Читать книгу Hilfe, mein Haar ist ein Monster! - Florian Rattinger - Страница 9

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Kapitel 3

Jeden Tag dasselbe Theater? Nein, heute nicht.

Der Wecker klingelt und ich schieße wie eine Sylvester-Rakete aus meinem Bett. Ich nehme die Treppe in die Küche im Sturm, trällere Mama, Papa und Bruno ein „Guten Morgen!“, entgegen und mampfe zur Abwechslung heute ein Honig-Butterbrot. Mit Bruno unterhalte ich mich über seine Lieblingsband.

„Was ist denn heute in die gefahren?“, fragt Bruno, nachdem ich ihn mit der dritten Frage zu den krassen Schädeln bombardiere. „Die ist ja wie ausgewechselt!“

„Friederike hat eben gute Laune“, meint Papa. „Bei meinem Sohn, dem Griesgram, ist das eine willkommene Abwechslung.“

„HEY!“, protestiert Bruno.

„Wo er Recht hat, hat er Recht“, meint Mama.

Bevor ich mir das Gesicht wasche und die Zähne putze, mache ich einen Abstecher in Mamas und Papas Schlafzimmer. In ihrem Schrank suche ich nach einer Kiste mit alten Klamotten meines Vaters. Sachen, die er schon Jahre nicht mehr getragen hat, aber nicht in die Altkleidersammlung geben wollte. Unten am Boden finde ich ihn: Den Hut, den Papa auf einem der Fotos im Wohnzimmer trägt.

Es ist ein Lederhut, hellbraun und mit breiter Krempe. Er sieht aus wie ein Cowboy-Hut.

„Der ist perfekt!“, rufe ich und eile ins Bad.

Aus meinem Kopf wachsen heute acht Arme, mit einem runden Bauch in der Mitte. Ich stelle mir meine Haare als Oktopus vor. Dem Tintenfisch setze ich den Hut auf. Er versucht, sich zu wehren, doch am Ende zwänge ich seinen gesamten Körper in den zu großen Hut. „Sieht gut aus!“, sage ich mir.

„Fasching war vor drei Monaten!“, raunzt mein Bruder. Sein Haar ist noch fettiger als gestern. „Lass mich raten: Das ist dein Chaos-Girl-Look? Fehlen nur noch der Sheriff-Stern, der Glitzerrock und die goldenen Sandalen, dann ist dein Outfit perfekt.“

Ich feuere Fingerpistolen auf Bruno.

„BÄNG, BÄNG, BÄNG!“

Im Anschluss blase ich unsichtbaren Rauch vom Zeigefinger.

Bruno wirft sich theatralisch auf den Boden und fällt dabei fast in die Badewanne.

„Oh, mächtiges Chaos-Girl. Ich gebe mich geschlagen! Deine Chaos-Canon ist zu viel für mich!“, huldigt mir mein Bruder.

Ganz ehrlich. Das finde ich tierisch witzig. Statt zu kichern, entkommt mir aus Versehen ein vergnügtes Schweinegrunzen. Das bringt Bruno zum Lachen. Und kurze Zeit später lache ich mit ihm.

Draußen ist es furchtbar schwül. Nicht unbedingt die besten Bedingungen für meine Frisur. Damit ich sicher bin, setze ich mir den Helm direkt auf den Hut. So kann er nicht verrutschen. Auf dem Schulhof fange ich mir zwar ein paar komische Blicke ein, aber ich könnte schwören, dass manche Kinder mich mit Respekt ansehen. Möglicherweise liegt das aber nur an der Aktion von gestern. Ich suche nach Alessandro.

Er schmollt.

„Oh, Freddy? Guten Morgen“, sagt er mit vorgeschobener Unterlippe. Das Bambina spart er sich heute. „Ähm, netter Hut. Steht dir!“

„Gestern bin ich doof zu dir gewesen. Dafür wollte ich mich entschuldigen. Du bist der einzige hier an der Schule, den ich als sowas wie einen Freund bezeichnen würde.“

Alessandro starrt mich mit offenem Mund an. Wäre ich er, würde ich genauso reagieren. Ich habe mich noch nie für irgendetwas entschuldigt.

„Dass du Sven einen Spuckeball direkt auf die Stirn geschossen hast, war schon ganz lustig“, sagt Alessandro bedröppelt.

„Ja, das war es. Okay war es trotzdem nicht!“

„Hey, Made!“

Wenn man vom Teufel spricht.

„Was soll der bescheuerte Hut? Bist du jetzt ein Cowboy, oder was?“

Und schon werfe ich alle meine guten Vorsätze über Bord.

„Bei Mädchen heißt es Cowgirl! Wie in Chaos-Girl! Heb dir deine Sprüche für jemanden auf, der genauso wenig in der Birne hat wie du!“

Während die Zahnräder in Svens Kopf rattern, gehe ich auf Abstand.

„Dich knöpf ich mir noch vor, Made!“

Doch das hört auch Frau Carmel, die Klasslehrerin der 1a, die heute Aufsicht hält. Sven zieht den Schwanz ein und macht sich vom Acker.

„Keine Sorge“, sage ich zu Alessandro. „Sven hat eine große Klappe, aber es steckt nichts dahinter.“

Auf dem Weg zur Garderobe lasse ich mir Zeit. Zum einen, damit ich Svens doofes Gesicht nicht sehe, zum anderen, damit keiner sieht, wie ich mir den Helm absetze. Den Hut behalte ich auf.

„Guten Morgen, Frau Pankow!“, sage ich gleich beim Betreten des Klassenzimmers. Ihr fällt der Hut sofort auf.

„Ebenfalls guten Morgen, Friederike. … Schicker Hut!“

Die nächsten Sekunden vergehen für mich wie in Zeitlupe. Dann stellt Zumra Frau Pankow eine Frage und meine Lehrerin wendet sich der Zimtzicke der Klasse zu.

»YES! Sie hat nicht gesagt, dass ich den Hut absetzen soll!«

Damit läuft die Zeit wieder im normalen Tempo.

Vor der großen Pause gebe ich Frau Pankow den Entschuldigungsbrief.

Sie liest ihn sich durch und sagt dann: „Weißt du, der Hut gefällt mir richtig gut. Aber ohne Hut finde ich dich besser. Irgendwann wirst du merken, dass dich deine Haare einzigartig machen.“

„Meine Haare, Frau Pankow? Vielleicht wissen Sie es noch nicht, aber meine Haare sind ein Monster! Nur mithilfe meines magischen dimensionsverzerrenden Hutes kann ich sie bändigen. Würden Sie mich zwingen, meinen Hut abzusetzen, dann hätte das Monster freien Lauf. Und glauben Sie mir, das wollen Sie nicht riskieren!“, sage ich ganz theatralisch.

Der Scherz zieht. Frau Pankow lacht.

„Du hast sehr viel Fantasie, Friederike Trapp!“, sagt sie. „Das mag ich so an dir.“

Als ich nach der Schule am Hermann-Hesse-Park vorbeikomme, denke ich darüber nach, wie Colossal Fatty und Stinky Raccoon reagiert haben könnten, als sie Ernest heute in der Schule gesehen haben?

„Denen muss mittlerweile klar sein, dass Ernest nicht wirklich magische Kräfte besitzt“, denke ich. „Hoffentlich hat er wegen mir keinen Ärger bekommen.“

Dann mache ich mich auf zu Ernests Villa. Mama und Papa habe ich gestern Abend noch um Erlaubnis gefragt, Ernest einen Besuch abstatten zu dürfen.

Ich drücke die Klingel und wundere mich, was passiert, wenn ich meinen Daumen auf den Fingerabdruckscanner lege. Würde sich eine Falltür öffnen?

Es dauert nicht lange, bis mir Frau Schmitz die Tür öffnet.

„Oh, Hallo, Freddy!“, begrüßt sie mich. Frau Schmitz ist ein wenig aufgekratzt, aber Ernest hat gemeint, das wäre normal für sie. „Ernest hat sich den ganzen Tag schon auf deinen Besuch gefreut. Er ist oben in seinem Zimmer.“

Von innen ist Ernests Haus noch viel beeindruckender. Der Boden glänzt, überall stehen teuer aussehende Vasen, Lampen und Möbel. An den Wänden hängen Bilder. Keine Fotos wie bei uns zuhause, sondern richtige Bilder von echten Künstlern. Ich bin baff.

„So geht es jedem, der das erste Mal hier ist“, sagt Frau Schmitz und grinst ein bisschen hämisch. „Ernests Zimmer ist einen Stock höher. Folgst du mir?“

„Okay!“

Im ersten Stock klopft Frau Schmitz an eine Tür rechts den Gang hinunter.

„Ernest? Du hast Besuch.“

Ich höre das Scharren von Ernests Füßen.

„Hallo, Freddy!“, begrüßt mich Ernest mit seinem Markenzeichen-Grinsen. Sein Gesicht ist voller bunter Flecken. „Schön, dass du gekommen bist!“

„Schön, dass du das zu schätzen weißt“, antworte ich. „Auf den Weg hier hoch hätte ich mich beinahe verlaufen. Zu meinem Glück war Frau Schmitz bei mir.“

„Das Haus ist gar nicht so groß“, meint Ernest.

„In dein Haus passt meines mindestens drei Mal. Vielleicht sogar vier Mal.“

„Ich lasse euch beide dann alleine“, sagt Frau Schmitz. „Ich muss noch Erledigungen machen. Bringst du Freddy nachher selbst zur Tür, Ernest?“

„Mache ich!“, antwortet Ernest.

„Gut, also dann, bis später vielleicht“, sagt Frau Schmitz zu mir.

„Bis irgendwann“, sage ich. „Und danke!“

Ernests Zimmer haut mich von den Socken.

Es ist bis zur Decke vollgestopft mit Wonder-Boy-Fan-Artikeln. In der Mitte liegt ein riesiger Teppich mit den Konstellationen, überall hängen Poster von Pascal Dubois und seinen Sternenbild-Monstern. Selbst sein Zimmer ist in den Wonder-Boy-Hauptfarben gestrichen: braun, weiß und gold.

WOW!

Zu allem Überfluss sieht Ernests Bett aus wie die Büchse der Pandora. Die geheimnisvolle Truhe, in der Wonder-Boy all seine Star-Jewels aufbewahrt.

„Und, wie gefällt dir mein Zimmer?“

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich tippen: Du bist ein ziemlicher Wonder-Boy-Fan“

„Ich mag die gesamte Gerechtigkeitstruppe“, sagt Ernest. „Aber Wonder-Boy ist schon mein Liebling.“

Neben der vollständigen limitierten Auflage der Gerechtigkeitstruppe-Action-Figuren besitzt Ernest eine Gerechtigkeitstruppe-Dartscheibe, eine Rubber-Sam-Basketball-Wurfanlage und die neuste Power-Station 7 im nachtschwarzen Corvus-Design.

„Was sollen wir machen? Sollen wir eine Runde Badminton oder Tennis spielen? Oder doch lieber ein paar Runden Power-Station? Papa hat mir vor einer Woche das neue Cap Cruiser VII gekauft und ich komme beim fünften Level einfach nicht weiter. Vielleicht schaffst du es ja, den Scarlet Tyrant zu schlagen.“

„Badminton?“, frage ich. „Meinst du Federball?“

„Ja, genau. Das meine ich doch“, sagt Ernest. Er ist ein bisschen verlegen.

„Wieso hast du eigentlich so viele Flecken im Gesicht?“, frage ich.

„Ich, wieso?“

Ernest rennt zum Spiegel an seinem Schrank und sieht nach, was ich meine. Auf den Weg dorthin niest und hustet er fünf Mal schnell hintereinander.

„Hast du dich gestern doch erkältet?“

Als Ernest die Flecken in seinem Gesicht sieht, erhellt sich sein Gemüt. „Ach was!“, streitet er ab. „Mir geht es gut! Komm, ich will dir etwas zeigen!“ Er düst zu seinem Schreibtisch und holt ein Bild.

„Hier, das habe ich für dich gemalt…“

Es ist eine Zeichnung von mir. Das Bild zeigt eine Mischung aus mir, Chaos-Girl und Medusa, Königin der Gorgonen. Ich trage Chaos-Girls Chaos-Cannon und den Archaic Lightsaber. Meine wilden Haare sind in Wahrheit grellorangene Schlangen.

„Woah, krass!“, entfährt es mir. Das ist etwas, das Bruno zuhause ständig sagt.

„Das bist du“, lacht mich Ernest an. „Als du es gestern Collosal Fatty und Stinky Racoon so richtig gezeigt hast!“

„Das hast du gemacht?“, staune ich. „Wo hast du gelernt, so gut zu malen?“

„Meine Eltern haben mir zum vierten Geburtstag einen Aquarellkasten geschenkt. Seitdem übe ich. Gefällt dir das Bild?“ Dann sind die Flecken in seinem Gesicht also Wasserfarbe.

„Gefallen? Das Bild ist bombastisch! Ich zeichne, seitdem ich denken kann. Aber so gut wie du werde ich in 100 Jahren nicht.“ Dann kommt mir die Idee. „Wie wär’s denn, wenn wir gemeinsam etwas malen?“

Ernest braucht nicht lange, um zu überlegen.

Nach einer Stunde habe ich genauso viel Farbe im Gesicht wie Ernest. Das Ergebnis unserer Arbeit ist ein Comic. Der Titel: Die Neo-Gerechtigkeits-Truppe gegen die Allianz der Stinker. Darin kämpfen Magic Chaos-Girl (das ist der Freddy-Chaos-Girl-Medusa-Verschnitt, den Ernest für mich gemalt hat) und Black-Hole Wonder-Boy (meine Erfindung und eine Anlehnung an Ernest) gegen Colossal Fatty und Stinky Raccoon. Magic Chaos-Girl und Black-Hole Wonder-Boy verpassen den beiden Stinkern eine ordentliche Abreibung.

„Das hat richtig Spaß gemacht!“, lautet Ernests Urteil. Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Drei Stunden haben wir an unserem Comic gearbeitet.

HUST – NIES – HUST – NIES – HUST.

„Deine Einfälle waren der Hammer. Besonders der mit dem Asteroiden, den Black-Hole Wonder-Boy aus seiner Umlaufbahn holt und Colossal Fatty gegen den Wanst schmettert!“

„Ich fühle mich geehrt“, bedanke ich mich. „Aber mit deinem Talent kann ich niemals mithalten.“

„Das sagst du nur so. Ohne dich und deine Ideen wäre der Comic gar nicht erst zustande gekommen.“

„Das können wir ruhig öfter machen“, sage ich.

„Darüber würde ich mich sehr freuen“, meint Ernest mit einem dicken Grinsen. Doch dann verfinstert sich seine Miene schlagartig.

„Freddy?“, fragt er.

„Ja?“

Ernest holt ein Papier aus seiner Hosentasche und gibt es mir. Es ist ein Zeitungsausschnitt. Eine Werbeanzeige.

„Diesen Sommer kommt »Chaos-Girl & Wonder-Boy vs. Time Wizard: Duell um das Schicksal der Welt« in die Kinos. Deutschlandweiter Start ist der 24. Juni. Meine Eltern erlauben mir nicht, hinzugehen. Wenn du aber mitkämst, könnte das ihre Meinung vielleicht ändern…“

„Ja, von dem Film habe ich gehört“, sage ich und versuche, meine Begeisterung herunterzuspielen. Habe ich schon erwähnt, dass ich 255 Sammelkarten zum Film besitze? „Hast du gewusst: Die Schauspieler, die Chaos-Girl und Wonder-Boy spielen sind selbst Fans! Und klar würde ich mir den Film mit dir ansehen. Du bist so ziemlich der größte Wonder-Boy-Fan, den ich kenne. Der Film ist, sofern ich weiß, aber erst ab 12 Jahren freigegeben. Das heißt, meine Eltern müssten auch mitkommen. Ist das der Grund, wieso dir deine Eltern nicht erlauben, den Film zu sehen? Weil sie glauben, dass er zu heftig ist.“

„Ja. Nein. Das hat komplizierte Gründe.“

„Du glaubst, ich könnte deine Eltern umstimmen?“

„Möglicherweise. Vielleicht, wenn sie dich ein bisschen besser kennen lernen.“

„Dann gib mir ein Telefon. Ich sage meiner Mutter nur kurz, dass ich heute zum Abendessen bei euch bleibe. Das ist doch kein Problem, oder?“

Und schon grinst Ernest wieder.

„Nein, überhaupt nicht. Ich würde mich sogar sehr darüber freuen, wenn du zum Essen bleibst.“ Ernest eilt zur Tür. „Ich hol nur schnell das Telefon.“

Mutig.

Ich würde mich verlaufen.

Bevor er in den geheimen Ecken und Winkeln seines Hauses verschwindet, ruft mir Ernest zu: „Freddy, du bist die Beste!“

Da muss ich grinsen.

Hilfe, mein Haar ist ein Monster!

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