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2. Ein alter Possenreißer

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Sie betraten das Zimmer fast gleichzeitig mit dem Starez, der bei ihrem Erscheinen aus seiner Schlafkammer herauskam. In der Zelle warteten bereits zwei Priestermönche aus der Einsiedelei auf den Starez, der Vater Bibliothekar und der Vater Paissi, ein kranker, noch nicht einmal alter Mann, der als sehr gelehrt galt. Außerdem wartete in einer Ecke, die er in der ganzen folgenden Zeit nicht verließ, ein etwa zweiundzwanzigjähriger junger Mann in ziviler Kleidung, ein Seminarist und künftiger Theologe, der aus irgendeinem Grunde die Protektion des Klosters und der Brüderschaft genoß. Er war ziemlich groß und hatte ein frisches Gesicht, breite Backenknochen und kluge, aufmerksam blickende schmale braune Augen. Sein Gesicht drückte grenzenlose, dabei anständige, nicht buhlerische Ehrerbietung aus. Die eintretenden Gäste begrüßte er nicht einmal mit einer Verbeugung, als sei er nicht ihresgleichen, sondern untergeordnet und abhängig.

Der Starez Sossima trat in Begleitung Aljoschas und eines Novizen ein. Die Priestermönche erhoben sich und begrüßten ihn mit einer sehr tiefen Verbeugung, bei der sie mit den Fingern den Boden berührten; darauf empfingen sie den Segen und küßten ihm die Hand. Nach der Erteilung des Segens verbeugte sich auch der Starez tief vor jedem von ihnen, wobei er gleichfalls den Boden berührte, und erbat auch für sich von jedem den Segen. Die Zeremonie ging sehr ernsthaft vor sich, durchaus nicht wie ein alltäglicher Ritus, sogar mit einem gewissen Gefühl. Miussow schien es jedoch, als geschehe das mit der Absicht, Eindruck zu machen. Er stand vor den anderen, die mit ihm eingetreten waren; er hätte also, wie er ei sich am Abend auch vorgenommen hatte, ohne Rücksicht auf irgendwelche Ideen, einfach aus Höflichkeit, vortreten und sich, da es hier nun einmal Brauch war, von dem Starez segnen lassen müssen – der Handkuß konnte ja unterbleiben. Als er jedoch die Verbeugungen und Handküsse der Priestermönche sah, änderte er sofort seinen Entschluß; würdevoll und ernst machte er eine ziemlich tiefe Verbeugung nach weltlicher Art und ging dann zu einem Stuhl. Genau so verhielt sich Fjodor Pawlowitsch, der wie ein Affe Miussow kopierte. Iwan Fjodorowitsch verbeugte sich würdevoll und höflich, behielt aber ebenfalls die Hände an der Hosennaht; Kalganow endlich war so verlegen, dass er sich gar nicht verbeugte, Der Starez ließ die schon zum Segnen bereite Hand wieder sinken, verbeugte sich zum zweitenmal vor ihnen und bat sie, Platz zu nehmen. Aljoscha brannte das Blut in den Wangen; er schämte sich. Seine schlimmen Ahnungen erfüllten sich.

Der Starez setzte sich auf ein kleines, lederbezogenes Mahagonisofa von altmodischer Bauart; die Gäste hatte er bis auf die beiden Priestermönche an der gegenüberliegenden Wand Platz nehmen lassen, in einer Reihe, auf vier Lehnstühlen, die mit stark abgewetztem schwarzem Leder ausgeschlagen waren. Die Priestermönche setzten sich etwas abseits, der eine an die Tür, der andere ans Fenster. Der Seminarist, Aljoscha und der Novize blieben stehen. Die Zelle bot nicht allzu viel Raum und sah gewissermaßen verfallen aus. Die Möbel waren schlicht und ärmlich, es war nur das Nötigste vorhanden. Auf dem Fensterbrett standen zwei Blumentöpfe, in der einen Ecke befanden sich viele Ikonen; eine davon, eine Darstellung der Muttergottes, war sehr groß, sie war offenbar lange vor der Kirchenspaltung gemalt worden. Vor diesem Bild brannte ein Lämpchen. Daneben hingen zwei andere Heiligenbilder in glänzenden Rahmen, und außerdem gab es zwei holzgeschnitzte Cherubim, Ostereier aus Porzellan, ein Kruzifix mit der Mater dolorosa und aus Elfenbein einige ausländische Stiche nach berühmten italienischen Meistern früherer Jahrhunderte. Neben diesen schönen und kostbaren Stichen prangten ein paar vulgäre russische Lithographien von Heiligen, Märtyrern, Metropoliten und so weiter, wie sie für wenige Kopeken auf den Jahrmärkten verkauft werden. Auch einige lithographierte Porträts zeitgenössischer und früherer russischer Bischöfe waren vorhanden, allerdings an den anderen Wänden. Miussow ließ seine Augen flüchtig über »den ganzen Kram« hingleiten und blickte dann unverwandt auf den Starez. Er hatte von seinem eigenen Blick eine hohe Meinung, eine verzeihliche Schwäche, wenn man bedenkt, dass er schon fünfzig war – ein Alter, in dem kluge und in gesicherter Stellung lebende Leute von Welt sich selbst mehr und mehr zu verehren pflegen, manchmal ganz unwillkürlich.

Im ersten Augenblick mißfiel ihm der Starez wirklich. In seinem Gesicht lag etwas, was Miussow und vielen anderen mißfallen musste. Er war ein kleiner, gebeugter Mann auf sehr schwachen Beinen, zwar erst fünfundsechzig Jahre alt, doch infolge seiner Kränklichkeit mindestens zehn Jahre älter wirkend. Sein mageres Gesicht war übersät mit kleinen Runzeln, besonders um die Augen. Die Augen waren nicht groß, aber hell, sehr beweglich und glänzend wie leuchtende Punkte. Das graue Haar hatte sich nur an den Schläfen erhalten; das spitze Bärtchen war klein und dünn, die Lippen, die öfters zu lächeln pflegten, waren schmal wie zwei Schnürchen. Die Nase war nicht sehr lang, dafür spitz wie der Schnabel eines Vogels.

›Allen Anzeichen nach ist das ein boshaftes und kleinlich anmaßendes Seelchen‹, schoß es Miussow durch den Kopf. Und überhaupt war er mit sich sehr unzufrieden.

Das Schlagen einer Uhr half, das Gespräch in Gang zu bringen. Eine kleine billige Wanduhr mit Gewichten schlug in schnellen Schlägen zwölf.

»Genau die festgesetzte Stunde«, rief Fjodor Pawlowitsch, »aber mein Sohn Dmitri Fjodorowitsch ist noch nicht da. Ich bitte für ihn um Entschuldigung, heiliger Starez!« (Bei dem Ausdruck »heiliger Starez« zuckte Aljoscha zusammen.) »Ich selbst bin immer pünktlich, auf die Minute, denn Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige.«

»Sie sind aber doch kein König«, brummte Miussow, der sich von vornherein nicht beherrschen konnte.

»Ja, das ist richtig, ich bin kein König. Denken Sie nur, Pjotr Alexandrowitsch, ich wußte das selbst, bei Gott! Sehen Sie, ich rede immerzu unpassende Dinge! Euer Ehrwürden«, rief er mit plötzlichem Pathos, »Sie sehen einen echten Possenreißer vor sich! So empfehle ich mich denn auch. Eine alte Angewohnheit von mir, ach ja! Daß ich aber manchmal am unrechten Ort Unsinn schwatze, liegt sogar in meiner Absicht; ich will die Leute erheitern und mich beliebt bei ihnen machen. Man muss sich doch etwas beliebt machen, wie? Kam ich da vor sieben Jahren in ein Städtchen, wo ich so meine Geschäfte hatte; ich wollte mit irgendwelchen Kaufleuten ein Kompaniegeschäft gründen. Wir gehen also zum Isprawnik, zum Bezirkshauptmann, denn wir mußten ihn um dies und jenes bitten und ihn zum Essen einladen. Der Bezirkshauptmann tritt in das Zimmer, in dem wir warten: ein großer, dicker, blonder, finsterer Mensch – in solchen Fällen die gefährlichsten Typen, denen läuft leicht eine Laus über die Leber. Ich sprach ihn ohne weiteres an, mit weltmännischer Ungeniertheit! ›Wissen Sie was, Herr Isprawnik, seien Sie sozusagen unser Naprawnik!‹ ›Was für ein Naprawnik?‹ fragte er. Ich sah augenblicks, dass mein Witz nicht gewirkt hatte; er stand ernst da und sah mich starr an. ›Ich wollte‹, sagte ich, ›zur allgemeinen Erheiterung einen kleinen Scherz machen, da Herr Naprawnik ein berühmter russischer Kapellmeister ist und wir, damit sich unser Unternehmen harmonisch gestalte, gleichfalls so was wie einen Kapellmeister nötig haben.‹ Ein ganz vernünftiger Vergleich und eine ganz vernünftige Erklärung, nicht wahr? ›Entschuldigen Sie‹, sagte er, ›ich bin Isprawnik und erlaube niemand, mit meinem Amtstitel Späße zu treiben!‹ Damit drehte er sich um und ging weg. Ich lief hinter ihm her und rief: ›Ja, ja, Sie sind Isprawnik und nicht Naprawnik!‹ – ›Nein‹, sagte er, ›wenn Sie es nun einmal gesagt haben, bin ich eben Naprawnik!‹ Und denken Sie, unsere Sache ging wirklich in die Brüche! So mache ich es immer. Immer! Ich schade mir unweigerlich durch meine eigene Liebenswürdigkeit! Einmal, vor vielen Jahren, sagte ich zu einer einflußreichen Persönlichkeit: ›Ihre Frau Gemahlin ist eine sehr kitzlige Dame!‹ Ich meinte das in bezug auf Ehre, im geistigen Sinne; er aber erwiderte sofort: ›Haben Sie sie denn gekitzelt?‹ Ich konnte mich nicht beherrschen. ›Nur zu!‹ dachte ich. ›Ich will mal liebenswürdig sein‹ ›Ja‹, sage ich, ›ich habe sie gekitzelt.‹ Na, da hat er mich auch ein bißchen gekitzelt. Aber das ist schon lange, lange her, so dass ich mich deswegen nicht mehr zu schämen brauche. Mein Leben lang schade ich mir selbst.«

»Das tun Sie, auch jetzt«, brummte Miussow voll Widerwillen. Der Starez sah schweigend von einem zum anderen.

»Na, so was! Denken Sie nur, Pjotr Alexandrowitsch, das habe ich gewußt. Mehr noch: ich habe sogar geahnt, dass Sie der erste sein würden, der es mir sagt. In dem Augenblick, Ehrwürden, wo ich sehe, dass eines meiner Späßchen nicht einschlägt, beginnen meine beiden Backen am unteren Zahnfleisch festzutrocknen, und ich bekomme fast eine Art Krampf. Das habe ich schon seit meiner Jugend, als ich Kostgänger bei Adligen war und mich auf diese Art ernährte. Ich bin von Kindesbeinen an ein Possenreißer, und das ist beinahe dasselbe, Ehrwürden, wie Wahnsinn. Möglich, dass wirklich ein unreiner Geist in mit wohnt, wenn auch nur einer von kleinem Kaliber. Ein großer hätte sich eine andere Wohnung gesucht, nur nicht die Ihrige, Pjotr Alexandrowitsch, denn Sie sind ebenfalls keine großartige Wohnung. Dafür bin ich aber gläubig; ich glaube an Gott. Nur in der letzten Zeit habe ich manchmal gezweifelt, aber deshalb sitze ich nun auch hier und warte auf große Aussprüche. Es geht mir wie dem Philosophen Diderot, Ehrwürden. Kennen Sie, heiligster Vater, die Geschichte, wie Diderot zur Zeit der Zarin Katharina zum Metropoliten Platon kam? Er kam herein und sagte geradezu: ›Es gibt keinen Gott!‹ Worauf der große Kirchenfürst den Finger erhob und antwortete: ›Nur ein Tor spricht, in seinem Herzen sei kein Gott!‹ Da warf sich Diderot, wie er ging und stand, auf die Knie und rief: ›Ich glaube und will mich taufen lassen!‹ Und er wurde auf der Stelle getauft. Die Fürstin Daschkowa war seine Patin, Potjomkin sein Pate...«

»Fjodor Pawlowitsch, das ist nicht zu ertragen! Sie wissen selbst, dass Sie Unsinn schwatzen und dass diese dumme Anekdote nicht wahr ist; weshalb schauspielern Sie also?« sagte Miussow mit bebender Stimme und fast schon außer sich.

»Mein ganzes Leben lang habe ich geahnt, dass sie nicht wahr ist!« rief Fjodor Pawlowitsch begeistert. »Ich will Ihnen, meine Herren, dafür auch die ganze Wahrheit sagen. Großer Starez! Verzeihen Sie mir, ich habe das letzte, das von Diderots Taufe, soeben selbst hinzuerfunden, erst diesen Augenblick, als ich das Geschichtchen erzählte; früher ist mir das nie in den Kopf gekommen. Der Pikanterie halber habe ich es hinzuerfunden. Das ist auch der Grund, Pjotr Alexandrowitsch, weswegen ich schauspielere: Ich will mich beliebt machen. Ich weiß übrigens manchmal selber nicht, weshalb ich es tue. Was aber Diderot anlangt, so habe ich dieses ›Nur ein Tor spricht‹ in jungen Jahren an die zwanzigmal von den Gutsbesitzern gehört, bei denen ich lebte; unter anderem hörte ich es von Ihrer Tante Mawra Fominitschna, Pjotr Alexandrowitsch. Sie alle sind heute noch überzeugt, dass Diderot, der Gottesleugner, zum Metropoliten Platon kam, um mit ihm über die Existenz Gottes zu streiten ...«

Miussow stand auf, weil er die Geduld verloren hatte und die Kontrolle über sich verloren zu haben schien. Er war wütend und war sich dabei bewußt, dass er infolgedessen eine lächerliche Figur abgab. In der Tat – etwas Unerhörtes ging vor in der Zelle. Seit vierzig oder fünfzig Jahren, seit der Zeit der früheren Starzen, pflegten sich Besucher hier zu versammeln, aber niemals geschah es anders als in tiefster Ehrfurcht. Fast alle Zugelassenen begriffen beim Betreten der Zelle, dass ihnen eine große Gnade widerfuhr. Viele sanken auf die Knie und standen während des gesamten Besuches nicht auf. Viele hochstehende Persönlichkeiten und hochgelehrte Männer, ja selbst Freidenker, die aus Neugier oder einem anderen Grunde gekommen waren, empfanden Respekt und taktvolles Benehmen als erste Pflicht, wenn sie in Begleitung oder zu einem Gespräch unter vier Augen die Zelle betraten, zumal es hier nicht um Geld ging: Auf der einen Seite war nur Liebe und Gnade und auf der anderen Reue und der sehnliche Wunsch, eine schwere seelische Frage zu entscheiden oder dem eigenen Herzen über einen schweren Moment hinwegzuhelfen. Fjodor Pawlowitschs Possenreißerei, die großen Mangel an Respekt vor dem Ort bekundete, rief deshalb bei den Zeugen, zumindest bei manchen, größtes Befremden und Erstaunen hervor. Die Priestermönche, die übrigens ihren Gesichtsausdruck nicht veränderten, warteten mit gespannter Aufmerksamkeit auf die Worte des Starez, machten sich aber anscheinend schon bereit, wie Miussow aufzustehen. Aljoscha, der mit gesenktem Kopf dastand, war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Am sonderbarsten erschien ihm, dass sein Bruder Iwan Fjodorowitsch, der einzige, auf den er gehofft hatte, weil er allein genügend Einfluß auf den Vater hatte, ihn zurückzuhalten, jetzt regungslos, mit niedergeschlagenem Blick auf dem Stuhl saß und offenbar halb interessiert, halb neugierig abwartete, wie alles enden würde, so als wäre er selbst ganz unbeteiligt. Den Seminaristen Rakitin, mit dem er sehr gut bekannt war, mochte Aljoscha erst gar nicht ansehen: er kannte seine Gedanken, und zwar als einziger im ganzen Kloster.

»Verzeihen Sie mir«, wandte sich Miussow an den Starez, »wenn ich Ihnen gleichfalls an den unwürdigen Späßen beteiligt scheine. Ich bin nur insofern schuldig, als ich geglaubt habe, sogar ein Mensch wie Fjodor Pawlowitsch würde seine Pflicht begreifen, wenn er bei einer so geachteten Persönlichkeit zu Besuch ist. Ich ahnte nicht, dass ich mich allein, weil ich mit ihm hergekommen bin, würde entschuldigen müssen.«

Pjotr Alexandrowitsch sprach nicht zu Ende; er geriet völlig in Verwirrung und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

»Beunruhigen Sie sich nicht, ich bitte Siel« sagte auf einmal der Starez, erhob sich auf seine schwachen Beine, nahm beide Hände Pjotr Alexandrowitschs und nötigte ihn, sich wieder in den Lehnstuhl zu setzen. »Beruhigen Sie sich. Ich bitte Sie ganz, besonders, mein Gast zu sein.« Er machte eine Verbeugung, wandte sich um und setzte sich wieder auf das kleine Sofa.

»Großer Starez, sagen Sie offen: Kränke ich Sie durch meine Lebhaftigkeit?« rief plötzlich Fjodor Pawlowitsch und umfaßte mit beiden Händen die Seitenlehnen des Sessels, bereit, aufzuspringen, je nachdem, wie die Antwort ausfallen würde.

»Ich bitte auch Sie inständig, sich nicht zu beunruhigen und sich keinen Zwang anzutun«, sagte der Starez in eindringlichem Ton. »Tun Sie sich keinen Zwang an, fühlen Sie sich wie zu Hause! Und was die Hauptsache ist, schämen Sie sich nicht so sehr vor sich selbst; denn davon kommt alles.«

»Ganz wie zu Hause? Das heißt in meiner ganzen Natürlichkeit? Oh, das ist viel, allzuviel; trotzdem, ich bin gerührt und nehme an! Aber wissen Sie, gesegneter Vater, rufen Sie nicht nach meiner ganzen Natürlichkeit, riskieren Sie das nicht; so weit möchte selbst ich nicht gehen. Ich warne Sie in Ihrem eigenen Interesse. Na, und alles übrige liegt noch im Dunkel des Unbekannten, obgleich gewisse Leute gern eine genaue Schilderung von mir geben möchten. Das geht an Ihre Adresse, Pjotr Alexandrowitsch. Ihnen aber, heiligstes Wesen, sage ich nur das eine: Ich fließe über vor Entzücken!« Er stand auf und sagte mit erhobenen Händen: »Selig der Leib, der dich trug, und die Brüste, die dich tränkten. Besonders die Brüste! Sie haben soeben durch Ihre Bemerkung: ›Schämen Sie sich nicht so sehr vor sich selbst; denn davon kommt alles das!‹ bewiesen, dass Sie mich durchschaut haben. Wenn ich nämlich irgendwo unter Leuten bin, will es mir immer scheinen, als sei ich gemeiner als sie, als hielten mich alle für einen Possenreißer. Und dann sage ich mir: Also gut, spiele ich eben den Possenreißer; ich fürchte mich nicht vor eurem Urteil, ihr seid doch allesamt gemeiner als ich! Darum bin ich dann ein Possenreißer: aus Scham, großer Starez, aus Scham. Und einzig und allein aus Mißtrauen schlage ich Krakeel. Könnte ich überzeugt sein, dass mich alle für den liebenswürdigsten und klügsten Menschen halten – Herrgott, was wäre ich für ein guter Mensch! Meister!« rief er plötzlich. und fiel auf die Knie: »Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben erhalte?«

Auch jetzt war schwer zu entscheiden, ob er Possen trieb oder wirklich gerührt war.

Der Starez richtete seine Augen auf ihn und antwortete lächelnd: »Sie wissen längst selbst, was Sie tun müssen. Sie haben genug Verstand. Geben Sie sich nicht der Trunksucht hin, zügeln Sie Ihre Zunge, frönen Sie nicht der Sinnenlust, vergöttern Sie nicht das Geld und schließen Sie Ihre Branntweinschenken. Sofern Sie nicht alle schließen können, wenigstens zwei oder drei. Die Hauptsache aber, das Allerwichtigste: Lügen Sie nicht!«

»Sie meinen das von Diderot, nicht wahr?«

»Nein, nicht nur das von Diderot. Vor allen Dingen: belügen Sie nicht sich selbst! Wer sich selbst belügt und an seine eigene Lüge glaubt, der kann zuletzt keine Wahrheit mehr unterscheiden, weder in sich noch um sich herum; er achtet schließlich weder sich selbst noch andere. Wer aber niemand achtet, hört auch auf zu lieben und ergibt sich den Leidenschaften und rohen Genüssen, um sich auch ohne Liebe zu beschäftigen und zu zerstreuen. Er sinkt unweigerlich auf die Stufe des Viehs hinab, und all das, weil er sich und die Menschen unaufhörlich belogen hat. Wer sich selbst belügt, ist auch leichter beleidigt als andere. Sich beleidigt fühlen, ist manchmal sehr angenehm, nicht wahr? Ein solcher Mensch weiß genau, dass ihn niemand beleidigte, dass er sich die Beleidigung vielmehr selber ausdachte und mit Lügen ausschmückte und so aus der Mücke einen Elefanten machte. Er weiß das selbst und ist doch der erste, der sich beleidigt fühlt, beleidigt in einem Maße, dass er Vergnügen und Lust dabei empfindet. Und von da ist es dann nicht weit bis zu wirklicher Feindschaft ... Aber bitte, erheben Sie sich doch und setzen Sie sich; das sind doch auch nur verlogene Gesten!«

»Gottgefälliger Mensch! Lassen Sie mich Ihre Hand küssen!« rief Fjodor Pawlowitsch, sprang auf und drückte dem Starez schnell einen schmatzenden Kuß auf die magere Hand. »Ja, ja, so ist es, genauso; es ist angenehm, sich beleidigt zu fühlen, Sie haben das so schön gesagt, wie ich es noch nie gehört habe. Ganz so, genauso habe ich mich mein Leben lang beleidigt gefühlt, bis ich Genuß empfand. Auch aus ästhetischen Gründen, denn es ist manchmal auch schön, beleidigt zu sein. Das haben Sie noch vergessen, großer Starez: schön! Das werde ich mir ins Notizbuch schreiben! Und gelogen habe ich mein Leben lang, täglich und stündlich. Wahrlich, ich bin die Lüge selbst, ich bin der Vater der Lüge! Nein, nicht der Vater der Lüge, da habe ich mich im Ausdruck vergriffen, vielleicht eher der Sohn der Lüge, das reicht ja auch schon. Nur wissen Sie, mein Schutzengel: So etwas wie das über Diderot darf man doch manchmal sagen? So etwas kann doch keinen Schaden anrichten? Wohl aber sagt man manches andere, und das schadet dann. Apropos, großer Starez, das hätte ich fast vergessen – schon seit drei Jahren habe ich mir vorgenommen, mich hier zu erkundigen, herzufahren und dringend um Auskunft zu bitten. Verbieten Sie bloß diesem Pjotr Alexandrowitsch, mich zu unterbrechen. Wonach ich fragen möchte, ist dies: Ist es wahr, großer Vater, was irgendwo in den ›Lebensbeschreibungen der Heiligen‹ über einen heiligen Wundertäter berichtet wird? Er soll wegen des Glaubens gemartert worden sein, und als man ihm den Kopf abgeschlagen hatte, soll er aufgestanden sein, seinen Kopf aufgehoben und ihn ›liebevoll geküßt‹ haben. Er soll lange so mit dem Kopf umhergegangen sein; ihn ›liebevoll küssend‹. Ist das nun wahr oder nicht, meine ehrenwerten Väter?«

»Nein, das ist nicht wahr«, sagte der Starez.

»Es steht nichts Derartiges in den ›Lebensbeschreibungen der Heiligen‹. Von welchen Heiligen soll denn das geschrieben stehen?« fragte einer der Priestermönche, der Vater Bibliothekar.

»Das weiß ich selbst nicht, weiß ich wirklich nicht. Ich bin getäuscht worden; man hat es mir erzählt. Ich habe es gehört, und wissen Sie, wer es erzählt. hat? Hier, Pjotr Alexandrowitsch Miussow, der sich soeben über Diderot ereifert hat, der hat's erzählt.«

»Ich habe Ihnen das nie erzählt; ich rede überhaupt nicht mit Ihnen.«

»Das ist richtig, mir haben Sie es nicht erzählt, wohl aber in einer Gesellschaft, in der ich anwesend war, vor drei oder vier Jahren. Ich erwähne das, weil Sie durch diese lächerliche Geschichte meinen Glauben erschüttert haben, Pjotr Alexandrowitsch. Sie wußten es nicht; aber ich bin mit erschüttertem Glauben nach Hause zurückgekehrt, und seitdem ist mein Glauben immer mehr wankend geworden. Ja, Pjotr Alexandrowitsch, Sie waren die Ursache eines verhängnisvollen Falles. Das ist denn doch was anderes als das Geschichtchen über Diderot!«

Fjodor Pawlowitsch hatte sich in ein hitziges Pathos hineingesteigert; doch war es allen klar, dass er sich wieder nur verstellte. Trotzdem fühlte sich Miussow tief verletzt.

»Was ist das für Unsinn; das ist alles lauter Unsinn!« brummte er. »Ich habe es vielleicht wirklich einmal erzählt, aber nicht Ihnen. Es ist mir selbst erzählt worden. Ich hörte es in Paris von einem Franzosen; er sagte, es stehe in unseren ›Lebensbeschreibungen der Heiligen‹ und werde bei der Messe vorgelesen ... Es war ein sehr gelehrter Mann, der sich besonders mit dem Studium der Statistik Rußlands beschäftigte und lange in Rußland gelebt hatte ... Ich selbst habe die ›Lebensbeschreibungen der Heiligen‹ nicht gelesen und werde sie auch nicht lesen. Was plaudert man nicht alles bei Tische. Wir speisten damals gerade ...«

»Ja, Sie speisten damals gerade, und ich verlor meinen Glauben!« reizte ihn Fjodor Pawlowitsch.

»Was schert mich Ihr Glaube!« schrie Miussow, gewann dann aber schnell die Selbstbeherrschung zurück und fuhr voll Verachtung fort: »Sie besudeln buchstäblich alles, womit Sie in Berührung kommen.«

Der Starez erhob sich auf einmal von seinem Platz.

»Verzeihen Sie, meine Herren, dass ich Sie für ein Weilchen verlasse, nur auf ein paar Minuten«, wandte er sich an die Besucher. »Es warten Leute auf mich, die schon vor Ihnen da waren. Sie aber bitte ich, nicht zu lügen«, fügte er, zu Fjodor Pawlowitsch gewandt, mit heiterer Miene hinzu.

Er verließ die Zelle; Aljoscha und der Novize sprangen hinzu, um ihn die Stufen vor der Tür hinunterzuführen. Aljoscha atmete nur mühsam; er war froh hinauszukommen, aber er freute sich auch, dass der Starez sich nicht gekränkt fühlte, sondern heiter war.

Der Starez wollte sich zur Galerie begeben, um die Wartenden zu segnen. Aber Fjodor Pawlowitsch hielt ihn doch noch an der Tür der Zelle fest.

»Gottgefälligster Mensch!« rief er gefühlvoll. »Erlauben Sie mir, Ihnen noch einmal die Hand zu küssen! Mit Ihnen kann man noch reden, mit Ihnen kann man leben! Sie glauben wohl, dass ich immer so dumm bin und den Possenreißer spiele? So sollen Sie wissen, dass ich mich die ganze Zeit absichtlich verstellte, um Sie auszuforschen. Ich habe die ganze Zeit an Ihnen herumgetastet, ob man wohl mit Ihnen leben könnte, ob mein bescheidenes Persönchen neben Ihrer stolzen Person einen Platz fände. Ich stelle Ihnen ein Belobigungszeugnis aus: Man kann mit Ihnen leben. Und jetzt werde ich schweigen; die ganze Zeit werde ich schweigen. Ich werde auf dem Lehnstuhl sitzen und schweigen. Jetzt, Pjotr Alexandrowitsch, ist es an Ihnen, zu reden; jetzt sind Sie die Hauptperson – für zehn Minuten.«

Die Brüder Karamasow

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