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Grußwort des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, und des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Dr. Felix Klein für die Neuauflage des Buches »Sonderbehandlung« von Filip Müller
ОглавлениеWas kann ein Mensch ertragen, was hält er aus? Filip Müller hat nicht nur das Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Er hat als Angehöriger des sogenannten »Sonderkommandos« hautnah miterlebt, wie so viele Menschen den grausamen Tod fanden. Angesichts des doppelten Unrechts, das Filip Müller widerfahren ist, und seiner unglaublichen Stärke, nicht nur unfassbaren Terror und Gewalt in Auschwitz zu überleben, sondern davon auch gegen alle denkbaren Widerstände trotz alledem Zeugenschaft ablegen und berichten zu wollen, angesichts dessen ist diese Neuauflage ein kleines und doch so notwendiges wie längst überfälliges Zeichen.
Dieses Buch schrieb Filip Müller in den 1970er-Jahren zu einer Zeit, die dafür noch nicht reif schien. Ebenso mutig stellte er sich wenige Jahre später in Claude Lanzmanns Filmaufnahmen für den Dokumentarfilm »Shoah« seinen kaum aushaltbaren Erinnerungen. Filip Müller wollte erzählen, er wollte gehört werden, doch weder in Bezug auf den Film noch auf sein Buch wurde ihm das vergönnt: Lanzmann beließ die Szenen, in denen Müller zusammenbricht, gegen dessen ausdrücklichen Wunsch im Film. Die unrühmliche Rezeptionsgeschichte des Buches, wie auch die der Bemühungen Filip Müllers, noch vor seiner Migration in die BRD in Tschechien von seinem Schicksal zu berichten, stellt Andreas Kilian in seinem wertvollen Nachwort zu dieser Neuausgabe dar.
Der Stellenwert dieses hier neu aufgelegten Buches kann kaum hoch genug geschätzt werden. Es ist ein historisches Zeugnis: nicht nur als Augenzeugenbericht »aus der Hölle«, wie die Tätigkeit im Sonderkommando im hilflosen Versuch, das Geschehen angemessen zu beschreiben, häufig genannt worden ist. Dieses Buch ist zudem in seiner jetzigen, ergänzten und gerahmten Fassung auch ein Dokument der »Zweiten Geschichte« des Nationalsozialismus (Peter Reichel). Die Memorialgeschichte der Shoah ist zu ihrem noch größten Teil, bis in die 1980er-Jahre, aus heutiger Sicht nahezu ebenso unfassbar wie die Shoah selbst. Leicht ist heute vergessen, dass es bis zur Ausstrahlung der US-amerikanischen Miniserie »Holocaust« gar kein Wort für die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, der Sinti und Roma und vieler anderer nicht zur sogenannten »Volksgemeinschaft« zählenden Unschuldigen gab. Doch unsere heutige Erinnerungskultur wurde hart erkämpft, von vielen Unbeugsamen. Einer ihrer Vorreiter war Filip Müller. Es ist tragisch, dass er zu Lebzeiten dafür kaum Anerkennung erfuhr. Stattdessen wurde er erneut zum Opfer antisemitischer Angriffe. Was kann ein Mensch ertragen? Allzu viel. Und allzu schnell halten viele, die tatsächlich kaum etwas über die Shoah wissen, die deutsche Medienlandschaft für »übersättigt« von Erzählungen über den Holocaust. Allzu leicht werden heute wieder Rufe nach Schlussstrichen laut. »Die Ermordeten sollen noch um das einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann, das Gedächtnis«, schrieb Adorno dazu schon 1969,1 von der »zweiten Schuld«, der Opfer nicht zu erinnern, sprach Ralph Giordano später.2
Damals wie heute und auch in Zukunft erwächst aus der Shoah die Verantwortung unserer Gesellschaft, der Opfern zu gedenken. Unsere gegenwärtige Erinnerungskultur steht auf breiten Füßen, das heutige Deutschland ist eine stabile Demokratie. Zugleich ist dieser Zustand nicht selbstverständlich. Demokratie und Erinnerungskultur müssen jeden Tag aufs Neue verteidigt werden gegen jene, die sie wieder angreifen.
Dieses Buch zu lesen, kostet Kraft. Für manche mögen diese Zeilen angesichts des Grauens, der aus ihnen spricht, nur schwer zu ertragen sein. Doch erinnern wir uns, dass die hier beschriebenen Schrecken nur ein blasser Schatten des ursprünglichen Geschehens sind. Filip Müllers Buch ist ein Versuch, das Unvorstellbare zu dokumentieren, auf dass dessen gedacht werde. Möge dieses Buch viele Leserinnen und Leser erhalten sowie die Aufmerksamkeit und Anerkennung bekommen, die Filip Müller verwehrt wurde.
In ehrendem Angedenken an Filip Müller sel. A.
Dr. Josef Schuster und Dr. Felix Klein
1Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit«, Frankfurt am Main 1971: S. 12.
2Ralph Giordano (1987): Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein. Köln.