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Bericht von Joseph Kiener. Fortsetzung
Ich träumte von einem Wald, über den ich hinwegflog. Dann über Hügel, dann über Berge. Ich landete im Traum auf einem Gipfel. Oder eher auf einem sehr hohen Grat. Auf der höchsten Stelle eines Grates. Dort stand schon jemand und schien auf mich gewartet zu haben. Ich ging auf ihn zu. Er drehte sich um und ich sah, dass es ein Perchtl war. Klein, lederfarben und verschrumpelt. Mit zusammengekniffenen Augen, hohen Wangenknochen und einer langen geraden Nase. Aber er schaute nicht so grimmig wie die Masken beim Perchtllauf oder die Figuren der Andreasspieße. Der Perchtl lachte. Dann sagte er meinen Namen. »Kiener.« Woher kannte der Perchtl meinen Namen? Und warum konnte er sprechen wie wir? Und seit wann gab es die Perchtln wirklich?
Ich öffnete die Augen. Der Schwarzbub stand an meinem Bett. Er war so bleich vor Angst, dass ich sein Gesicht trotz der Dunkelheit sehen konnte.
»Der Benno ist weg.«
Der Perchtl auch. Mir tat es fast leid.
»Was ist?«
»Der Benno ist gestern Abend noch bei mir gewesen und wir wollten uns in der Nacht treffen, um auf den Wachten zu gehen. Der ist fast verrückt geworden, weil er sich nicht mehr erinnern konnte, was er da oben gesehen hat. Ich wollte ihn abholen, aber der Alois, sein Bruder, hat gesagt, dass der Benno seit gestern Abend weg ist. Ich hab Angst, dass die ihn nach München gebracht haben.«
»Hansi, es ist mitten in der Nacht. Warte bis morgen. Da ist der Benno bestimmt wieder da. Der schläft im Schober oder ist von seinem Vater verhauen worden und ist beleidigt.«
In den Augen vom Schwarzbuben konnte man die Furcht sehen.
»Der geht doch nicht alleine mitten in der Nacht raus und kommt morgen früh einfach so wieder. Wir wollten miteinander rausfinden, was da auf dem Wachten passiert ist, an das er sich nicht mehr erinnern kann. Da geht der doch nicht alleine los.«
Da hatte der Schwarzbub recht.
»Warum bist du ausgerechnet zu mir gekommen?«
»Soll ich etwa zu meinen Eltern gehen? Das einzige, was ich von denen krieg, ist ein paar auf die Ohren. Oder zu den Bauerndimpfkindern vom Traublinger? Oder zum Alois? Was soll der machen? Mir mit seinem Stoffhasi helfen? Ich habe zu viel Angst.«
»Hansi, beruhig dich. Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?«
»Du sollst mit mir auf den Wachten gehen. Auf den oberen Goaßweg. Um sieben sind wir droben und um neun zurück vor der Kirche. Dann merkt keiner, dass wir überhaupt weg waren. Und wenn wir da droben irgendwas finden, wissen wir, dass mit dem Benno alles stimmt und der nicht spinnt vom Viechfieber oder sonst was, und dass die den mit Sicherheit geholt haben. Und dass der sich an irgendwas erinnert, das so wichtig ist, dass die den nach München mitnehmen mussten. Und wenn wir nichts finden, sehen wir weiter.«
»Und dass der weggelaufen ist vor Angst?«
»Und mir vorher erzählen, dass wir das alles zusammen machen? Kiener, red keinen Schmarrn.«
Ich setzte mich auf und blinzelte. Was blieb mir übrig? Schlafen konnte ich eh nicht mehr. Außerdem musste ich die ganze Zeit, die der Schwarzbub neben meinem Bett stand und mir von seinem besten Freund erzählte, an meinen toten Bruder denken. Gestorben mit meiner ganzen Familie. Im Feuer. Der einzige Freund, den ich je gehabt habe. Was würde ich darum geben, noch einmal die Möglichkeit zu haben, den Bruder zu retten. Auf wie viele Wachten würde ich steigen und wie viele Kieners würde ich wecken, nur dass der Bruder noch da wäre.
Der Goaßweg war zweigeteilt. Es gab den unteren, offiziellen, der auf die untere Goaßwiese führt und es gab den oberen, den es eigentlich nicht gab. Den benutzten die Dörfler, wenn sie heimlich Holz schlugen oder wilderten. Jeder wusste davon und jeder nutzte ihn.
Der Schwarzbub und ich gingen schnell. An der Pfaffl entlang, am Schleifbachhäusl abbiegen und den Einstieg zum oberen Goaßweg finden.
Unterwegs redeten wir zum ersten Mal wirklich miteinander. Der Bub erzählte mir von dem, was er eine Woche zuvor belauscht hatte. Von der Angst um seinen Freund, von dem Mann, den der Voigt gefangen hielt und dem ruhig gestellten Benno beim Doktor und dessen veränderter, ängstlicher Art nach seiner Rückkehr. Ich erzählte dem Hansi, dass ich das Gespräch zwischen ihm und dem Saillerbuben belauscht hatte. Aber meine Beobachtungen aus Rieding behielt ich für mich. Vorerst. Obwohl ich nur der faule und ein bisschen einfältige Erbe zweier Fischteiche war, war mir klar, dass es da eine Verbindung gab.
Als wir das erste Mal den Grat sehen konnten, rasteten wir kurz, tranken Wasser und aßen die Räucherforellen, die ich auf die Schnelle eingepackt hatte. Es war schon fast ganz hell. Wir gingen weiter. Der mauerartige Grat über uns. Unter uns die Pfaffl und die Häuser von Oberpfaffing. Irgendwann zeigte der Schwarzbub zur Wachtenwand. An einer Stelle konnte man erkennen, dass ein Stück Fels herabgefallen war und eine kleine Schneise in die Grasnarbe gerissen hatte. Wir gingen zu dem Stück Felsen, das vor den Bäumen zum Liegen gekommen war. Dort war das Gras immer noch heruntergetreten und es lagen zwei leere Bierflaschen auf dem Boden. Eher Amtmänner oder der Voigt als der Benno. Sonst sahen wir nichts. Nichts Rotes, das von selber rot ist und kein seidiges, perfektes Material.
Der Schwarzbub ging gleich zielstrebig weiter die Spur, die der Fels im Gras hinterlassen hatte, entlang. Von oben winkte er mir zu, kam aber gleich wieder zurück gerannt. Er hielt etwas in den Händen und war sehr aufgeregt.
Es war ein Bild. Hinter einer Art Glas. Aber man konnte es trotzdem biegen. Es war zerknittert und an manchen Stellen verwischt und man konnte nicht immer sehr gut sehen, was darauf abgebildet war. Vielleicht hatte auch der Regen, der irgendwann in der letzten Woche gefallen war, einige Details weggewaschen. Was man erkennen konnte, war trotzdem unglaublich präzise gemalt worden. Besonders bei der kleinen Größe des Bildes. Es zeigte einen Mann mit zotteligem schwarzen Bart und schwarzen Haaren, die im Wind zu flattern schienen. Neben ihm eine Frau mit ebenso fliegenden offenen Haaren und ein Kind. Alle drei lachten und blickten uns direkt an. Vielleicht war es auch keine Frau sondern ein bartloser Mann mit langen Haaren, denn die Kleidung wirkte eher wie die eines Mannes. Aber viel war davon eh nicht mehr zu erkennen.
Hinter den drei Menschen war eine Art Haus oder Baracke oder Eisenbahnwaggon zu sehen. Mit einer Aufschrift. Ein Teil war verdeckt, ein Teil verwaschen. Was man erkennen konnte war: LAN dann der Kopf des Mannes und dann IL, dann ein Stück, wo die Farbe abgeblättert war. Die Schrift war glatt und schnörkellos und schräg. Ich schaute zum Schwarzbuben. Der schaute zurück.
»Wer sind die?«, frage er.
»Das wenn ich wüsste«, antwortete ich.
»Das kann doch unmöglich einer gemalt haben. So genau wie das ist. Das sieht nicht aus wie ein Bild oder eine Fotografie. Das sieht aus wie echt. Als würden wir die vor uns stehen haben.«
»Ich hab mal einen Kunden gehabt, der Andachtsbildchen zeichnet. Mit Lupe und einer spitzen Nadel hat der das in eine Platte geritzt und dann ist das gedruckt worden. Das war schon auch sehr genau.«
»Aber das schaut nicht aus wie ein Druck. Schau dir nur die Farben an. Ob das die Farben sind, die der Benno gesehen hat?«
An einer Stelle sah man ein Stück Kleidung des Mannes in einem leuchtenden Rot.
»Kann schon sein«, sagte ich.
»Man kann fast den Wind in seinen Haaren spüren. So echt schaut das aus.« Der Schwarzbub war ganz gefangen.
»Meinst du, dass einer davon der rote Teufel ist, den der Benno gesehen hat?«, fragte ich ihn.
»Da schaut keiner wie ein Teufel aus. Die lachen ja alle. Mit denen auf dem Bild würde ich sofort mitgehen. Weg von meinem Scheißvater und Geschwistern. Seit die Oma tot ist, ist mir das eh alles wurscht.«
»Aber warum liegt das Bild da oben auf dem Wachten? Der Voigt hat das da nicht verloren. So was hat der nicht.«
»Und das Haus da hinten. Mit den kleinen Fenstern. Was steht da drüber? So große Buchstaben und so sauber geschrieben.«
»LAN. Land vielleicht.«
Wir schwiegen beide lange.
Bis ich wieder anfing: »Gestern in Rieding …«
Der Schwarzbub schwieg.
»Da hab ich vier Stunden auf dich und deine Mutter gewartet. Ich weiß auch nicht, warum ich mitgefahren bin. Wahrscheinlich, weil ich mit dir reden wollte. Aber dann hab ich geschlafen und deine Mutter war immer dabei.«
»Ich wollte dir eh alles erzählen auf der Fahrt. Wenn du nicht gleich eingeschlafen wärst …«
»Also, in Rieding, habe ich mich vor den Metzger gesetzt und gewartet. Da kommen am Markttag ganz schön viele Leute vorbei, die Würstl kaufen. Aber nicht nur die. Da sind auch viele Schandi und Amtmänner vorbeigelaufen. Einmal mit einem am Kopf verletzten Schandi und später mit einem Gefangenen. Dem Schandi hat ein Stock im Kopf gesteckt.«
»Ohne Schmarrn? Und der Gefangene?«
»Dem haben sie einen Sack über den Kopf gezogen und der war voller Blut. Aber irgendwas war seltsam an dem Gefangenen. Ich kann nicht beschreiben was.«
»War das der Teufel vom Benno?«
»Ich weiß nicht. Da war nichts rot. Nackte Beine. Aber alles normal. Kein Pferdefuß oder sonst was.« Ich versuchte über meinen eigenen Witz zu lachen. »Aber so viele Schandi für einen einzelnen … Das muss schon ein besonderer Gefangener gewesen sein.«
Wieder schwiegen wir lange. Bis der Schwarzbub erneut anfing: »Wir müssen den Benno suchen. Ich scheiß mir in die Hosen wegen dem. Der ist mein bester Spezi und ich muss auf ihn aufpassen. Der hat eine Scheißfamilie, ich hab eine Scheißfamilie. Wir haben immer gesagt, dass wir aufeinander achtgeben. Meinst du, dass meine Mutter sich jemals einen Dreck um mich geschert hat oder die vom Benno um ihn? Was meinst du, blüht mir, wenn ich auch nur eine Minute zu spät in die Messe komme? Meinst du, meine Mutter oder mein Vater fragen: ›Bub, wo warst du. Wir haben uns solche Sorgen gemacht.‹ Da heißt es ›Komm noch einmal zu spät und du brauchst nie mehr zum Zahnbader‹. Benno und ich, wir sind Spezln für immer und passen aufeinander auf.«
Wie bei mir und meinem Bruder. Brüder und Freunde für immer. Zumindest bis zum Feuer sind wir das gewesen. Unsere Eltern sind nicht so kalt gewesen, wie die der beiden anderen Buben. Trotzdem hatte mich mit dem Bruder besonders viel verbunden. Ich konnte verstehen, dass der Schwarz seinen Freund brauchte. Ich hätte meinen Bruder auch nach seinem Tod noch sehr oft gebraucht. Ich konnte den Schwarzbub und seine Angst um den Freund verstehen und wollte ihm helfen.
»Wir müssen den Benno finden, Kiener«, holte mich der Schwarzbub aus dem Nachdenken heraus.
»Scheißdreck«, dachte ich.
Um neun war ich in der Kirche. Der Schwarzbub ist mit rotgewatschter linker Backe ein bisschen später gekommen.