Читать книгу Die Irrfahrten des Herrn Müller II - Florian Russi - Страница 6
ОглавлениеDas Flugzeug war inzwischen gestartet. Daniel schloss die Augen. Plötzlich fühlte er eine Hand an seiner Schulter. War es schon so weit? Der Griff war nicht sehr fest. Er schaute auf und in das Gesicht einer jungen Frau. Sie sah nicht aus wie eine Polizistin, und es schien ihm, als ob er ihr Bild schon einmal gesehen hatte. Sie bat ihn, auf den benachbarten Platz zu wechseln und setzte sich neben ihn.
Was hatte das zu bedeuten?
Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und strich mit ihrer Hand über seine Brust. Er konnte sich nicht daran erinnern, ihr jemals zuvor begegnet zu sein. Ohne etwas zu sagen und so, als ob sie ein Paar wären, strich sie durch seine Haare und schaute ihn verliebt an. Konnte es sein, dass sie ihn mit jemand anderem verwechselte? Die junge Dame wurde immer zudringlicher. Da fiel ihm plötzlich ein, dass er ihr Bild in einer Zeitung gesehen und über sie gelesen hatte. Als er beim Frisör warten musste, hatte er in einem der bunten Magazine geblättert. Ja, das musste sie sein: Eine leibhaftige, aber nicht unumstrittene Prinzessin. Er, der sich sonst nicht um Hofgeschichten und Prominentenklatsch scherte, hatte gelesen, dass sie zu Besuch bei deutschen Verwandten wäre. In dem Bericht hieß es, dass sie das schwarze Schaf in ihrer Familie sei. Genüsslich wurde geschildert, dass sie in dem Ruf stand, trotz ihrer Jugend schon eine größere Anzahl von Männern verschlissen zu haben.
Jetzt fiel Daniel auch ihr Name ein: Lore. In dem Magazin war sogar davon die Rede, dass sie Staatsgästen in ihrem Land unsittliche Anträge gemacht hätte und dass es wegen ihr im heimischen Parlament Anträge gegeben hatte, die Monarchie abzuschaffen. Sie war nicht sonderlich hübsch, hatte herbe Züge, aber einen sympathischen Blondschopf und einen ausgeprägten Schmollmund. Sie musste Lore sein. Doch was wollte sie von ihm? War er das aktuelle Opfer ihrer Mannstollheit? Weshalb gerade er, warum jetzt?
Seine letzte Fragen beantwortete die Blaublütige, indem sie sein Hemd aufknöpfte, sein Unterhemd beiseiteschob und seine Brust küsste. Wie sollte er darauf reagieren? In seiner Situation konnte er es sich nicht leisten, einen Skandal auszulösen. Die in einigem Abstand sitzenden wenigen Mitreisenden im Abteil konnten glauben, er und Lore seien ein verliebtes Paar. Also hielt er still und schloss die Augen. Dabei durchfuhr ihn der Gedanke, dass Lore ihm vielleicht sogar nützlich sein könnte. Als Tochter eines Königs war sie sicher nicht ohne Einfluss.
Sie ließ sich nicht beirren und begann nun an seiner Hose zu nesteln. „Wieso machst du das?“, fragte er sie.
„Du hast so wunderschöne, sanft blickende Augen“, flüsterte sie. „Sie sagen mir, dass ich bei dir richtig bin. Ich gebe zu, ich bin ein bisschen geil. Doch ich kann mich auf mein Gefühl verlassen. Bei dir habe ich sofort gemerkt, dass du mit mir einverstanden sein würdest. Warum sollte ich mich also zurückhalten? So einen wie dich sehe ich heute zum ersten Mal und vielleicht nie wieder. Deshalb verschließe ich nicht die Augen und verdränge auch nicht die Lust, die mich überkommt. Willst du, dass ich aufhöre?“
„Ich weiß nicht“, antwortete er.
„Ich weiß es für dich mit“, antwortete sie, knöpfte seine Hose auf und fasste nach seinem Glied. Ihm war nicht nach einem erotischen Erlebnis zumute. Allerdings wollte er sich auch nicht wehren und die Aufmerksamkeit der Mitreisenden mehr als nötig auf sich ziehen. Die Anspannung, die er in den vergangenen Stunden durchgemacht hatte, sorgte dafür, dass sein Glied aufrecht stand, auch ohne dass er wirklich Lust verspürte. Sie öffnete ihre Lippen, nahm seinen Penis in den Mund und begann mit eifrigen Auf- und Ab-Bewegungen. Es dauerte nicht lange, und seine aufgestaute Erregung entlud sich. So sehr er auch bemüht war, konnte er ein kurzes Aufstöhnen nicht verhindern. Erstaunt nahm er wahr, dass sie ganz selbstverständlich seinen Samen schluckte. Sie schien so etwas nicht zum ersten Mal getan zu haben.
„Dich lasse ich so schnell nicht wieder los“, sagte sie. „In mir brennt ein Feuer, das du ohne Bedingung löschen musst.“ Sie drückte ihr Gesicht an ihn. Es war heiß. Das Feuer in Lore loderte, und er beschloss, sich ihr anzuvertrauen. Irgendwann später würde er ihr alles erzählen.
Das Flugzeug landete. ‚Hoffentlich wird nicht schon durch Interpol nach mir gefahndet‘, dachte er und fürchtete sich vor möglichen Kontrollen. Doch seine Sorge erübrigte sich. Ein Leibwächter, der diskret irgendwo im Abteil gesessen hatte, bat die Prinzessin, ihm zu folgen. Sie aber nahm Daniel an der Hand und zog ihn mit sich zu einem vornehm glänzenden Auto, das auf dem Flughafengelände schon auf sie wartete. „Jo“, sagte sie zu dem Fahrer, „Ich kann mich auf dich verlassen, dass du uns zum St.-Bertram-Eingang bringst. Und du, mein Freund und Beschützer“, ergänzte sie in Richtung ihres Leibwächters, „hast nichts gehört und gesehen.“
„Das ist mein Beruf“, antwortete der. Lore beugte sich nach vorne und gab ihm einen Kuss in den Nacken. Auch für ihre Nackenküsse, so erinnerte sich Daniel gelesen zu haben, war die Prinzessin in ihren Kreisen bekannt.
Ob alles Wirklichkeit war? Daniel konnte es kaum fassen. Er saß im Auto neben einer echten Königstochter, die offenbar Gefallen an ihm gefunden hatte. Das Summen des Fahrzeugs, die Lichter in den Straßen und den Häusern, an denen sie vorbeifuhren, die Menschen, die beiden Männer, die vor ihm saßen und sich angeregt unterhielten, das alles war kein Traum. Genauso wenig, wie die tote Frau Nelles ein Traumgebilde war. „Ich wohne im Schloss“, sagte Lore „und ich werde dich an einem Hintereingang absetzen. Versteck dich bitte hinter einer der Säulen und warte, bis ich komme und dir eine kleine Nebentür öffne. Meine Eltern sind von Amts wegen sehr prüde. Ich werde dafür sorgen, dass sie dich nicht zu Gesicht bekommen. Sollten dir trotzdem irgendwelche Domestiken im Schloss begegnen, brauchst du nur zu sagen, dass du eine Verabredung mit mir hast und auf mich wartest. Das will ich zwar vermeiden, und sie würden es auch nicht gut finden, aber sie kennen es nicht anders.“
Wie von ihr gewünscht, versteckte er sich an dem bezeichneten Hintereingang des Schlosses. Es war nach Mitternacht und sehr dunkel. Im Schloss brannten nur wenige Lichter. Er brauchte nicht lange zu warten. Lore öffnete eine Tür und zog ihn zu sich. Sie umarmte ihn leidenschaftlich und presste sich eng an ihn. „Komm mit in mein Schlafzimmer. Ich muss dich sofort besitzen.“ Sie klammerte sich an ihn, er fürchtete sich vor dem, was nun folgen würde. Die Erlebnisse der vergangenen Stunden zeigten deutlich Wirkung. Ihm war zwar nicht zum Schlafen zumute, aber auch nicht zum Beischlafen. Die Enttäuschung für sie würde groß sein.
Er hatte sich getäuscht. Lore stieß ihn auf ihr breites Bett, zog ihm die Kleider vom Leib und war ohne große Probleme in der Lage, Totgeglaubte wieder zum Leben zu erwecken. Sie war von Lust und Leidenschaft besessen, stieß immer wieder kurze Schreie aus, biss ihn in seine Ohren, die Nase und andere Körperteile. Er selbst brauchte nicht viel beizutragen. Sie bebte am ganzen Körper und ließ erst nach, nachdem sie sich in einem gewaltigen Orgasmus Befreiung verschafft hatte. Danach sank sie neben ihm auf ihr Kissen, küsste seine Stirn und flüsterte zärtliche Worte in sein Ohr. Sie wirkte befriedigt. ‚Also ist sie doch keine Nymphomanin‘, dachte Daniel. Er hatte gelesen, dass ständiges Unbefriedigtsein für Nymphomaninnen typisch sei. Er überlegte, ob dies ein günstiger Zeitpunkt wäre, um ihr von sich und seiner Situation zu berichten. Doch sie kam ihm zuvor, indem sie von sich und ihrem Leben erzählte.
„Zwei Dinge sind mir in die Wiege gelegt worden: Erstens, dass ich die Tochter eines Königs bin und, zweitens, eine unbändige Lust an der Lust habe. Es ist mein Schicksal. An beidem kann und werde ich nichts ändern. Von einer Prinzessin erwarten zwar viele, dass sie sich an die höfische Etikette hält, doch die haben sich verklemmte mittelalterliche Sittenwächter ausgedacht. Was soll heute noch der Hofknicks, den ich zu bestimmten Angelegenheiten meiner eigenen Mutter schulde? Wer heute auf einem offenen Platz Hunger bekommt, kauft sich eine Bratwurst und isst sie vor den Augen der Vorbeigehenden. Anschließend schleckt er vielleicht noch ein Eis. Im alten Griechenland war so etwas streng verpönt. Heute ist es üblich, und es besteht kein Grund, nicht mit anderen Bedürfnissen ähnlich zu verfahren. Noch nie habe ich jemandem Gewalt angetan, ihn erpresst oder genötigt. Vielen Männern geht es ähnlich wie mir, doch sie trauen sich nicht. Dann ist’s gut, wenn ich die Initiative ergreife. Wenn ich keine Prinzessin wäre, würde kaum jemand Notiz von meinem Tun nehmen. Unser Schlossgeistlicher hat sich meinen Eltern gegenüber einmal an meinem Sittenwandel gestört. Doch ich glaube keiner Religion. Deren Geschichten sind voller Lügen. Alle Heiligtuer hatten es faustdick hinter den Ohren, oder sie kamen mit ihren Ansprüchen nicht klar. Nimm den Heiligen Benedikt von Nursia, den Gründer des ersten christlichen Ordens. Kaum hatte er begonnen, sich zu kasteien, da wurde er von erotischen Fantasien überwältigt. Was tat er? Er griff zur Peitsche und geißelte sich. Bis heute tun viele Ordensleute es ihm nach. Sie nennen das ‚Disziplin‘. Ich frage: Ist es Gott wohlgefälliger, sich den Rücken blutig zu schlagen, als zu masturbieren oder zu bumsen? Nein, ich bewundere diesen Ordensmann nicht. Viel eher sehe ich den griechischen Philosophen Diogenes als Vorbild. Der rülpste, furzte, onanierte und kopulierte in aller Offenheit. Das war für ihn Ausdruck totaler Freiheit. Auch ich werde mir die Freiheiten nehmen, die ich brauche. Weil ich das auch überall so sage, haben sich viele schon daran gewöhnt. Die Zahl meiner Anhänger nimmt zu. Immer mehr Menschen trauen sich, das auch offen zu bekennen. Meine Eltern und den Ministerpräsidenten unseres Landes habe ich bisher allerdings nicht überzeugen können.“
Lore stand vom Bett auf, sammelte vom Boden ihre Kleider auf und versprach, bald wiederzukommen. „In zwei Stunden werde ich dir etwas zu essen bringen. Ruh dich bis dahin aus. Wenn du mit mir mithalten willst, brauchst du Kraft.“
„Dann muss ich dir etwas von mir erzählen“, antwortete Daniel. „Auch ich habe ein Problem.“
Lore verabschiedete sich und warf ihm noch einen freundlichen Blick zu. Sie schien zufrieden zu sein. Er musste länger als zwei Stunden auf sie und seine Mahlzeit warten. Als sie endlich kam, wirkte sie ungeduldig und überdreht. Kaum, dass er gegessen hatte, hielt sie ihm den Mund zu und machte sich wieder über ihn her. Sie schien unersättlich. „Glaube nicht, dass du mir entkommst“, sagte sie und begann zu stöhnen. „Nie mehr wirst du einer anderen Frau als mir gehören. Du machst mich heiß. Ich verbrenne vor Lust und werde keine Ruhe geben, bis ich den letzten Rest an Manneskraft aus dir herausgesaugt habe.“ Dann stieß sie unverständliche Laute aus, steigerte sich wieder in höchste Ekstase und sank anschließend ermattet auf seine Brust. „Sag mir, wen hast du umgebracht?“, fragte sie dann. Sie hatte offenbar inzwischen einiges über ihn erfahren, über das er mit ihr reden wollte. Was sie gehört hatte, schien sie aber grade beim Geschlechtsakt animiert zu haben. War sie doch pervers?
„Glaub mir, ich bin unschuldig“, erklärte er, und die Art, wie er das ausdrückte, ließ keinen Raum für einen Zweifel an seiner Aussage.
„Mein Vater hat mich zu sich gerufen. Er ist außer sich. Irgendwer hat angeblich im Flugzeug fotografiert, wie ich mit dir zusammen war. Das Bild soll morgen in den Medien erscheinen. Das Foto ist, so heißt es, nicht sehr deutlich. Ich könnte es leugnen, doch die Presse und wohl auch unsere Nachrichtendienste sind schon hinter den Einzelheiten her. Das müssen wir durchstehen. Ich glaube dir, dass du niemanden umgebracht hast. Noch nie habe ich mit einem Mörder geschlafen und will das auch in Zukunft nicht tun. Das unterscheidet mich von vielen meiner Vorfahrinnen. Wenn die mit ihren hochadligen Angetrauten Verkehr hatten, waren eine Menge Mörder und Schlächter darunter.“
„Wenn die Medien über uns berichten, dann wäre es ja besser gewesen, ich hätte mich zu Hause der Polizei gestellt“, erwiderte Daniel erschrocken „Ich hatte solche Angst davor, in der Öffentlichkeit zerstückelt zu werden.“
„Meinem Vater gegenüber habe ich behauptet, ich hätte dich heute Morgen in die Innenstadt gebracht und dort ausgesetzt. Zum Glück war ich tatsächlich zu Besorgungen unterwegs. Mein Vater hat es sofort überprüfen lassen. Gottlob liegt noch kein Auslieferungsantrag gegen dich vor. Du musst jedoch so schnell wie möglich unser Land verlassen.“
„Bitte hilf mir dabei“, flehte er. „Wenn ich ihn unmittelbar erleben müsste, könnte ich weder den Rummel hier noch den in Deutschland ertragen.“
„Du kannst dich auf mich verlassen. Ich habe viele wichtige Freunde. Nur in meinem Schlafzimmer bist du nicht mehr sicher. Dort wird man bald nach dir suchen. Folge mir in einen anderen Raum. Er ist eines von 236 Zimmern in diesem Schloss. Wir nennen ihn ‚Salon Nabucco‘. Wir haben einige Räume nach Opern benannt. Sehr selten nur wird er genutzt, und dann nur für familiäre Besprechungen.“
Sie drängte zur Eile, und er ließ sich von ihr in den „Salon Nabucco“ führen. Das war ein geräumiges Zimmer mit rundem Tisch, mehreren Sesseln. An den Wänden standen schwere Eichenschränke und Bücherregale. Auf denen befanden sich mehrere Fotos aus der königlichen Familie. Daniel fielen vor allem diejenigen auf, die Lore als Dressurreiterin zeigten. Lore nahm eines davon in die Hände und zeigte es ihm stolz. „Es wurde nach den letzten nationalen Reitturnieren aufgenommen. Ich war zweimal Landesmeisterin. Das kann mir niemand nehmen. In diesem Zimmer bist du vorerst sicher“, ergänzte sie. „Damit du dich nicht langweilst, kannst du in den Büchern und Magazinen lesen. Viele befassen sich mit unserer Familie bis zum Beginn des letzten Jahrtausends. Es sind nicht nur schöne Geschichten. Die sind eher selten. Meistens geht es um Zweckheiraten, Intrigen, Machtkämpfe, Mord und Totschlag, auch um Frauen, die so ähnlich waren wie ich. Lass dich überraschen.“
Ihr Handy klingelte, und sie wurde bleich. „Schnell, ich muss dich im Schrank verstecken. Meine Eltern sind hierher unterwegs. Sie dürfen dich auf keinen Fall sehen.“ Sie öffnete die Tür zu einem breiten Schrank und schubste ihn hinein. Sekunden später wurde die Tür zum Salon geöffnet und Lores Eltern betraten den Raum. „Setz dich, Lore, wir haben mit dir zu reden“, sagte eine männliche Stimme. Daniel konnte mithören, was nun gesprochen wurde. Er war in einer unbequemen Lage, traute sich aber nicht, sich im Schrank zu bewegen.
„Du bringst es noch so weit, dass ich abdanken muss …“, erklärte der Vater erregt. „… und dass die Monarchie ganz abgeschafft wird“, ergänzte die Mutter. „Du bist Prinzessin, die Nummer drei in der Thronfolge. In jedem Jahr erhältst du vom Staat Geld und eine Menge Privilegien. Das hast du zu berücksichtigen. Du kannst nicht tun, was dir in den Sinn oder sonst wohin kommt. Deine private Sphäre ist eng. Als Mitglied unserer Familie hast du eine Vorbildfunktion. Lange genug waren wir bemüht, deine Eskapaden geheimzuhalten, zu vertuschen oder zu verniedlichen. Das geht nun nicht mehr. Alle Zeitungen schreiben darüber. In Kneipen wird über dich gespottet und gelästert. Du bringst mich, unsere Familie und die ganze Monarchie in Verruf. Was du da mit dem jungen Deutschen angestellt hast, setzt allem die Krone auf. Wir hatten dich zu Tante Agathe nach Deutschland geschickt, weil wir gehofft haben, sie würde einen guten Einfluss auf dich nehmen. Sie, die heute so hochgeschätzte Fürstin von Felsenstein, hat in ihrer Jugend auch keine Gelegenheit ausgelassen, sich den unterschiedlichsten Männern an den Hals zu werfen, Verwandten, Adligen, Bürgerlichen, Prinzen, Reitlehrern, Türstehern und Domestiken. Das alles ist längst vorbei. Sie führt eine vorbildliche Ehe, ist eine treusorgende Mutter, tut viele gute Werke und ist frei von Skandalen. Hat sie dir nicht helfen können?“
„Wie hätte sie mir helfen sollen? Sie hat sich alle Geschichten von mir erzählen lassen, jedes Detail hat sie interessiert. Vieles hat sie an die eigenen Erlebnisse erinnert, die sie nicht leugnet und die ihr viel Spaß gemacht haben. ‚Das legt sich irgendwann‘, hat sie gesagt. Wie ich ist sie der Meinung, dass jeder tun darf, was anderen nicht schadet. Alle Welt vögelt, die einen mehr, die anderen weniger. Es gibt derzeit mehr als sieben Milliarden Menschen. Wo kommen die alle her? Da muss doch viel Lust und Leidenschaft im Spiel sein. Stehen wir also dazu und gehen wir das Thema offen an. Was würde es schaden, lieber Vater, wenn du öffentlich erklären würdest: ‚Ich habe eine Tochter, die liebt den Sex und schämt sich nicht dafür. Außerdem ist sie eine hochbegabte Dressurreiterin, hatte in der Schule in Religion eine eins und beim Studium der Geschichte erreicht sie gute Noten. Sie kommt ihren Repräsentationspflichten als Prinzessin vorbildlich nach. Seien wir alle froh, dass wir sie haben.‘“
„Und schützt eure Söhne davor, ihr in die Hände zu geraten“, ergänzte die Mutter.
„Ich werde dir demnächst aus einer Mail vorlesen, die ich dieser Tage bekommen habe, liebe Mutter“, antwortete Lore. „Darin bedankt sich ein dir nicht unbekannter junger Mann dafür, dass ich ihn von seinen Verklemmungen befreit habe. Vergesst bitte auch nicht, dass ich einen wichtigen Beitrag für unsere Volkswirtschaft leiste. Der Soziologe Karason hat festgestellt, dass, wenn es mich nicht gäbe, die Auflagen unserer Zeitungen um 20 Prozent niedriger liegen würden als jetzt. Viele schimpfen über mein Tun, lesen darüber aber mit gierigen Augen, um sich anschließend wieder von Herzen empören zu können.“
„Diesen Karason darf man nicht ernst nehmen. Mit dem hattest du doch auch etwas“, erwiderte die Mutter.
„Ich stehe in der Tradition unserer Familie. Zwei Historiker haben geschrieben, dass unsere Stammmutter Eulalie es mit einem Stallburschen getrieben hat. Immer wenn ihr Mann, der König, auf Reisen war, musste der Junge bei ihr antreten. In diese Zeit fiel auch die Geburt des Thronfolgerns, unseres Vorfahren Gerold. Vom König selbst heißt es, dass er entweder impotent oder schwul gewesen sei. Die beiden Historiker haben das unabhängig voneinander festgestellt. Mit keinem von beiden hatte ich je ein Verhältnis. Sie sind schon seit über hundert Jahren tot.“
„Was sollen wir dann noch in unseren Ämtern, wenn selbst du als Prinzessin die Monarchie auf diese Art in Frage stellst?“, antwortete der Vater verärgert.
„Dieser Gedanke beschäftigt mich während meines Studiums immer wieder“, antwortete sie. „Ich glaube, viele Menschen mögen die Monarchie wegen ihres Bedürfnisses nach Sicherheit und Vertrautheit. In der Demokratie wird ständig um Macht und Einfluss gekämpft. Man kann nie sicher sein, wer sich dabei durchsetzt. In der Monarchie können zwar Missgeburten auftreten, aber Tradition und Erziehung wirken ausgleichend. Da die Nachfolge grundsätzlich mit der Geburt feststeht, kann sich die Gesellschaft langfristig darauf einstellen und sich rechtzeitig an die Thronerben gewöhnen. Das ist ja wohl auch der Grund, warum es inzwischen sogar in einigen sozialistischen Ländern Erbdiktaturen gibt. Es geht immer nur um Macht. Ideologien oder Staatsanliegen werden nur vorgeschoben.“
„Ich habe mich nie in mein Amt gedrängt und es immer als Zufall angesehen, dass ich zum König eines nicht unbedeutenden Landes geworden bin“, entgegnete der Vater. „Bevor ich mich weiter so sehr ärgern muss, kann ich resignieren und die Krone ablegen. Es bleiben mir genug andere Interessen.“
„Lass dich doch von Lore nicht derart aus dem Gleichgewicht bringen“, wandte die Königin ein. „Der Staat ist, wie er ist. Du hast Verantwortung übernommen. Auch müsste deine Nachfolge vorher noch geklärt werden.“
„Ich glaube nicht, dass der Kronrat zustimmen wird, wenn nach dem Gesetz unser Ältester an der Reihe wäre“, erwiderte der König. „Er kann ja nichts dafür, doch das Amt würde ihn überfordern. Da sind wir uns alle einig.“
„Wir haben ja noch einen zweiten Sohn. Vergiss nicht, mit welchen Problemen und Opfern ich ihn zur Welt gebracht habe. Joseph ist ein braver Junge.“
„Ihr beide solltet nicht vergessen, was in unserer Verfassung steht“, wandte nun Lore entschieden ein. „Es gilt zwar immer noch die männliche Nachfolge, doch wenn kein Kronprinz vorhanden ist, geht die Krone an die älteste Tochter. Das aber bin ich.“
„Du wirst doch deinen jüngeren Bruder nicht in Frage stellen“, empörte sich die Mutter.
„Das brauche ich nicht zu tun. Es gibt nach neuesten Forschungen mindestens 30 verschiedene Arten von Geschlechtern. In unserer Verfassung ist aber eindeutig von einem männlichen Nachkommen die Rede. Wenn du, liebe Mutter, dich ein bisschen mehr um Joseph gekümmert und ihn vielleicht auch mal persönlich gebadet hättest, wäre dir sicher etwas aufgefallen. Dein Jüngster ist ein Zwitter, in jedem Fall kein eindeutiger Mann. Wenn der Kronrat davon erfährt, wird er sich auch damit auseinandersetzen müssen. Unsere Verfassung ist in diesem Fall nicht auf der Höhe der Zeit. Schon lange gibt es die Forderung, die Thronfolge nicht vom Geschlecht abhängig zu machen. Doch die Monarchisten im Parlament haben sich nicht getraut, diese Änderung zu beantragen. Sie haben befürchtet, dass dann die Monarchie insgesamt in Frage gestellt werden könnte. In anderen Ländern ist die weibliche Nachfolge längst eine Selbstverständlichkeit. So wie die Dinge stehen, bin ich die legitime Thronerbin.“
„Du bist eine Hexe!“, giftete die Mutter.
„Und ich bin nur ein Mensch“, stöhnte der Vater. „Ich halte dieses Leben nicht mehr aus. Morgen werde ich meinen Rücktritt bekanntgeben.“
„Dafür besteht keinerlei Grund“, wandte Lore ein.
Das Gespräch der drei wurde jäh unterbrochen. Lange hatte Daniel sich bemüht, seine unbequeme Lage einzuhalten, sich kaum zu bewegen und keine Geräusche zu verursachen. Doch jetzt hatte er unwiderstehlich niesen müssen. Er hörte, wie die Königin aufschrie und der König einen grässlichen Fluch ausstieß. Die Tür knallte, und es wurde für eine Weile ganz still im ‚Salon Nabucco‘. Dann wurde die Tür wieder aufgerissen, und die Königin war zu vernehmen.
„Du hast uns also angelogen und diesen deutschen Bastard bei dir versteckt. Wenn er nicht sofort aus dem Schloss verschwindet, schicke ich die Leibgarde, dass sie ihn am Kragen fasst und aus dem Fenster wirft. Es ist unerträglich, was der uns zumutet. Der junge Schnösel hat alles mit angehört und wird morgen zur Presse gehen. Hast du den Journalisten noch nicht genug Stoff geliefert? ‚Prinzessin Lore umschwärmt ihren verheirateten Vetter‘; ‚Schon wieder ein neuer Liebhaber‘; ‚Ist Lore unersättlich?‘; ‚Vater und Tochter auf Staatsbesuch. Der Vater beließ es beim Händeschütteln‘. Was sollen wir denn noch in den Zeitungen über dich lesen? Hast du nicht einen Rest von Anstand?“
„Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich verliebt“, erklärte Lore. „Das ist doch ganz normal. Wenn ich nicht in diesem unmöglichen Schloss leben und auf so viele Konventionen Rücksicht nehmen müsste, gäbe es kein Problem. Doch sei unbesorgt. Daniel ist ein sehr diskreter Mann und wird spätestens morgen unser Land verlassen.“
„Mit wem hast du dich da eingelassen? Er soll in Deutschland einen Mord begangen haben. Es liegt noch kein Antrag auf Auslieferung vor. Doch wir müssen jederzeit damit rechnen. Es handelt sich also nicht nur um eine private Liebesaffäre. Es könnte ein juristischer und diplomatischer Skandal daraus werden.“
„Lass es mich regeln“, antwortete Lore bestimmend. Die Mutter verließ den Salon, und Lore befreite Daniel aus seinem Gefängnis. Als sie ihn sah, begann sie unbändig zu lachen, dann prustete es auch ihr heraus: „Das hätte sich ein Filmregisseur nicht absonderlicher ausdenken können. Ein Glück, dass du nicht früher geniest hast. Dann wären die Probleme in meiner Familie wohl wieder einmal nicht angesprochen worden.“
„Bin ich jetzt schuld, wenn dein Vater morgen zurücktritt?“, fragte Daniel besorgt.
„Das wird er nicht tun“, erwiderte sie bestimmt. „Es geschieht immer wieder, dass er es ankündigt, doch dann überlegt er es sich und besinnt sich auf seine Verantwortung. Die Nachfolgefrage ist etwas prekär.“
„Habe ich richtig verstanden, dass es mit deinem älteren Bruder ein Problem gibt?“
„Mit dem älteren und auch dem jüngeren. Der ältere hatte vor einem Jahr bei einer Safari einen schweren Unfall. Davon wurde leider auch sein Gehirn betroffen. Er kann sich kaum konzentrieren und hat immer wieder geistige Aussetzer. Es wird von Monat zu Monat schlimmer mit ihm. Der Aufgabe eines Königs ist er nicht mehr gewachsen. Mein jüngeres Geschwister wurde zwar in eine männliche Rolle gedrängt, doch, wie du gehört hast, ist es weder Mann noch Frau. Falls sich der Kronrat gegen meinen älteren Bruder entscheidet, müsste die Thronfolge auf mich als älteste Tochter übergehen. Ich dränge mich nicht danach. Es würde mich freuen, wenn mein Vater noch lange im Amt bliebe. Danach aber werde ich auf meinen Rechten bestehen.“
„Wirst du mir helfen, in ein anderes Land zu entkommen? Jetzt, nachdem sich die Dinge so sehr verwickelt haben, möchte ich mich noch weniger als vorher der deutschen Polizei stellen. Ich habe gelesen, dass in Deutschland fast 100 Prozent aller Mordfälle gelöst werden. Man lässt nicht locker und scheut keine Kosten, bis alles aufgeklärt ist.“
„Das wäre doch gut für dich, wenn du nicht der Mörder bist.“
„Ich habe heute Morgen über deinen Computer die Nachrichten aus meiner Heimatregion abgerufen. Die Presse überschlägt sich mit Tiraden auf mich. Das halte ich nicht aus. Ich will irgendwohin verschwinden, wo niemand mich findet und mich erst wieder melden, wenn man den wirklichen Mörder gefasst hat.“
„Morgen werden die Medien mit unserem Verhältnis aufmachen. Das wird auch für mich nicht einfach. Bis dahin musst du außer Landes sein. Der verlässlichste meiner Freunde wird dich nach Betanien bringen. Dieses Land hat zurzeit keine handlungsfähige Regierung. Fanatische Sektierer kämpfen um die Vorherrschaft. Andere Staaten versuchen, darauf Einfluss zu nehmen. Bisher verlaufen die Auseinandersetzungen weitgehend friedlich. Politisch aber herrscht absolutes Chaos. Sollte man dich in diesem Land vermuten und die Bundesrepublik Deutschland einen Auslieferungsantrag stellen, so wird sich niemand finden, der zuständig ist. Leider kann ich mich nicht richtig von dir verabschieden. Die Zeit drängt. Stell dich darauf ein, in den nächsten zwei Wochen als unbekannter Passagier auf einem Kreuzer zu leben. Unser Geheimdienst wird sich um deine Betreuung kümmern. Auch er hat ein Interesse daran, dass unser Land nicht ins Gerede kommt.“
Sie umarmte ihn kurz, dann sagte sie: „Wir werden uns sicherlich wiedersehen. Dein Fall wird sich aufklären, und an meinen offenen Umgang mit der Sexualität wird man sich gewöhnen. Zum Abschied habe ich noch ein Geschenk für dich. Du wirst es sicher gut gebrauchen können. Es sieht aus wie ein Halsband, und so solltest du es auch tragen. Es ist ein neuentwickelter Computer, der in der Lage ist, Gespräche in den verschiedensten Sprachen simultan zu übersetzen. Er ist auf alle bekannten Sprachen programmiert, besitzt aber auch die Fähigkeit, nach kurzer Zeit ungewohnte Sprachen, Mundarten und Stammesdialekte zu verstehen. Das gelingt ihm dadurch, dass er Wiederholungen und Zusammenhänge registriert, die Häufigkeit von Wörtern und Begriffen gewichtet und daraus deren Bedeutung kombiniert. Solltest du jemals in einem Dialekt angesprochen werden, wird dir der Computer schon bald die Übersetzung liefern. Stell dir vor, er wäre nur auf die hochdeutsche Sprache programmiert. In Friesland, Bayern oder Mecklenburg könntest du damit Probleme bekommen. Deshalb hat er das zusätzliche Übersetzungsprogramm. Es ist genial. Nutze es und achte darauf, das Halsband nicht zu verlieren. Mehr konnte ich nicht für dich tun. Wir müssen uns jetzt schnell voneinander verabschieden.“
Daniel war dankbar und einverstanden. Er war froh, dass es keine längere Verabschiedung gab. Müde war er und erschöpft. „Tu mir bitte noch einen Gefallen und beauftrage jemanden, von einem fremden Handy aus meine Freundin Ines anzurufen. Lass ihr bitte ausrichten, dass ich in Panik von zu Hause geflohen bin und alles dazu beitragen werde, meine Unschuld zu beweisen. Sie soll mir vertrauen, ich würde immer an sie denken und ihr tr… bleiben.“ Er verschluckte das Wort „treu“. Jedenfalls hatte er fest vor, sich nie wieder auf eine Affäre einzulassen. Daniel und Lore gaben sich die Hand. Am hinteren Schlossausgang wartete Lores „zuverlässigster Freund“ schon mit laufendem Motor.