Читать книгу Hilfe, mein Haar ist ein Monster! - Florian Rattinger - Страница 11
ОглавлениеKapitel 5
Alles ist scheiße. Der Heimweg ist scheiße. Mein Fahrrad ist scheiße. In meinem Kopf ist es scheiße.
Die Sonne geht unter und die Straßenlaternen sind schon an. Es ist kurz vor 8. Ich komme garantiert zu spät nach Hause. Aber das ist mir schnuppe! In mir brodelt es! Und wer nicht vorsichtig ist, wird erleben, wie ich Feuer spucke!
Ein einzelnes gelbgrünes Glühwürmchen schwebt mir vor die Nase.
„Du bist zu früh dran, Kumpel!“, sage ich und blase es mir aus dem Gesicht. „Bis zum Sommer ist es noch eine Weile.“
Das Glühwürmchen fliegt ein paar wirre Loopings und düst dann auf das rote Licht einer Ampel zu.
Jacques hat mir erklärt, dass Ernest unter einer seltenen Herzkrankheit leidet. Ernests Herz schlägt nicht wie das Herz eines normalen Kindes, und manchmal lässt es ein oder zwei Schläge aus. Obwohl Ernest täglich Medizin einnimmt, ist er trotzdem oft krank. Besonders anfällig ist er für Erkältungen.
Im Juni soll Ernest operiert werden. Er bekommt einen modernen Herzschrittmacher. Jacques hat gesagt, ich soll es mir so vorstellen, dass Ernests Herz eine Art Anzug erhält, der mit ihm mitwächst und der sein Herz im richtigen Moment daran erinnert, weiter zu schlagen. Ernest wird in einer Spezialklinik in der Schweiz operiert. Ich solle mir keine Sorgen machen. Ernest schwebt nicht in Lebensgefahr.
„Aber Ernest wird eben auch älter…“, hat Jacques gesagt. „Irgendwann wird er sich dieser Operation unterziehen müssen. Und es ist besser, den Schritt jetzt zu wagen, wo es noch weniger Komplikationen gibt.“
Während mir Jacques das alles erklärt hat, ist Ernest immer leiser und kleiner geworden. Schon klar, wenn die eigenen Eltern die tiefsten Geheimnisse – so mir nichts, dir nichts – ausplappern. Ernest muss es vorgekommen sein, als würde ich seine wahre Identität herausfinden.
Und kein Superheld liebt es, demaskiert zu werden.
(Aber was hat er anderes erwartet? Er hat mich vor seinen Eltern ins Messer laufen lassen.)
Frau Schmitz hat angeboten, mich nach Hause zu fahren, aber das habe ich abgelehnt. Um den Schock zu verdauen, brauche ich ein wenig Zeit. Ernest hat mich vor die Tür begleitet. Ich habe ihm zugewunken, bis ich um die Ecke gebogen bin.
Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.
Ich frage mich, was Chaos-Girl in meiner Situation machen würde.
Soweit ich weiß hat sich Chaos-Girl bisher nie mit einer seltenen Krankheit befassen müssen. In ihrer Welt gibt es Erkrankungen wie Ernests nicht. Vielleicht auch ein Grund, wieso er so auf die Gerechtigkeitstruppe versessen ist.
Ich suche im Himmel nach Hilfe. Nach einem Zeichen. Die Sterne erinnern mich an Wonder-Boy. Und der an Ernest. Alles dreht sich im Kreis.
„Nicht aufgeben!“, murmle ich mir zu. Leichter gesagt als getan. Nicht ich habe hier das Problem, sondern Ernest.
Er braucht einen Freund. Da ist die Sache mit meinen Haaren dagegen ein lausiger Fliegenschiss.
Ich rupfe mir den Hut vom Kopf und werfe ihn auf die Straße.
„Oh, Maaaaaann!“, schreie ich frustriert.
Ich schnappe mir meinen Hut und klemme ihn in den Gepäckträger. Anschließend schiebe ich mein Rad nach Hause. Das Abendessen bei Ernest verdränge ich so gut es geht.
Bruno spricht mich als Erstes auf meine Laune an.
„Hat dir dein Abendessen nicht geschmeckt?“
„Lass mich heute bitte einfach in Ruhe!“, antworte ich.
Ich gehe ohne ein weiteres Wort auf mein Zimmer und schließe die Tür ab. Mama klopft wenig später an die Tür und will wissen, was los ist.
„Nichts ist los“, sage ich. „Ich bin einfach nur müde und will jetzt schlafen gehen. Bei Ernest hat es Burger gegeben. Ich brauche also nichts zu essen.“
„Okay. Aber du solltest dir zumindest noch die Zähne putzen“, meint Mama von der anderen Seite der Tür.
»Mist!«, denke ich. Bisher bin ich von Karies verschont geblieben. Der Grund dafür ist, dass ich mir täglich zwei Mal die Zähne putze, sagt der Zahnarzt. Mein erstes Loch riskieren will ich nicht, vor allem nicht, weil ich zum Burger von Frau Schmitz Cola hatte.
Ich putze mir also die Zähne. Der Oktopus aus Haaren lässt seine Tentakel schlaff hängen. Meine Frisur hat schon lange nicht mehr so normal ausgesehen. Das muss an Papas Hut liegen. Vielleicht gelingt es mir mit ihm, meine Haare zu bändigen.
Papa will wissen, was ich bei Ernest so gemacht habe. Ich erzähle ihm die Kurzfassung, ohne auf Ernests Krankheit einzugehen. Er scheint, zu merken, dass mit mir irgendetwas nicht stimmt. Papa streichelt mir über den Kopf, aber er fragt mich nicht weiter aus. Das weiß ich zu schätzen.
Ich ziehe meinen Schlafanzug an und lege mich ins Bett.
Mein Kopf fühlt sich schwer an. Trotzdem kann ich nicht schlafen.
»Gut, ich kenne Ernest erst seit zwei Tagen!«, denke ich. Das ist nicht lange. Es dauert bestimmt nicht länger, um die ganze Sache wieder zu vergessen…
»Nein! So denkt nur ein Feigling!«
Chaos-Girl würde Wonder-Boy niemals im Stich lassen.
Ich schnappe mir zwei meiner Action-Figuren. Chaos Girl und Wonder Boy. Sie sind nicht limitiert wie die von Ernest, sondern stammen aus einer Cornflakes-Packung. Ich halte sie in meinen ausgestreckten Armen und betrachte sie. »Chaos Girl« (ohne Bindestrich) hat blonde Wuschelhaare. Fast wie ich.
„Hätte ich nur den Chronomagic Wand!“, sage ich zu mir selbst. „Damit könnte ich im Nu Ernests Krankheit heilen. Ganz ohne Krankenhaus und ganz ohne OP. Und wir müssten den Film nicht auf Netclicks gucken, wenn er dann nächstes Jahr endlich rauskommt…“
Am nächsten Morgen geht es ausnahmsweise gleich ins Bad. Irgendwann um 2 Uhr nachts muss ich eingeschlafen sein. Bis dahin habe ich meinem Wecker dabei zugesehen, wie er die Minuten zählt.
01.52, 01.55, 01.58. Dann war ich weg.
Um Punkt 6.45 Uhr hat er mich aus dem Bett geklingelt.
„Heute wäre Kaffee genau das Richtige für mich“, raunze ich, als ich vorm Bad-Spiegel stehe. Dabei wird mir schon allein vom Gedanken an Kaffee schlecht.
Deswegen muss eiskaltes Wasser genügen.
Mein Haar sieht an diesem Morgen aus wie ein waschechtes Piratenschiff. Rechts ist der Bug, links das Heck und in der Mitte ein gigantischer Hauptmast. Daneben ragen zig Kanonen aus dem Rumpf.
Ich klappe das Schiff auf beiden Seiten zu (wie bei einem dieser Pop-up-Bilderbücher) und knote mein Haar mit drei extra-starken Haargummis zusammen. Das Schiffswrack verstecke ich unter Papas Hut. Damit ist schon mal eine Katastrophe abgewandt.
Als ich die Treppe nach unten gehe, steigt mir der Geruch von frischen Semmeln in die Nase.
„Morgen!“, sage ich zu allen am Tisch. Statt mir zu antworten, legt Papa seine Zeitung beiseite, Mama faltet die Hände und selbst Bruno spart sich seinen dummen Kommentar.
Ich nippe am Kakao, den Mama an meinen Platz gestellt hat.
„Habe ich etwas angestellt?“, frage ich und schlürfe weiter an meiner heißen Schokolade. „Ist es wegen gestern? Ich bin beinahe pünktlich nach Hause gekommen. Mir war einfach nur nicht mehr nach Quatschen.“
„Ich habe gestern Abend noch bei Ernests Eltern angerufen…“, sagt Papa. Er zieht seine Augenbrauen so zusammen, dass es aussieht, als hätte er eine Große. „Deine Mutter und ich haben uns Sorgen gemacht, nachdem, wie du gestern nach Hause gekommen bist.“
„Ernests Vater hat uns erklärt, was los ist“, unterbricht Mama. „Seine Krankheit. Der Kinofilm, den ihr gemeinsam ansehen wollt…“
Ich spucke meinen Kakao aus. Direkt auf Papas Zeitung.
„IHR HATTET NICHT DAS RECHT, DAS ZU TUN!“, brülle ich. Als ich meine Tasse abstelle, verspritzt der Rest. „WAS GEHT EUCH DAS ÜBERHAUPT AN?“
Mama und Papa bleiben ruhig. Papa holt ein Geschirrtuch, um die Schweinerei, die ich angerichtet habe, aufzusaugen.
„Wir wollten dir nicht hinterherschnüffeln“, sagt Mama. „Dein Vater und ich wissen, dass wir eine anständige Tochter haben. Wir vertrauen dir und glaub mir, wir sind auch super stolz auf dich!“
„Aber Ernests Krankheit ist eine ernste Geschichte, Freddy“, ergänzt mein Vater. „Vor allem für ein Kind in deinem Alter. Du und dieser Junge kennt euch noch nicht lange, aber Ernests Vater hat erzählt, dass ihr euch gestern großartig verstanden habt. Durch seine Krankheit hat Ernest nicht besonders viele Freunde.“
»Genau wie ich!«, denke ich, aber sage nichts. »Nur, dass es bei mir die Haare sind und keine Herzkrankheit!« „Egal, ob du Ernest als Freund behalten willst oder nicht, bei uns hast du immer ein offenes Ohr“, sagt Mama.
„Momentan will ich eigentlich nur in Ruhe gelassen werden“, antworte ich. Ich brodele innerlich, aber meine Eltern helfen mir mit ihrer verständnisvollen Art nicht dabei, Dampf abzulassen.
„Also, gut“, meint Papa. Er liest weiter in seiner Zeitung und Mama räumt das Geschirr ab. Statt einer Semmel esse ich Müsli. Bruno fragt, ob er am Wochenende bei einem Freund übernachten darf. Mama ist von dieser Idee nicht so begeistert. Im Gegensatz zu mir traut sie ihrem jugendlichen Sohn nicht über den Weg.
Nach dem Frühstück putze ich mir die Zähne, packe meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg in die Schule. Bruno begleitet mich bis zur Kreuzung, dann trennen sich unsere Wege.
Auf dem Schulhof die nächste böse Überraschung: Sven hat sich einen Erstklässler geschnappt und ist dabei, ihm sein Pausengeld abzuknöpfen. Dafür hat er sich die Nische vor dem Eingangstor ausgesucht. Herr Brecht sieht ihn von seinem Standpunkt direkt bei den Fahrradständern aus nicht. Sven hat den Drei-Käse-Hoch am Kragen seines Poloshirts gepackt. Der Arme schwebt zehn Zentimeter über dem Boden.
„Hast du die 10€ mitgebracht, wie ich es dir gesagt habe?“, höre ich Sven sagen. Andere Kinder haben sich von den beiden weggedreht. Sie haben zu arg Schiss vor diesem Großkotz.
Ich nicht.
„I-i-ich ha-habe d-die 10€ aus M-Mamas G-Geldbörse gestohlen. Sie s-sind i-in meiner Ho-Hosentasche. D-Du ka-kannst sie d-dir einfach neh-neh-nehmen“, wimmert der Erstklässler.
Sven steckt dem Kleinen die Hand in die Hosentasche. Aus Svens Faust ragt danach ein roter Geldschein.
„Danke, Stinker! Nächste Woche bringst du mir wieder 10!“
Sven setzt den Rotschopf ab. Aus der Nähe sehe ich, dass der Erstklässler eine runde Nickelbrille wie ein englischer Professor trägt. Außerdem hat er eine große Zahnlücke direkt zwischen den Schneidezähnen.
Der Kleine passt perfekt in Svens Beuteschema.
„Bedrohst du jetzt schon kleine Kinder?“, frage ich. „Deine kriminelle Karriere geht ja steil aufwärts. Bin mir sicher, in ein paar Jahren interessiert sich auch die Polizei für dich.“
Der Erstklässler sieht mich mit großen Augen an. In die Nasenlöcher, um genau zu sein. Er geht mir höchstens bis zum Bauchnabel.
„Kannst du machen, dass er mir das Geld wiedergibt?“, fragt mich der Kleine.
„Klar!“
„Halt dich da raus, Made!“, zischt Sven. „Noch ein Wort und ich mach dich kalt!“
Möglicherweise ist es der Zorn vom Frühstück, vielleicht ist es der Kleine, der mich ansieht, als wäre ich eine Superheldin oder vielleicht ist es am Ende auch einfach nur Sven – dieser Tyrann – und sein doofes Gesicht, das mich zur Weißglut bringt.
Ich denke an Ernests Zeichnung von Magic Chaos-Girl. An sein Bild von mir.
Ich haue Sven direkt eins auf die Nase. Er wirbelt herum wie ein Tornado und landet wie durch ein Wunder auf seinen vier Buchstaben.
Meine Hand schmerzt. Ich hätte nicht gedacht, dass es so wehtut, jemandem ins Gesicht zu schlagen.
Sven heult auf wie ein Schlosshund. Blut schießt ihm aus der Nase.
„DAS WIRST DU MIR BÜßEN, MADE!“, brüllt er.
„Komm doch her!“, fordere ich ihn heraus. Ich mache ein paar schnelle Sprünge auf der Stelle und hebe meine Fäuste wie der berühmteste Boxer der Welt – Mohammed Ali.
Der Schulhof tobt. 95% der Kinder feuern mich an. Die anderen 5% haben immer noch Schiss.
Sven steht auf und holt mit seiner Linken aus. Ich ducke mich, hole mit meiner schmerzenden Rechten aus und...
„HEY, WAS MACHT IHR DA?“, ruft Herr Brecht. Er hat den Tumult nun doch bemerkt. „AUSEINANDER!“
„Da hast du’s!“, meint Sven. „Aus der Sache kommst du nicht wieder raus. Und glaub mir, ich werde alles daransetzen, um dich dranzukriegen, Made!“
Mit einer Sache hat Sven Recht. Aus der Sache komme ich jetzt nicht mehr raus.