Читать книгу Die Irrfahrten des Herrn Müller II - Florian Russi - Страница 5
ОглавлениеEr musste sich beeilen. Die Bank schloss um 18 Uhr, und er wollte Frau Nelles nicht enttäuschen. Die Zahnarztwitwe setzte großes Vertrauen in Ihn. War es aber wirklich nur Vertrauen? Hatte sie, die über 50-jährige, nicht ihm, dem nicht einmal 20-jährigen, schon kurz nach dem Kennenlernen das ‚Du‘ angeboten? „Ich bin die Thekla, und dich darf ich Daniel nennen“, hatte sie gesagt.
Hatte sie ihm nicht immer wieder Komplimente gemacht und ihm sehnsüchtige Blicke zugeworfen? Nachdem er ihr bei der Geburtstagsfeier einer Großmutter seiner Freundin Ines als junger, aufstrebender Möbelkaufmann vorgestellt worden war, hatte sie ihn zwei Tage später angerufen und ihm gesagt, dass sie dringend eine neue Küche benötige. Sie hatte ihn zu sich eingeladen und ihm ihre noch lange nicht abgewirtschaftete Küche gezeigt. Dann hatte sie Kaffee gekocht und ihn zu selbstgebackenem Kuchen eingeladen. Schließlich hatte sie behauptet, nie in ihrem Leben einen solch sympathischen Verkäufer kennengelernt zu haben, und ihn aufgefordert, ihr bald eine Kostenkalkulation zu erstellen und dabei nicht so sehr auf einen günstigen Preis, sondern vielmehr auf höchste Qualität zu achten.
Stolz hatte er, der gerade erst seine Kaufmannsgehilfenprüfung abgelegt hatte, seinem Chef von dem Auftrag berichtet. „Die Nelles“, hatte der anerkennend geantwortet, „gehört zu den reichsten Frauen der Stadt. Wenn es dir gelingt, sie als Kundin zu gewinnen, bekommst du von mir einen Sonderbonus.“
Beim nächsten Treffen gab es wieder Kaffee und Kuchen. Frau Nelles liebte besonders Sahnetorten. Sie wirkte in hohem Maß aufgedreht, zeigte sich begeistert über die Vorschläge, die er mitgebracht hatte. Dann beklagte sie sich über die Verwandten, die in ihr nicht den Menschen, sondern nur die reiche Erbtante sehen würden. Sie jedoch werde denen nicht den Gefallen tun, bald abzukratzen. „Ich habe mich auf einer Schönheitsfarm im Schwarzwald angemeldet“, ergänzte sie. „Wenn ich von dort zurückkomme, wirst du mich kaum wiedererkennen. Senta Berger sieht man ja auch ihr Alter nicht an. Auch ich bin bereit und in der Lage, den medizinischen Fortschritt zu nutzen und verfüge noch über eine ausgeprägte Libido.“
Das Wort hatte er zuvor noch nie gehört. Allerdings hatte er einen Verdacht, was es ungefähr bedeuten könnte und sich anschließend über sein Handy davon überzeugt, dass er damit Recht hatte. Wollte sie ein Verhältnis mit ihm beginnen? Er hatte ihr doch von seiner Freundin Ines erzählt. Sie wusste auch, dass sie die Enkelin jener Dame war, mit der Thekla Nelles jeden Mittwoch Bridge zu spielen pflegte, deren Geburtstag sie gemeinsam gefeiert hatten. Machte die Millionärin den Kauf der Küche davon abhängig, dass er sich von ihr verführen ließ? Das wäre fatal für ihn, der sich gerade frisch verliebt und so hoffnungsvoll seine berufliche Karriere begonnen hatte. Immer häufiger versuchte sie, ihn für sich einzuspannen und um Gefälligkeiten zu ersuchen. Eines Tages bat sie ihn, sie mit seinem Auto zu ihrem Rechtsanwalt zu fahren, weil ihr eigener Wagen an diesem Tag in der Werkstatt stand. Sie nahm ihn mit in das Büro des Anwalts, und als der Daniel misstrauisch beäugte, erklärte sie, dass der junge Mann ein Verwandter ihrer besten Freundin sei, sie volles Vertrauen zu ihm habe. Dann sprach sie mit dem Anwalt über ihr beachtliches Vermögen und veranlasste ihn, das Testament zu vernichten, das sie bei ihm deponiert hatte. „Ich hab’s mir überlegt und werde keinen meiner Verwandten zum Erben einsetzen. Die sind alle herzlos und nicht an mir interessiert. Es wird sich sicher jemand finden, der meines Erbes würdiger ist“, erklärte sie und schaute dabei zur Decke.
Daniel gewann den Eindruck, dass es ihr vor allem darum ging, ihm zu verdeutlichen, welch gute Partie sie wäre. Wüste Vorstellungen schwirrten durch seinen Kopf.
Als er sie eines Tages wieder besuchte, redete sie ungewöhnlich offen mit ihm. Sie erzählte von ihrem Vater, dem kein Rock zu kurz war, und von ihrem inzwischen verstorbenen Mann, der sie ständig betrogen hatte. Schließlich zog sie einen Hefter mit Kontoauszügen hervor. „Das sind die Gelder, über die ich verfüge“, sagte sie. „Ich zeige sie dir, Daniel, weil ich großes Vertrauen zu dir habe und weiß, dass du nicht bist wie die anderen Männer.“
Dabei setzte sie sich zu ihm aufs Sofa und rückte eng an ihn heran. „Hier kannst du sehen, dass ich mein Geld redlich verdiene“, erklärte sie „Ich lebe nicht nur von der Rente meines Mannes und meinen Sparguthaben, sondern besitze auch eine Reihe von Immobilien. Es ist ja keine Schande, vermögend zu sein.“
Je mehr sie sich an ihn herandrückte, desto steifer wurde seine Haltung. Er wusste sich keinen Rat, wie er sich verhalten sollte.
„Du bist schüchtern“, sagte sie und lächelte dabei. „Das gefällt mir. Es kann sein, dass ich nach meiner Schönheitskur oder vielleicht auch Operation alles um mich herum erneuern werde. Das hieße, dass ich nicht nur die Küche, sondern auch meine Wohnzimmer und auch das Schlafzimmer austauschen will. Bis dahin bitte ich dich, noch zu warten.“
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, lehnte dann ihren Kopf an seine Schulter und streichelte seine Brust. Er rührte sich nicht.
„Dass du mein Vertrauen hast, beweise ich dir jetzt“, fuhr sie fort. „Ich brauche 20 000 Euro in bar. Es ist nicht einfach, so viel Geld auf einmal ausgezahlt zu bekommen. Dich betraue ich damit, das Geld für mich in Empfang zu nehmen. Nimm dazu die Aktentasche mit, die ich dir übergeben werde. Meine Bank habe ich verständigt und eine Vollmacht auf dich ausgestellt. Wenn du deinen Personalausweis vorlegst, wird man dir die Summe aushändigen.“
Daniel kam das alles absolut unwirklich vor. Verlegen nahm er die Tasche, und ohne noch ein Wort zu sagen, machte er sich auf den Weg. Mit Herzklopfen betrat er die Bank und stellte sich am Schalter an. Dort hatte man ihn schon erwartet. Ein Kassenangestellter in dunklem Anzug und mit Krawatte trat zu ihm und bat ihn in einen Nebenraum. „Sie sind also der Vertraute von Frau Nelles“, sagte er, nachdem sie sich beide an einen Besprechungstisch gesetzt hatten. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Daniel verneinte und überreichte dem Mann seinen Personalausweis. Der prüfte ihn genau. „Sie sind also Daniel Müller“, fuhr der Angestellte fort.
„Der bin ich“, antwortete Daniel ein wenig verlegen. „In der Firma Brinkmann & Co. nennen sie mich Müller II, weil es dort noch einen anderen Müller gibt.“
„Ich kenne Ihren Chef“, erwiderte der Bankangestellte. „Er ist uns als tüchtiger Mann bekannt. Sie können zufrieden sein, dass Sie bei ihm arbeiten dürfen.“
„Ich habe gerade erst meine Ausbildung beendet“, antwortete Daniel.
Würdevoll entnahm der Angestellte aus einer Kiste mehrere Päckchen von 200-Euro-Scheinen und legte sie einzeln vor Daniel auf den Tisch. Hundertmal musste er zählen, dann waren die 20 000 Euro zusammen. Der Banker bündelte sie und steckte sie anschließend in die dafür vorgesehene Aktentasche. Dann schaute er auf seine Uhr und verabschiedete „Daniel Müller Zwo“ mit besten Wünschen.
So schnell er konnte, eilte Daniel zum Wohnhaus von Thekla Nelles zurück. Dabei verdrängte er die Frage, wie es zwischen ihm und ihr weitergehen sollte. Er öffnete die Haustür.
Als er das Wohnzimmer betrat, erschrak er heftig. Frau Nelles lag auf ihrem Sofa in einer großen Blutlache. Er schrie auf sie ein, riss ihr den Kragen auf, griff ihr an Kopf und Hals, befühlte ihr Handgelenk.
Sie war offenbar mit mehreren Messerstichen ermordet worden. Wie konnte das geschehen sein? Zwei Stunden zuvor hatten sie beide doch noch friedlich zusammengesessen. Auf dem Tisch standen noch die Kaffeetassen, aus denen sie getrunken hatten. Wer konnte ein Interesse daran gehabt haben, die harmlose Frau ums Leben zu bringen? Einer ihrer erbschleichenden Verwandten?
„Der Verdacht wird auf mich fallen“, durchfuhr es ihn. ‚Überall wird man meine Spuren finden. Als sie sich an mich angelehnt und mich gestreichelt hat sind Partikel meiner Kleider, meiner Haut an ihr hängengeblieben … Wofür war das Geld bestimmt, das ich auf der Bank abgehoben habe?‘
„Nein, nein, nein“, schrie er erregt. Gerade erst hatte er voller Hoffnung und Ehrgeiz seine berufliche Laufbahn begonnen.
Er wollte Erfolg und ein gutes Einkommen haben, wollte mit Ines zusammenziehen, ein glückliches Leben führen. Damit war es jetzt vorbei. Niemand würde ihm seine Unschuld glauben. Schon die polizeilichen Untersuchungen würden ausreichen, dass sein Chef ihm kündigen und alle Kollegen einen Bogen um ihn machen würden.
Daniel geriet in Panik. Er fasste den schnellen Entschluss, ins Ausland zu fliehen, von dort aus die Ermittlungen der Polizei abzuwarten. Vielleicht hatte der Mörder auch Spuren hinterlassen und konnte gefasst werden. Dann würde man Daniel seine übereilte Flucht sicher verzeihen.
Die Aktentasche mit dem Geld nahm er mit. Er würde es unterwegs brauchen. Später, wenn sich alles aufgeklärt hatte, würde er das Geld zurückzahlen. Mindestens 24 Stunden, so rechnete er, sollte es dauern, bis der Mord entdeckt würde. Jetzt ging es nur darum, keine weiteren Spuren zu hinterlassen. Also durfte er nicht sein Handy benutzen, kein Taxi ordern. Er ging zielstrebig, aber ohne Hektik erkennen zu lassen, zum Bahnhof und bestieg den nächsten Zug zum Flughafen.
Dort angekommen, schaute er sich nach dem nächsten Flug um, der ihn ins Ausland bringen konnte. Plötzlich fiel ihm ein, dass er mit 20 000 Euro Bargeld die Gepäckkontrolle nicht würde passieren können. Er hatte in Erinnerung, gelesen zu haben, dass das Limit bei höchstens 10 000 Euro lag. ‚Jetzt nur nicht in Panik geraten‘, sagte er zu sich selbst und erkundigte sich nach dem Raum mit den Schließfächern. Dort trennte er sich von der Hälfte seines Geldes und schloss es ein. Sein Handy schaltete er aus und legte es dazu. Er wusste, dass es ihn jederzeit verraten konnte.
Dass er immer noch einen Haufen Bargeld und sonst kein Gepäck mit sich führte, wollte er damit erklären, dass er im Internet von einem Sportwagen gelesen hatte, der günstig zum Kauf angeboten wurde. Er musste schnell reagieren, bevor jemand anderes ihm das Angebot wegschnappte. Von Freunden wusste er außerdem, dass solche Verkäufe in der Regel bar abgewickelt wurden.
„Letzter Aufruf zum Flug nach Laban!“, hörte er durch den Laufsprecher. Er lief zum Schalter und löste einen Flugschein. Es war kein Platz in der Economy-Klasse frei, also buchte er Business-Class. ‚Nur weg von hier‘, dachte er und lief zum Einchecken.
„Sie denken wohl, dass 200 Passagiere nur auf Sie warten, junger Mann“, sagte die Angestellte, die seine Bordkarte und seinen Personalausweis überprüfte.
„Ich werde dringend in Laban erwartet“, erwiderte er und begab sich auf seinen Platz. In der Business-Klasse saßen nur wenige Passagiere. Das war ihm recht. Er drückte sich in seinen Sitz, schnallte sich an und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Dass er fliehen muss, stand für ihn fest. Die Ermittlungen, Verhöre, die Berichte in den Medien, die persönlichen Verdächtigungen, all das würde er nicht ertragen.
Wie aber sollte er Ines, seine Freundin, informieren? Ob sie ihm glaubte? Die Indizien waren erdrückend. Wie kam eine ältere Dame dazu, auf einen Schlag 20 000 Euro in bar von ihrem Konto abzuheben und das Geld von einem jungen Mann abholen zu lassen? Die Polizei musste annehmen, dass er die Alte erpresst hatte. Kurz zuvor hatten sie noch gemeinsam Kaffee getrunken. Die Spuren deuteten ohne jeden Zweifel auf ihn. Hatte er mehr Geld erwartet? War er wütend und enttäuscht? Hatte sie schon jemand anderem erzählt, dass sie eine Schönheitsoperation plante und sich verjüngen lassen wollte? Hatte sie die Operation oder die Kur vielleicht sogar schon gebucht? Was steckte hinter diesen Plänen? Journalisten und Blogger würden sich in wilden Spekulationen übertreffen und ihn gesellschaftlich erledigen. Daniel sah keinen Ausweg. Entweder er stürzte sich vor einen Zug, oder er floh. Vor wenigen Tagen war er noch voller Hoffnungen gewesen. Nein, aufgeben wollte er nicht. Vielleicht stieß die Polizei ja schon bald auf den tatsächlichen Mörder.