenken, der andere an den Fersen. Dann schaukelten sie diese ein paarmal hin und her und ließen sie, wenn sie genügend Schwung hatten, los, so daß sie klatschend auf das Pflaster aufschlugen. Die Geräusche, die man oft vernehmen konnte, wenn den Toten beim Aufprall Luft aus dem Mund oder dem Darm entwich, hörten sich gespenstisch an.

Während die übrigen Leichenträger jeweils rechts und links einen Toten ins Krematorium schleiften, wurde das Pflaster ständig mit Wasser begossen, damit die Last besser rutschte. Sobald alle Leichen ins Krematorium geschafft worden waren, reinigten die Leichenträger noch den Hof, bevor sie den Rollwagen in den Krankenbau zurückbrachten.

Auch der Anblick von anderen Toten aus dem Krankenbau war oft grauenhaft. Häufig waren zerstückelte und sezierte Leichen unter ihnen, viele der jungen Männer und Frauen hatten auffällige Verbrennungen und Eiterungen an den Hoden und am Unterleib oder Geschwüre am Bauch und an den Schenkeln. Wieder andere waren rosa-bläulich verfärbt oder hatten lilafarbene Gesichter und verkrampfte Kinnbacken. Auch die auf dem Hof von Block 11 durch Genickschuß hingerichteten Opfer wurden ins Krematorium gebracht, um hier verbrannt zu werden.

Fast jede Nacht wurde auch ein Lastwagenanhänger auf dem Hof des Krematoriums abgestellt. Er war mit Leichen von Häftlingen beladen, die im Lager Birkenau verstorben oder getötet worden waren. Morgens mußten wir ihn abladen. Dabei wurde einfach der vordere Teil der Ladefläche hochgekurbelt, so daß die Leichen herunterrutschten und auf das Pflaster fielen.

Sogar wir Häftlinge des Sonderkommandos erschauerten beim Anblick der Toten, die von Zeit zu Zeit in Holzkisten mit einem Auto der Gestapo von Kattowitz ins Krematorium gebracht wurden. Wenn diese Kisten geöffnet worden waren, fanden wir meistens zwei ausgeblutete, bleiche Rümpfe, zu deren Füßen die abgeschlagenen Köpfe mit ausdruckslosen Augen lagen.

Unter den Geköpften, die aus Kattowitz ins Krematorium gebracht wurden, war eines Tages auch der Leichnam des deutschen Bürgermeisters von Auschwitz. Als er ins Krematorium kam, war er zur Einäscherung noch nicht freigegeben worden. Erst als einige SS-Leute der Politischen Abteilung die Leiche inspiziert hatten, durfte sie verbrannt werden. Wir erfuhren, daß man den Bürgermeister wegen Unregelmäßigkeiten guillotiniert hatte.

Von Zeit zu Zeit kamen auch SS-Ärzte ins Krematorium, meistens Hauptsturmführer Kitt und Obersturmführer Weber. An solchen Tagen ging es wie in einem Schlachthof zu. Vor den Hinrichtungen befühlten die beiden Ärzte wie Viehhändler die Schenkel und Waden der noch lebenden Männer und Frauen, um sich »die besten Stücke« auszusuchen. Nach der Erschießung wurden die Opfer auf einen Tisch gelegt. Dann schnitten die Ärzte Stücke von noch warmen Fleisch aus den Schenkeln und Waden heraus und warfen es in bereitstehende Behälter. Die Muskeln der gerade Erschossenen bewegten sich noch und konvulsierten, rüttelten in den Eimern und versetzten diese in ruckartige Bewegungen. Anfangs dachten wir, die Nazis würden das Menschenfleisch zu plastischen Operationen an verwundeten Soldaten verwenden. Erst später erfuhren wir, daß dieses Fleisch in das Hygiene-Institut Rajsko gebracht wurde, wo man es im Labor zum Züchten von Bakterienkulturen verwendete. »Pferdefleisch würde es auch tun, aber dafür ist es im Krieg zu schade«, hörte ich Quackernack einmal sagen.

Der Dauerbetrieb, vor allem die damit verbundene Überbeanspruchung der Öfen, mit der man bei der Errichtung des Krematoriums offensichtlich nicht gerechnet hatte, ließ die Schamottziegel der Innenauskleidung zerbröckeln, so daß der Kamin schließlich einzustürzen drohte. Daher wurde im Sommer 1942 ein neuer, viereckiger Kamin mit doppelter Schamottauskleidung an die Öfen angebaut. Während dieser Arbeiten wurde aber der Betrieb im Krematorium nicht unterbrochen. Am Bau des Schornsteins arbeitete ein etwa 30köpfiges Kommando. Es waren überwiegend jüdische Häftlinge. Von einem, der aus der Slowakei stammte, erfuhr ich, daß mein Vater kürzlich mit einem Transport aus dem Konzentrationslager Lublin nach Auschwitz gekommen sei. Ich suchte nun fieberhaft nach ihm. Als ich herausgefunden hatte, auf welchem Block er untergebracht war, gelang es mir, gegen Dollars und Brillanten, die ich organisiert hatte, den Kapo des Maurer-Kommandos dazu zu bringen, meinen Vater in sein Kommando aufzunehmen. Eines Morgens, als ich gerade mit einer Schubkarre Schlacke aus dem Krematorium herausfuhr, traf ich in der kleinen Holzbude des Kapos unweit des im Bau befindlichen Kamins meinen Vater wieder. Weder wußte, noch ahnte er, in was für einem verfluchten Kommando ich arbeitete. Erregt vor Freude über unser Wiedersehen umarmte er mich, streichelte meine Wangen und sagte immer wieder mit vor Rührung bebender Stimme: »Mein lieber Junge, Tag für Tag habe ich Ausschau nach dir gehalten und dich unter den Musikanten des Lagerorchesters gesucht. Ich hab gewußt, daß du dort bist.«

Dann wandte er sich an einen neben ihm stehenden Häftling und fügte mit Befriedigung, ja mit einem gewissen Stolz hinzu: »Was für ein Glück, daß mein Filip so ein wunderbarer Geiger ist. Das wird ihn vor dem Schlimmsten bewahren.«

Ich hatte nicht die Kraft, länger zu verweilen. Was hätte ich in diesem Augenblick meinem Vater antworten sollen, diesem redlichen, auf die Wahrheit eines Wortes noch immer vertrauenden Menschen. Was hätte ich ihm sagen sollen, ihm, der von den Intrigen der faschistischen slowakischen Hlinka-Garde angewidert war und sich schon im Februar 1942 freiwillig für einen Transport nach Osten gemeldet hatte, um – wie er im Brustton ehrlicher Überzeugung erklärt hatte – dort mitzuhelfen, für seine Familie eine neue Existenz aufzubauen. Und nun, bei unserer Begegnung, unterdrückte er all seine Enttäuschung. Er versuchte alles Böse und Schlimme zu verdrängen, und versetzte sich in eine Art Traumwelt, die nur noch aus frommen Wünschen bestand. Am liebsten hätte ich herausgeschrien: »Du irrst dich, Vater, dein Sohn Filip, einst hoffnungsvoller Gymnasiast und Absolvent der Geigenschule von Professor Rihák, ist kein Musiker, sondern ein Leichenverbrenner! Hörst du, Vater, dein Sohn Filip ist Heizer im Krematorium! Doch meine Kehle war wie zugeschnürt und keines Wortes fähig. Tränen in den Augen, lief ich aus der dunklen Hütte, ergriff den Schubkarren und rannte zur Tür des Krematoriums. Es war auch höchste Zeit, denn Mietek Morawa erkundigte sich gerade, wo ich geblieben sei.

Ich traf meinen Vater noch einige Male. Trotz aller Hilfe und Unterstützung, die ich ihm hatte zukommen lassen, siechte er immer mehr dahin. Eines Tages merkte ich, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich sah, daß er fieberte. An seinen glänzenden Augen und den aufgesprungenen Lippen war unschwer zu erkennen, daß er an Flecktyphus erkrankt war. Als wenige Tage später der Rollwagen vom Krankenbau kam und auf dem Hof abgeladen wurde, lag unter den Toten auch sein Leichnam. Meine Kameraden trugen ihn ins Krematorium und legten ihn im Verbrennungsraum auf den Trog des Rollwagens. Vor den glühenden Öfen betete Schwarz den Kaddisch. An diesem Ort der Verdammnis, in einer Atmosphäre, die ein Gefühl der Eitelkeit alles Irdischen, der Vergänglichkeit und der Hoffnungslosigkeit vermittelte, blieb Schwarz unerschüttert und unerschütterlich und pries, getreu der jahrtausendealten Tradition seiner Vorfahren, den HERRN und Schöpfer: »Erhaben und geheiligt sei sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen erschaffen hat. Er wird regieren in seinem Reich, in Eurem Leben, in Euren Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel zu dieser Zeit und in alle Ewigkeit. Amen.«

Ich hatte schon geglaubt, nach all den erlebten Greueln und Brutalitäten wären jegliche menschlichen Regungen und Gefühle in mir erstorben. Als aber Schwarz den Kaddisch sprach, in hebräischen Worten, die ich damals kaum verstand, empfand ich in meiner Seele unsagbaren Schmerz und tiefe Trauer, die ich mit Worten nicht auszudrücken vermag. Doch das Gebet half mir, den Schmerz zu überwinden und mein Herz zu beschwichtigen in dieser schweren Stunde, als die Flammen die sterblichen Überreste meines Vaters unwiderbringlich verzehrten. In meinem Gram und Leid hing ich merkwürdigen und seltsamen Gedanken nach: Sollte ich vielleicht doch durch ein Wunder dieser Hölle entrinnen? Würde die Welt vielleicht eines Tages mein Zeugnis ungläubig zur Kenntnis nehmen? Eilte die Zivilisation, in deren Namen und mit deren Mittel hier ein altes Kulturvolk vernichtet wurde, nicht mit Riesenschritten ihrem Untergang entgegen?

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