Читать книгу Die Irrfahrten des Herrn Müller II - Florian Russi - Страница 7

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Der junge Mann, der Daniel nun zum Landeplatz des Kreuzers „Imperial“ fuhr, war etwa fünf Jahre älter als er. Er stellte sich ihm als „Alexander“ vor und versicherte ihm, das volle Vertrauen von Prinzessin Lore zu besitzen. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und eine einfarbig blaugraue Krawatte und wirkte wie jemand, dem nicht daran gelegen ist, in irgendeiner Weise aufzufallen. „Es liegt weder im Interesse unseres Landes noch in dem der königlichen Familie, wenn wir gezwungen wären, Sie an die deutschen Justizbehörden auszuliefern“, sagte er. Dass er von „wir“ sprach, machte Daniel deutlich, dass sein Fahrer und Begleiter eine nicht unwesentliche Funktion in seinem Land ausübte. Er fasste Vertrauen zu ihm und fragte, ob er etwas über seine persönlichen Angelegenheiten wisse.

„Im Flugzeug wurde offenbar kein Foto von Lore und Ihnen gemacht. Einige Zeitungen haben zwar horrende Summen für ein Bild von Ihrer Begegnung geboten. Doch entweder hat niemand fotografiert, oder der König oder unser Geheimdienst haben das Foto exklusiv erworben. Niemand hat etwas in der Hand. Es gibt lediglich Gerüchte. Lore hat gegenüber den Medien erklärt, dass Sie beide sich kurz zuvor bei einer Festlichkeit kennengelernt und im Flugzeug wiedererkannt hätten. Daran ist nichts auszusetzen. Dass Lore nicht immer Distanz hält, ist bekannt und wird auch von ihr nicht bestritten. Man beginnt, sich an ihre Allüren zu gewöhnen, und manche warten nur darauf, dass sie wieder mal etwas unternimmt, was andere sich nicht zu tun trauen. Es ist ein Geben und Nehmen. Lore gibt einiges, aber ich bin mir sicher, auch das wird sich legen. Ich bin mit ihr befreundet. Sie ist eine großartige Frau. Was aber Sie anbelangt, mein Herr, ist in Deutschland immer noch die Polizei hinter Ihnen her. Inzwischen weiß die Staatsanwaltschaft, dass Sie in unser Land geflohen sind. Wir rechnen jeden Augenblick damit, dass der Auslieferungsantrag bei uns eingeht. Lore glaubt Ihnen, dass Sie unschuldig sind und will Sie schützen. Deshalb sind wir beide jetzt unterwegs. Auf dem Schiff werden wir Sie in einer Kabine versteckt halten. Dort können Sie eine reichhaltige Bibliothek über das Land finden, in das Sie demnächst einreisen werden. Ab und an werde ich Ihnen Gesellschaft leisten und ein paar Instruktionen geben, die für Sie wichtig sind. Lore scheint Sie sehr zu mögen und will kein Risiko eingehen. Doch bilden Sie sich nicht zu viel ein. Der Kreuzer fährt nicht wegen Ihnen nach Betanien. Er hat optisches Gerät für die mit uns befreundeten Nachrichtendienste an Bord und soll unsere Präsenz in der Region dokumentieren.“

Wie von Lore angekündigt, dauerte die Fahrt zwei Wochen. Niemand außer Lore und Alexander konnten wissen, dass sich Daniel auf diesem Schiff versteckt hielt. Jeden Morgen kam Alexander zu ihm in die Kabine und stellte ihm eine Tagesration zum Essen auf den Tisch. Zu längeren Gesprächen reichte selten die Zeit. Alexander war immer in Eile. Kurz vor der Landung fragte er Daniel, ob er in den Büchern gelesen und sich ein Bild von dem Land gemacht habe, das ihm nun bevorstand. „Es ist kein Land, in dem ich freiwillig leben wollte“, ergänzte er. „Auch für Sie wird der Aufenthalt dort nur ein hoffentlich kurzer Übergang sein. Die Betanier sind äußerst fanatisch. Obwohl sie angeblich alle an denselben Gott glauben, sind sie religiös zerstritten. Die verschiedenen Sekten überbieten sich mit Regeln und Formen von Fundamentalismus, für die es nur eine einzige Begründung gibt: Irgendwann hat einer ihrer Propheten oder Religionslehrer sie verkündet. Als größte Sünde gilt es, diese Regeln auch nur zu hinterfragen. Es gibt in der Welt nicht nur die Diktatur von Personen, sondern auch die von Worten, Geboten, Lehrsätzen und Bräuchen. Es scheint so, dass diejenigen, die einmal darin verfangen sind, sich damit abfinden und sogar anfreunden. Nur ganz wenige Bewohner des Landes bringen den Mut zur Rebellion auf. Die aber werden als Gotteslästerer gebrandmarkt und hingerichtet. Ich gebe Ihnen deshalb den folgenden Rat: Wo immer Sie hinkommen werden, erzählen Sie, dass Sie auf der Suche nach dem wahren Gott seien und das Bekenntnis zu ihm kennenlernen wollen. Lassen Sie sich dann alles erklären und passen Sie sich an, so schwer es Ihnen auch fallen mag. Ich kann es leider nicht ändern, doch was Ihnen jetzt bevorsteht, ist ein geistiges Überlebenstraining.“

Daniel hörte das nicht gern. Doch er hatte sich zum Durchhalten entschieden und musste zugeben, auf die ausstehenden Herausforderungen auch ein wenig neugierig zu sein.

„Die Passkontrolle werden wir umgehen“, fuhr Alexander fort. „Außerdem gebe ich Ihnen eine neue Identität. In nächster Zeit sind Sie Lukas Müller aus Gelsenkirchen. Wenn Sie sich in dieser Stadt nicht auskennen, macht es nichts. Sie sind dort nur geboren. Ihre jetzige Adresse ist Berlin. Dazu wird Ihnen genug einfallen. Alles Weitere können Sie erfinden. Achten sollten Sie nur darauf, dass Sie sich nicht in Widersprüche verwickeln. Reden Sie selbst wenig. Hören Sie lieber zu.“ Alexander übergab Daniel einen neuen Pass, dann verabschiedete er sich für diesen Tag, ohne irgendeine Regung in seinem Gesicht zu zeigen. Zwei Tage später saßen sie in einem Auto, das von einem einheimischen Fahrer gesteuert wurde und sie nach Jana, der Hauptstadt Betaniens brachte. Dort hatte sich auf einem Marktplatz eine Menschenversammlung eingefunden. Sie bildete einen Kreis um einen jungen Mann, der mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen in ihrer Mitte kniete.

„Was ist mit ihm?“, fragte Daniel entsetzt.

„Er bekommt zweimal zwölf Peitschenhiebe“, klärte der Fahrer ihn auf.

„Weswegen das?“

„Er hat während des Gottesdienstes in der Gebetshalle geniest.“ „Deswegen darf man ihn doch nicht bestrafen!“

„Seien Sie vorsichtig, junger Mann, mit dem, was Sie sagen. Niesen ist eine Sünde und während des Gottesdienstes schon gar nicht geduldet. Kein Gläubiger hat das Recht, vor anderen irgendetwas aus seinem Körper auszuscheiden: Seinen Samen nur in die Frau, mit der er verheiratet ist, seine Geschäfte nur, wenn er keinen Zuschauer hat und seinen Hintern oder seinen Pipimann in Richtung Westen gedreht hat. Wer in einem Raum furzt, muss sich sofort ins Freie begeben und sich dort dreimal um sich selbst drehen. Wer an Blähungen oder Schnupfen leidet, muss zu Hause bleiben und sich in ärztliche Behandlung begeben. Wer aber öffentlich laut furzt oder niest, dem drohen Peitschenhiebe. In milden Fällen kommt er mit einer Geldstrafe davon.“

„Wo haben Sie mich hingebracht?“, fragte Daniel vorwurfsvoll. „In den Büchern, die ich gelesen habe, stand nur etwas über Glaubensgrundsätze und über die Zahl der Anhänger der verschiedenen Religionszweige.“

„Da müssen Sie durch“, erwiderte Alexander ungerührt. Sie haben ja in meiner Anwesenheit bisher auch nicht gefurzt oder geniest. Halten Sie sich also auch zukünftig damit zurück. Im Übrigen gibt es Schulen, in denen man lernen kann, das Niesen oder Pupsen zu unterdrücken. Ono, der Gott, an den hier die meisten glauben, will es angeblich so.“

„Glauben Sie auch an Ono?“, fragte Daniel den Fahrer.

„Schon diese Frage ist eine Beleidigung“, erwiderte der. „Ono ist der Gott aller Menschen. Wer nicht an ihn glaubt, wird der Hölle verfallen.“

„Jetzt wissen Sie, woran Sie sind“, erklärte Alexander und bat den Fahrer anzuhalten. „Ich muss Sie nun bald sich selbst überlassen“, sagte er zu Daniel und verließ mit ihm das Fahrzeug. „Wenn Sie der Straße weiter folgen, auf der wir uns befinden, werden Sie nach etwa 500 Metern einen grünen Torbogen sehen. Ich empfehle Ihnen, dort hineinzugehen. Es ist der Zugang zu einer Art Kloster, dem Zentrum einer größeren religiösen Gemeinde. Deren Mitglieder gelten als ziemlich fanatisch, aber sie leben zerstreut und deshalb können sie ihren Übereifer nur an den Festtagen austoben. Sagen Sie, dass Sie auf der Suche nach religiösem Halt wären und Ono verehren würden. Wenn Sie das befolgen und sich den Regeln der Gemeinde anpassen, bietet das Kloster ihnen Unterkunft und Schutz. Folgen Sie meinem Rat, sonst werden Sie schnell zwischen die Mühlsteine fanatischer Sekten geraten. Als Fremder würden Sie das kaum überleben.“

„Uns gegenüber sehen Sie einen Uhrmacherladen“, setzte Alexander fort. „In wirklich wichtigen Fällen können Sie sich an dessen Besitzer um Hilfe wenden. Um sich ihm vorzustellen, benutzen Sie den Code, den ich Ihnen jetzt gebe.“

Er übergab Daniel einen Zettel mit aufgedrucktem Code und einen Umschlag mit Gallonen-Scheinen, der Währung des Landes. Wenige Sekunden später war Alexander in einer Seitenstraße verschwunden.

Daniel überfiel unbändige Angst. Langsam ging er die von Alexander empfohlene Strecke. Dann sah er vor sich den grünen Torbogen. Er betrat das Gelände, landete schließlich in einer offenen Gebetshalle. Er trat ein und stand vor einer respekteinflößenden Figur. ‚Das muss Ono sein‘, dachte er und begann plötzlich zu zittern.

„Oh, ein frommer Mann“, hörte er über seinen Sprachcomputer eine Stimme sagen. Er drehte sich um. Von hinten kamen zwei Männer auf ihn zu. Sie trugen lange Bärte und Hauben auf ihren Köpfen. Es waren Priester des Ono. Das Zittern, so hatte er gelesen, war für sie ein Ausdruck von Gottesfurcht und tiefem Glauben.

„Was suchst du hier, Fremder?“, fragte ihn einer der beiden Männer.

„Ich suche nach dem wahren Gott“, antwortete Daniel, eingedenk des Rats, den ihm Alexander gegeben hatte.

„Dann bist du bei uns richtig“, erwiderte der Mann. Der andere aber sagte: „Kenne ich dich nicht? Gehörtest du nicht auch zu den Schülern des ‚Alten vom Berge‘? Auch ich habe bei ihm studiert. Er war ein Heiliger. Ich hatte das Glück, noch seine Weihe zu erhalten. Kurz danach ist er leider verstorben, und viele andere, so wohl auch du, mussten ihre Ausbildung abbrechen. Willkommen bei uns. Wenn du willig bist, kannst du bei mir nachholen, was dir beim ‚Alten‘ entgangen ist.“

Diese Worte des Priesters beruhigten Daniel und irritierten ihn zugleich. Er war ihm nie in seinem Leben begegnet. Hatte der fromme Mann ihn mit jemand anderem verwechselt, wollte er sich vor seinem Kollegen wichtigmachen, hatte ihn vielleicht sogar Alexander bestochen? Dem traute Daniel inzwischen jeden Ränkezug zu.

„Mein Name ist Tamrud, und mein Bruder hier ist Selass. Sag uns nun auch, wie du heißt, Fremdling.“

„Ich bin Lukas und stamme aus Gelsenkirchen in Deutschland“, sagte Daniel, so wie es in seinem neuen Pass stand.

„Wir laden dich zum Essen ein“, fuhr Tamrud fort. „Wenn du willst, können wir dich auch beherbergen. Wir freuen uns immer über Gäste, vor allem, wenn sie auf dem Weg zu Ono sind. Sein Name sei allezeit gepriesen.“

Daniel willigte ein. Er sah keine Alternative und war sich klar darüber, dass eine Falle über ihm zugeschnappt war.

Alexanders Rat entsprechend verlegte er sich aufs Fragen. „Hat uns der ‚Alte vom Berge‘ nicht Mitleid gelehrt? Wieso wird einer, der nur versehentlich geniest hat, mit 24 Peitschenhieben bestraft?“

„Wäre er einer von uns, so hätte er mit einer höheren Strafe rechnen müssen“, antwortete Selass. „Niesen ist zwar lange nicht so gotteslästerlich wie furzen oder der Beischlaf zwischen Unverheirateten, doch der Verurteilte soll es während einer Gebetsstunde getan haben. Beim Gottesdienst oder an Feiertagen ist das Niesen kaum verzeihlich.“

„Was heißt das, dass er nicht zu euch gehört?“

„Er ist ein Belite, so heißen die, welche vom wahren Glauben abgefallen sind.“

„Ich habe über sie gelesen, und in dem Buch hat es geheißen, dass auch sie an Ono glauben, sich aber im 18. Jahrhundert von der alten Religion abgespalten hätten. Beli war der Prophet, der sie angeführt hat. Ich habe nicht recht verstanden, was der Grund für die Abspaltung war.“

„Gott ist einzigartig und ist uns durch die alten Schriften unzweifelhaft als Ono – sein Name sei gepriesen – überliefert. Beli aber verstieg sich dazu, seinen Namen mit zwei ‚n‘, also ‚Onno‘ zu schreiben und auch so auszusprechen. Kann es eine schlimmere Verirrung geben? Ono ist allmächtig und allumfassend. Es gibt nur ihn. An ihm darf nicht gezweifelt werden. Er ist Ono und nur dies allein. Seinen Namen mit zwei ‚n‘ zu schreiben, ist anmaßend und eine schwere Sünde.“

„Ich verstehe“, antwortete Daniel. „Es müsste aber doch möglich sein, eine Einigung zwischen den beiden Religionen zu finden.“

„In den meisten Glaubensregeln stimmen wir überein“, erwiderte Selass. Doch auf das zweite ‚n‘ können wir uns nicht einlassen. Das wäre dann nicht mehr unser Gott.“

„So bleibt’s unverbrüchlich bei Ono – sein Name sei gepriesen!“, erwiderte Daniel.

„Wir verstehen uns“, stellte Tamrud fest, während sie mit dem gemeinsamen Mittagessen begannen, und Selass ergänzte: „Ja, Lukas, du befindest dich auf dem richtigen Weg.“

Fürs Erste schien er gerettet. Er bat die beiden Priester, ihn im Glauben zu unterweisen und ihm eine Aufgabe zu übertragen. Sie kamen überein, dass er für die Ordnung im Gebetshaus die Verantwortung übernehmen sollte. Die bestand vor allem darin, dass die Räume sauber waren, nichts auf dem Boden herumlag, die heiligen Schriften nur den Priestern und ihren Schülern zugänglich waren, dass die Besucher der Sakralräume zum Spenden aufgefordert wurden, in allen Räumen Kerzen brannten und abends die Türen verschlossen wurden.

Daniel standen zwei Bedienstete zur Seite. Die beiden Priester jedoch erschienen meist nur zum Gottesdienst. Sie hatten Frauen und Kinder und waren häufig unterwegs, um auch außerhalb des Gotteshauses den Glauben an Ono zu verbreiten oder zu stärken. So war Daniel immer mal wieder allein.

Er fürchtete sich, in die Stadt zu gehen. Einen Monat wollte er warten, dann den Uhrmacher besuchen, um von ihm dann hoffentlich zu erfahren, dass die deutsche Polizei den Mörder von Frau Nelles ausfindig gemacht hatte. Immer wieder musste er an Ines denken. Ob sie Verständnis für ihn hatte? Und was dachten seine Eltern inzwischen? Sicher waren sie verhört worden, und Gerichtsreporter hatten sie bedrängt, um einiges über das Leben ihres Sohns zu erfahren. Sie hatten all das auszustehen, wovor er geflohen war.

Er versuchte, sich abzulenken. Da er die heiligen Texte, für deren Betreuung er zuständig war, nicht verstand, bat er einen Religionsschüler, ihm daraus vorzulesen. Der Sprachcomputer, den ihm Lore geschenkt hatte, übersetzte ihm dann die gesprochenen Worte. Daniel verstand die Inhalte oft nicht. Er wunderte sich, wie man aus einem solchen Wirrwarr ableiten konnte, dass nur Verheiratete miteinander schlafen durften und es gotteslästerlich war, zu niesen.

Bald aber musste er erleben, wie ernst Tamrud und Selass es mit ihren Glaubenssätzen hielten. In höchster Erregung teilten sie ihm mit, dass Ena und Solo, zwei Mitglieder ihrer Gemeinde, miteinander Ehebruch begangen hätten. Der betrogene Ehemann fordere Genugtuung. Ena müsse sofort gesteinigt werden.

„Warum nur sie?“, fragte Daniel. „Zum Ehebruch gehören doch mindestens zwei. Was ist mit Solo?“

„Auch er ist verheiratet“, erwiderte Selass. „Doch die göttlichen Gesetze sehen vor, dass nur die Ehebrecherin gesteinigt wird. Das ist doch logisch. Wenn sie sich nicht darauf eingelassen hätte, wäre es nie zum Ehebruch gekommen. Ono verlangt von den Frauen, dass sie Sitte und Anstand in Ehren halten. Auch Männer dürfen nicht die Ehe brechen. Pflicht der Frauen aber ist es, sie vor dieser Sünde zu bewahren. Sie aber hat ihn im Gegenteil verführt. Die Gemeinde ist aufgebracht. Sie verlangt die sofortige Vollstreckung der Steinigung. Kommt mit, wir müssen das bezeugen.“

Sie verließen das Gotteshaus und gingen zu einem nahen Platz. Dort war eine junge Frau bis zum Nabel in die Erde eingegraben. Ihr Körper war nur mit einem groben Leinenhemd bedeckt. Im Abstand von wenigen Metern liefen Männer aufgeregt gestikulierend hin und her. Alle hielten Steine in den Händen und schrien durcheinander. Der Sprachcomputer übersetzte ihm ihre Flüche und Obszönitäten. Daniel konnte es nicht fassen. Tamrud schaute an der aufgebrachten Menge vorbei und wirkte unbeteiligt. Selass aber rief der Eingegrabenen zu: „Du hast den Tod verdient. Gottes Gebote dulden keine Verstöße.“ Dann gab er ein deutliches Zeichen, mit der Steinigung zu beginnen.

Daniel hob abwehrend seine rechte Hand und rief mit fester Stimme: „Einen Augenblick noch. Ono ist durch Ena beleidigt worden. Das schreit nach Sühne. Doch der ‚Alte vom Berge‘ hat uns gelehrt, dass nur diejenigen mit Steinen werfen dürfen, die selbst ohne Sünde sind. Er hat das auch begründet. Wenn Ono beleidigt wurde, dann kann das nicht von Leuten gerächt werden, die vorher selbst gesündigt und sich damit von Gott entfernt haben. Nur wer von euch ganz ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“

Die Männer, die vorher noch wütende Lästerungen ausgerufen hatten, waren plötzlich irritiert. „Ihr wisst alle von dem ‚Alten vom Berge‘, setzte Daniel hinzu. „Er war ein untadeliger Gottesdiener und ein von Gott bestimmter Prophet. Tamrud und ich sind bei ihm in die Schule gegangen. Der Alte hat uns das, was ich gesagt habe, so gelehrt. Habe ich Recht, Tamrud?“

Daniel schaute gespannt auf die beiden Priester. Selass rang nach Worten und traute sich nicht, die Autorität des „Alten vom Berge“ in Frage zu stellen. Tamrud aber stimmte Daniel zu. „Der Prophet hat einmal gesagt: ‚Es kann nicht sein, dass Sünder Sünder für Sünden bestrafen‘.“

„Nur der völlig Reine hat dazu das Recht“, ergänzte Daniel und ließ keinen Zweifel an dieser Aussage aufkommen: „Es sollen die vortreten, die nie der unerlaubten geschlechtlichen Lust nachgegeben, nie mit einer Frau, mit der sie nicht verheiratet waren, geschlafen und nie sich in irgendeiner Form selbstbefriedigt haben.“ Tatsächlich traten zwei Männer vor.

„Wie wollt ihr beweisen, dass ihr frei von Sünden seid? Sicherlich gibt es einige unter uns, die wissen, dass auch ihr gegen Gottes Gebote verstoßen habt. Man kann sich ja auch irren, und das Gedächtnis kann einen trügen. Ono aber vergisst nie.“ Daniel wunderte sich, dass Tamrud ihm nicht widersprochen hatte. Vielleicht hatte der „Alte“ ja tatsächlich einmal etwas Ähnliches gesagt. Es passte durchaus in das System einer Religion, die nur strengen Rigorismus kannte. Es war auch zu spüren, dass die Versammelten nicht damit einverstanden waren, dass zwei unter ihnen sich für besser hielten als die anderen.

„Ich frage euch nochmals“, fuhr Daniel fort. „Könnt ihr beweisen, dass ihr bisher nie gesündigt habt?“

„Das kann doch niemand“, antwortete der eine der beiden Vorgetretenen.

„Noch weniger kann es meine Aufgabe sein, das für euch zu tun. Zieht euch also zurück, wenn ihr nicht wollt, dass euch Gottes Zorn trifft.“

Betreten folgten die beiden seiner Aufforderung. Es wurde nur noch leise geredet. Auf Daniels Anweisung hin wurde die Ehebrecherin aus ihrer Lage befreit. Sie hatte Tränen in den Augen und wollte Daniel umarmen. Der aber hielt sie zurück und sagte deutlich hörbar. „Du hast gesündigt. Ono wird dir Gelegenheit geben, zu bereuen und Buße zu tun. Gepriesen sei sein Name!“ Nach kurzer Zeit löste sich die Gesellschaft auf. Selass aber warf Daniel einen hasserfüllten Blick zu. Der musste sich darauf einstellen, einen gefährlichen Feind bekommen zu haben.

In der folgenden Zeit versuchte Selass immer wieder, Daniel mit theologischen Fragen zu provozieren und ins Unrecht zu setzen. Der jedoch war auf der Hut. Immer wieder erklärte er, dass er zum Lernen nach Jana gekommen sei und dabei große Hoffnungen und Erwartungen auch auf ihn, den anerkannten Theologen Selass, setze. Nur gelegentlich, wenn ihm die Äußerungen des Priesters allzu abstrus erschienen, berief er sich auf den „Alten von Berge“. Dann aber merkte er immer an, dass nur Tamrud in der Lage sei, die Lehren des Alten richtig zu deuten.

Eines Tages kam Selass auf ihn zu und sagte, dass er ein Problem habe. „Zwei Burschen aus unserer Gemeinde haben sich gestritten. Dabei kam es zu einer Prügelei, und der eine hat dem anderen einen Zahn ausgeschlagen. Die Regel in unseren Schriften heißt für diesen Fall: ‚Auge um Auge und Zahn um Zahn‘. Wie würdest du an meiner Stelle jetzt entscheiden? Die Familien der Streithähne haben sich an mich gewandt. Ich bin mit beiden befreundet und suche nach einem Weg, der Gottes Geboten folgt und von allen akzeptiert werden kann.“

„Um was für einen Zahn handelt es sich?“, fragte Daniel.

„Um den Eckzahn in der linken Hälfte des Oberkiefers.“

„Ich bin zwar nicht theologisch geschult wie du, würde aber folgenden Vorschlag machen: Der Bursche, der dem anderen den Zahn ausgeschlagen hat, geht zum Zahnarzt und lässt sich den entsprechenden Zahn aus seinem Oberkiefer entfernen. So wäre dem Gebot Genüge getan. Gleichzeitig sollte die Familie des Täters als Ausgleich an die Familie des Opfers 1 000 Gallonen zahlen. Damit könnten die erhitzten Gemüter abgekühlt werden.“

Selass fand diesen Vorschlag überzeugend und hatte seit längerer Zeit mal wieder ein Lob für Daniel übrig. Als sie sich wenig später wieder trafen, wirkte Selass ein wenig verlegen. „Unser Vorschlag wurde von den Familien angenommen, doch der Bursche, um den es geht, verfügt nicht mehr über einen Eckzahn in der linken Hälfte seines Oberkiefers. Er hat ihn schon vor Jahren bei einem Unfall verloren. Ich habe deswegen das Problem theologisch lösen müssen. Die Familien haben sich auf die Zahlung von 2 000 Gallonen geeinigt.“

Während Daniels Verhältnis zu Selass getrübt blieb, entwickelte sich das zu Tamrud zunehmend freundschaftlich. Der Priester, der etwa 30 Jahre älter war als er, sah in Daniel seinen wichtigsten und aufmerksamsten Schüler. Er zweifelte auch nicht daran, dass der junge Deutsche sich inzwischen zu Ono bekehrt hatte und es nur noch ein oder zwei Jahre Ausbildungszeit erforderte, und er werde ihn offiziell in den Priesterstand erheben können. Eines Tages sagte er zu ihm: „Du bist jetzt bald 20 Jahre alt, bist intelligent und hast eine solide und gottgefällige Laufbahn vor dir. Ich habe eine Tochter, Ilfa, die 14 Jahre alt ist. In ein paar Jahren könntest du sie heiraten und mit ihr eine Familie gründen. Sie würde dir anhängen und all das erfüllen, was du dir als zukünftiger Priester wünschst.“

Daniel hatte inzwischen gelernt, sich jedes Wort, das er aussprach, vorher genau zu überlegen. „Es wäre für mich eine hohe Ehre“, antwortete er deshalb. „Ab welchem Alter darf deine Tochter denn heiraten?“

„Mit 16 Jahren ist sie dazu reif.“ Tamrud griff in eine Seitentasche seines Gewandes und zog ein Bild hervor, das ein recht hübsches junges Mädchen zeigte. „Das ist sie“, sagte er stolz. „Persönlich kennen lernen darfst du sie allerdings erst kurz vor der Eheschließung.“

‚Also in zwei Jahren‘, fuhr es Daniel durch den Kopf. Bis dahin würde ihm noch viel Zeit bleiben. „Ich will gerne auf sie warten und werde mich bis dahin keiner anderen Frau zuwenden“, sagte er. Tamrud zeigte sich fröhlich und zufrieden. Er schien Daniel wirklich ins Herz geschlossen zu haben.

Wenig später sagte Tamrud zu ihm. „Heute Morgen war ein junger Mann hier und bat mich, dir auszurichten, dass deine Uhr fertig repariert sei. Du könntest sie jederzeit abholen.“

„Ach ja, meine Uhr“, erwiderte Daniel. „Die hatte ich längst vergessen.“ Nur mit Mühe konnte er seine Aufregung verbergen. Alexander hatte ihm gesagt, dass er sich nur in wichtigen Fällen an den Uhrmacher wenden dürfe. Es musste sich also etwas Besonderes ereignet haben. Ob man inzwischen den Mörder gefasst hatte? Er lief bei der ersten Gelegenheit zum Uhrmacher und zeigte ihm den Code. „Junger Mann, ich kenne Sie nicht“, sagte der. „Ich soll Ihnen nur ausrichten, dass in unserer schönen Stadt Jana ein Zielfahnder aus Deutschland eingetroffen ist. Was das für Sie bedeutet, werden Sie selbst wissen.“

Daniel stieß einen Fluch aus. Er bat den Uhrmacher, ihm eine gebrauchte alte Armbanduhr zu verkaufen. „Ich benötige sie als Nachweis“, erklärte er, und der Uhrmacher verstand. Als Daniel zurückkam, fragte ihn Tamrud, bei welchem Uhrmacher er gewesen sei. Voller Misstrauen nannte ihm Daniel dessen Namen. „Wenn du wieder mal Probleme mit deiner Uhr hast, gehe zu Murich. Er ist ein hervorragender Handwerker und gehört unserer Gemeinde an. Der, bei dem du vorhin warst, ist ein Tabanist. Tabanisten glauben zwar auch an Ono, doch sie haben eigene Schriften und folgen dem Propheten Taban. Der war ein strenger Rigorist, der neben seinen eigenen Lehrmeinungen keine anderen zuließ.“

Um in Ruhe nachdenken zu können, zog sich Daniel in sein Zimmer zurück. Man hielt ihn zu Hause also immer noch für einen Mörder. Die Polizei tat ihre Pflicht und ließ nichts aus. Er hatte in einem Fernsehfilm einen Bericht über Zielfahnder gesehen. Die schnüffelten hinter den Verdächtigten her, brachten in Erfahrung, wie sie ihr Leben gestalteten, ob sie bestimmte Vorlieben oder Neigungen hatten, ob und welche Zigarettenmarke sie rauchten, welchen Umgang sie hatten, wie sie ihren Tagesablauf gestalteten. Irgendwie hatten die deutschen Behörden herausbekommen, dass er sich in Jana aufhielt. Nun würde es nicht lange dauern, und der Zielfahnder würde herausfinden, dass er sich in einem Kloster versteckt hielt. Wenn er dann selbst wie ein Ono-Priester mit langem Bart, Haube und geistlichem Obergewand umherlief, war dies zunächst eine gute Tarnung. Ob sich aber ein geübter Zielfahnder dadurch ablenken ließ? Lore hatte ihm gesagt, dass er nicht ausgeliefert werden könne, weil zwischen Betanien und Deutschland kein Auslieferungsabkommen geschlossen worden sei. Was wollte der Fahnder also von ihm? Es konnte höchstens sein, dass er versuchen würde, ihn zur Rückkehr nach Deutschland zu überreden.

Er überlegte, wie er den Zielfahnder in die Irre leiten oder abschütteln könnte.

Ärgern musste er sich immer mehr über Selass. Der hielt während der Gottesdienste und Andachten immer häufiger Hetzreden gegen Andersgläubige, gegen die politischen Parteien, in denen Ungläubige die Oberhand behielten, gegen die Richter, die viel zu milde Urteile fällten, und gegen alle, die nicht bereit wären, Ono zu verehren oder ihn gar mit zwei ‚n‘ schreiben würden.

Ohne Daniel oder vielmehr Lukas oder Tamrud beim Namen zu nennen, wetterte er auch gegen eine laxe Auslegung der göttlichen Gebote und gegen die Sünde des Ehebruchs, für die es nur strengste Strafen geben dürfe.

Eines Tages sah Daniel zufällig, wie Selass im Vorhof des Gotteshauses sich eifrig mit einem Mann unterhielt, den Daniel bis dahin nie gesehen hatte. So nahe es ging, schlich er sich an die beiden heran und konnte hören, dass sie englisch miteinander sprachen. Was genau gesagt wurde, konnte er nicht verstehen, doch er war sicher, zweimal den Namen „Daniel“ gehört zu haben. Der Fremde musste der Zielfahnder sein.

Daniel zog sich auf sein Zimmer zurück. Zu seiner eigenen Verwunderung war er nicht ängstlich, sondern wütend. Er beschloss, den beiden eine Lehre zu erteilen. Es nahte das Fest der „Sieben Wohltaten“, einer der höchsten Feiertage zu Ehren Onos. Es wurde im ganzen Land mit Prozessionen, Tänzen und Gesängen gefeiert. Höhepunkt aber war ein feierliches Abendessen, an dem alle Mitglieder der Gemeinden nach Geschlechtern getrennt teilnahmen. Es wurden Zelte aufgestellt, und die Köche des Landes machten sich eine Ehre daraus, beliebte Speisen zu kochen und herzurichten. Alle Metzger, Bäcker und Lebensmittelhändler trugen, ohne Geld dafür zu fordern, dazu bei, dass die Tische, die an den Zeltwänden entlang standen, mit Delikatessen beladen waren. Jeder konnte sich das auf seinen Teller tun, was ihm am besten schmeckte. Daniel ging zu Tamrud und bat ihn, einen Gast einzuladen, den er aus Deutschland zu kennen glaube.

„Selass hat mir von einem Deutschen erzählt, der sich bei ihm nach dir erkundigt hat. Allerdings hat er dich Daniel und nicht Lukas genannt. War das eine Verwechslung, oder wie lässt es sich anders erklären? Gibt es Leute, die nach dir suchen?“

„Das würde ich auch gern in Erfahrung bringen“, log Daniel. „Es wäre daher sehr freundlich, wenn Selass den Mann einladen und mich ihm vorstellen würde. Dann kann ich herausfinden, ob er etwas von mir will.“

Selass war voller Verdächtigungen und deshalb sehr verwundert, dass Tamrud ihn bat, den fremden Herrn zur abendlichen Feier einzuladen. Der erschien tatsächlich, stellte sich als Olaf Grün aus Deutschland vor und war sehr daran interessiert, mit Daniel zusammenzutreffen. Daniel gab ihm die Hand und stellte sich als Lukas Müller vor. So war es mit Alexander besprochen, und unter diesem Namen war er auch gegenüber den Priestern aufgetreten.

„Lukas heißen Sie also“, sagte der Fahnder unvermittelt. „Haben Sie sich diesen Namen selbst ausgedacht, oder gibt es jemanden, der Sie schützt?“

„Gern bin ich bereit, im Laufe des Abends Ihre Neugierde zu befriedigen“, erwiderte Daniel ungerührt. „Allerdings bin ich, wie Sie, hier nur Gast. Warten wir ab, bis die Menge sich an den Speisen bedient hat, und lassen Sie uns dann zum Buffet gehen und anschließend ein wenig mit unseren Gastgebern plaudern. In diesem Land wird Höflichkeit sehr beachtet.“

Als niemand sonst mehr an den Tischen anstand, ging Daniel darauf zu, reichte auch dem Fahnder einen Teller und begann, sich unter den angebotenen Gerichten umzusehen. Olaf Grün tat es ihm nach und während er sich zu den Speisen beugte, zog Daniel einen Pfefferstreuer aus seiner Jacke, schüttelte ihn kurz und streute den Pfeffer unbemerkt in Richtung des Fahnders. Dann wendete er sich schnell in eine andere Richtung ab.

Es kam, wie er erhofft hatte. Herr Grün musste kräftig niesen und wollte gar nicht mehr damit aufhören. Sofort waren Männer des Ordnungsdienstes zur Stelle, ergriffen ihn und führten ihn ab. Die übrigen Gäste verfielen zunächst in Sprachlosigkeit. „Wer war das?“, hörte Daniel dann jemand fragen. „Ein Ungläubiger, der sich hinterhältig in unsere Gemeinschaft einschleichen wollte“, erwiderte er. „Er hat sich mit seinem hemmungslosen Niesen selbst überführt.“ Daniel schaute in Selass’ betreten dreinblickendes Gesicht und wartete ab, was nun folgen würde. Von überall her hörte er Worte der Empörung und die Forderung, dass mit dem Eindringling nicht zimperlich umgegangen werden dürfe. Dieser Meinung war auch Daniel.

Tatsächlich wurde der Fahnder vor ein sakrales Schnellgericht gestellt und zu 60 Peitschenhieben verurteilt. Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland schaltete sich ein, und es kam zu einem diplomatischen Konflikt. Das Religionsgericht aber wollte nicht einsehen, dass der Fahnder seiner gerechten Strafe entgehen sollte. Bis zur endgültigen Entscheidung des Höchsten Gerichtshofs hielt es Olaf Grün in Haft. Von Daniel war nicht mehr die Rede. Der Botschaft war die Angelegenheit peinlich, sie fürchtete weitere juristische Verwicklungen. Daniel aber versicherte Tamrud und Selass, dass es sich um eine Verwechslung gehandelt habe. Außerdem wäre er niemals bereit gewesen, sich von einem ihm fremden Mann in ein Land locken zu lassen, in dem nirgendwo der rechte Glaube gelebt werde.

Selass blieb misstrauisch. Soweit er konnte, beobachtete er jeden Schritt, den Daniel tat und versuchte festzustellen, ob er dabei gegen Glaubensgrundsätze verstieß. Eines Tages sagte er zu Daniel: „Du lebst nun schon mehrere Monate bei uns, schläfst im Gästehaus und sitzt mit uns an der Tafel. Für all das hast du bisher nicht eine einzige Gallone bezahlt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du ohne Geld zu uns gekommen bist. Da du es nicht brauchst, möchte ich dich auffordern, es an unsere Gemeinde zu spenden.“

Tatsächlich hatte Daniel seit seiner Flucht nur wenig Geld ausgegeben und das meiste von den Gallonen, die ihm Alexander übergeben hatte, in einer Plastiktüte aufbewahrt. Wie kam Selass nun dazu, ihn zum Spenden aufzufordern? Hatte er heimlich sein Gepäck durchsucht? Dann wäre es gefährlich gewesen, ihm nicht die Wahrheit zu sagen. Daniel sah ein, dass er Selass und seinem Fanatismus auf Dauer nicht gewachsen war. Der würde immer etwas finden, mit dem er ihn kompromittieren oder ins Unrecht setzen konnte. Er erinnerte ihn an einen jungen Kollegen in seiner Möbelhandelsgesellschaft. Auch der brachte die anderen immer wieder in Verlegenheit, indem er vorgab, fast alles zu wissen und das Ansehen der Firma hoch zu halten. Daniel gab also Selass das Geld, über das er noch verfügte und behielt nur einen kleinen Restbetrag, den er Selass ausdrücklich nannte. „Falls ich irgendwann doch etwas kaufen muss“, sagte er zur Begründung. Selass nahm das Geld entgegen und sah ihn an, ohne irgendeine Gefühlsregung erkennen zu lassen. Daniel aber dachte: ‚Der weiß über alles Bescheid, und von jetzt an bin ich ihm ausgeliefert.‘

Bei nächster Gelegenheit erzählte Daniel Tamrud von dieser Aktion. Der aber antwortete nur: „Selass rechnet damit, dass es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in unserem Land kommen wird. Er sammelt Geld, um Waffen zu kaufen. Leider sind es nicht wenige, die seine Ahnungen teilen. Ich habe die Befürchtung, dass rund um unser Gotteshaus bald ein Waffenlager entstehen wird.“

Daniel erschrak und nahm es zum Anlass, am folgenden Tag, als Tamrud und Selass sich bei ihren Familien aufhielten, in die Stadt zu gehen und den Uhrmacher aufzusuchen. Noch ehe er ihm etwas sagen konnte, lächelte der ihn an und erklärte, dass Daniel in der königlichen Botschaft erwartet würde. Worum es dabei gehen sollte und wie lange es dauern würde, konnte er nicht sagen.

Jetzt wurde Daniel endgültig bewusst, in welch verzwickter Lage er sich befand. Länger als ein oder zwei Stunden durfte er sich nicht vom Tempel des Ono entfernen. Sofort würde Selass neuen Verdacht schöpfen. Er ging zum Gotteshaus zurück und schrieb in englischer Sprache auf einen Zettel, dass er zur königlichen Botschaft gegangen sei, um dort wegen einer Erbangelegenheit vorzusprechen. Den Zettel legte er so, dass ihn Tamrud als Erster finden musste. Dann machte er sich auf zum Botschaftsgebäude.

Dort wurde er in ein Appartement für Gäste geführt. Lore wartete schon auf ihn. Sie umarmte ihn überschwänglich und zog ihn ohne viel zu reden ins Schlafzimmer. Diesmal war er sehr einverstanden. Die erzwungene Prüderie im Kloster hatte in ihm viel unbefriedigte Lust aufgestaut. Lore blieb ihm nichts schuldig. Sie setzte sich rittlings auf ihn, führte mit routinierter Bewegung sein Glied in ihre Scheide ein und begann mit rhythmischen Bewegungen, die nach und nach immer ekstatischer wurden. Er bemühte sich um Zurückhaltung, doch schon nach sehr kurzer Zeit hatte er sich nicht mehr in der Gewalt. Hemmungslos stieß er wilde Schreie aus, und es war nicht nur seine Lust, die sich dadurch Befreiung verschaffte, sondern auch die Last seines Klosterlebens. Lore wirkte ein wenig enttäuscht und unbefriedigt, doch sie war bemüht, es sich nicht zu sehr anmerken zu lassen. „Ich bin nicht offiziell hier und muss heute Abend schon wieder zurückreisen“, sagte sie. „Ohne dich hab ich’s zu Hause nicht mehr ausgehalten. Ich kann dir aber erfreuliche Mitteilungen machen.“

„Ist mein Fall geklärt?“, fragte er ungestüm.

„Darüber weiß ich nichts“, antwortete sie. „Was ich dir aber sagen kann, ist, dass unsere Verfassung nun endlich geändert werden soll und ich damit ohne Probleme die Nachfolge meines Vaters antreten kann. Ich habe einen zusätzlichen Titel zugesprochen bekommen und werde bald mein eigenes Schloss besitzen. Hätte ich das damals schon gehabt, hätte ich dich dort verstecken können, und du müsstest heute nicht hier sein.“ „Ärger hätte es mir kaum ergehen können“, klagte er und berichtete ihr von seinen Erlebnissen. „Warum hast du mich hierherbringen lassen? Es gibt doch andere Länder, die auch keine Auslieferungsabkommen mit Deutschland geschlossen haben.“ „Wie schlimm es hier sein würde, habe ich nicht gewusst“, erwiderte sie. „Ich habe auf Alexander vertraut. Gern will ich zugeben, dass ich für dich ein Land ausgesucht habe, in dem eine strenge Sexualmoral herrscht. Ich wollte nicht, dass du dich mit anderen Frauen einlässt. Das kannst du Eifersucht nennen. Es ist Eifersucht. Ich brauche dich und werde alles tun, um dich bald wieder bei mir zu haben. Dass Alexander dich nicht besser versorgt hat, hängt vielleicht damit zusammen, dass auch er eifersüchtig ist. Er liebt mich. Große Leidenschaft ist seine Sache nicht, aber gerade das könnte ihn auf dich neidisch machen.“

„Dann muss ich davon ausgehen, dass du auch meine Freundin Ines nicht wie besprochen über mich informiert hast?“

„Zunächst habe ich es vergessen oder auch verdrängt. Später erschien mir das Risiko zu groß. Leider habe ich auch deine Eltern nicht informiert. Selbst für die Tochter eines Königs ist es nicht einfach, jemanden zu finden, der so etwas vertrauensvoll und verschwiegen erledigt.“

Daniel war enttäuscht. Er hatte es mit einer großen Egoistin zu tun. Es drängte ihn, ihr zu sagen, dass ihre Strategie nicht aufgegangen sei. „Du hast zwar recht, dass in diesem Land eine starke Prüderie herrscht, doch ich habe einen Ausweg gefunden. Ich habe mich verlobt.“ Er erzählte ihr von Tamrud und seiner 14-jährigen Tochter, die er erst kurz vor der Hochzeit zu Gesicht bekommen sollte. Da musste Lore laut lachen. „Wenn es soweit ist“, sagte sie „wirst du sie nicht mehr befriedigen können. Bis dahin werde ich alle deine Manneskraft verbraucht haben.“

Sie drängte zum Aufbruch. In großer Eile erzählte er ihr noch von der angeblichen Erbangelegenheit, und sie versprach, Alexander zu veranlassen, sich darum zu kümmern. Dann verabschiedeten sie sich mit einem langen Kuss. „Du wirst bald wieder von mir hören“, versicherte sie.

Er verließ die Botschaft und eilte zurück ins Kloster. Trotzig wiederholte er unterwegs immer wieder den Satz: „Ich werde durchhalten.“ Er entschied sich, stärker zu sein als sein ungewöhnliches Schicksal. Zwei Tage später erschien an der Pforte des Klosters ein Bote der königlichen Botschaft und übergab einen Brief, adressiert an Lukas Müller. Tamrud und Selass hielten sich nicht mit ihrer Neugierde zurück. Daniel zuckte mit den Schultern und zeigte ihnen den Brief. Darin stand, dass es die Botschaft bedaure, ihm in seiner Erbschaftsangelegenheit nicht weiterhelfen zu können. „Es war nur ein Versuch“, erklärte Daniel. „Ein Großonkel meiner Mutter hat einige Jahre für eine pharmazeutische Firma in Laban gearbeitet. Ich wollte wissen, ob er vielleicht etwas hinterlassen hat.“ Selass wiegte den Kopf. Entweder war er immer noch argwöhnisch, oder aber er bedauerte, dass Daniel ihm nicht doch ein ererbtes Vermögen präsentieren konnte.

Ein paar Tage später musste sich Daniel nach dem Aufstehen lange die Augen reiben. In der Nacht waren offenbar einer oder mehrere Menschen in das Gelände des Klosters eingedrungen. Er oder sie hatten mehrere Mauern mit Farbdosen besprüht. Daniel fragte einen vorbeikommenden Religionsschüler, was die Worte und Zeichen an den Wänden bedeuteten. „Es sind Hassparolen gegen uns und unseren Glauben“, antwortete der. „So heißt es, dass wir auf ewig verdammt seien und schon auf Erden bestraft werden müssten.“

Daniel lief zu Tamrud, der völlig niedergeschlagen wirkte. „Wie kann das nur geschehen sein?“, rief der laut. „Hast du nichts von diesem Überfall gemerkt? Warst du etwa selbst beteiligt?“

„Bei Ono, sein Name sei gepriesen, schwöre ich, dass ich nichts davon mitbekommen habe. Ich habe tief geschlafen und niemanden gehört oder gesehen. Ich besitze weder eine Spraydose, noch beherrsche ich eure Sprache oder Schrift.“

„Das spricht in diesem Fall für dich“, antwortete Tamrud. „Selass hat mir dich als einen der Verdächtigen genannt. Er will einfach nicht glauben, dass du auf Gottsuche bist.“

„Wir müssen schnell nach dem Täter fahnden. Ist irgendwo eine Tür aufgebrochen worden?“, fragte Daniel.

„Der Täter muss einen Schlüssel oder Nachschlüssel besessen haben oder sich, wie du, schon auf dem Gelände befunden haben. Unsere Gemeinde ist groß, viele Gläubige kommen jeden Tag zu uns. Oft öffnen wir ihnen die Tore und lassen die Schlüssel in den Schlössern stecken. Nie bestand ein Grund zum Misstrauen. Wenn jemand unbedingt wollte, konnte er sich einen Nachschlüssel besorgen. Außerdem sind unsere Schlösser alt, ein geübter Handwerker kann sie mit einem Draht öffnen.“

Die örtliche Polizei erschien und untersuchte den Vorfall, und die Religionswächter fragten jeden, den sie trafen, darüber aus, ob er etwas über die Tat oder Tatverdächtige sagen könne. Keiner kam zu einem Ergebnis.

Beim nächsten Gottesdienst war das Klostergelände voller Menschen. Selass hielt eine Predigt, die auch über mehrere Lautsprecher übertragen wurde. Er drohte dem Täter fürchterliche Höllenstrafen an und forderte ihn auf, sich vertraulich bei ihm zu melden. Nur dann bestehe die Möglichkeit, seine Seele vor dem Schlimmsten zu retten. Niemand meldete sich. Es wurden Gerüchte laut, die sich alle als falsch erwiesen.

Selass ließ nicht nach mit seinen Aufrufen. Immer heftiger predigte er, immer fantasievoller und grausamer wurden die von ihm angedrohten Strafen. Es nutzte nichts. Da entschied er sich zum Äußersten. „Ono ist beleidigt worden. Das ist das schlimmste Verbrechen, das Menschen begehen können. Zumindest einer aus unserer Gemeinde muss es gewesen sein. Das Gesetz und unser Glaube verlangen, dass wir ihn mit dem Tod bestrafen. Wenn er aber nicht bereit ist, sich zu melden, bleibt uns nur ein Weg, Ono wieder mit der Menschheit zu versöhnen. Alle Mitglieder der Gemeinde müssen sich selbst hinrichten. Damit ist gewährleistet, dass auch derjenige dabei ist, der die Gotteslästerungen an die Mauern gesprüht hat.“

Die Zuhörer reagierten auf diese Worte sehr unterschiedlich. Alle, die Selass kannten, waren sich im Klaren darüber, dass er es ernst meinte mit seinem Ansinnen. Es war für ihn unvorstellbar, dass eine solche Tat ungesühnt blieb. Einige schüttelten die Köpfe, andere blickten ratlos drein, wieder andere riefen in die Menge, dass der Täter doch endlich den Mut aufbringen solle, sich zu melden. Einige wenige traten auch vor und versicherten, zum Selbstmord bereit zu sein, um Ono zu besänftigen.

„Auf diejenigen, die unschuldig sind, wartet der Himmel“, fuhr Selass fort. „Den Täter aber wird sich der Teufel greifen und ihn mit glühenden Eisen quälen. Seid ihr euch im Klaren, was das bedeutet? Jeder von uns hat sich schon mal die Finger verbrannt. Das hat höllisch weh getan. Für den Verbrecher stehen diese Qualen nun ewig bevor.“

Daniel schaute auf Tamrud, der nachdenklich schien, aber sich nicht traute, zur Predigt des Selass Stellung zu nehmen. Da ergriff er selbst das Wort und sagte: „Liebe Gemeinde, etwas Unverzeihliches und nicht Erklärbares ist geschehen. Jemand hat versucht, über Ono zu lästern. Das ist ihm aber nicht gelungen, denn Ono kann man nicht beleidigen. Er ist so groß und mächtig, dass er über allem steht, was die Menschen über ihn sagen. So hat es uns der ‚Alte vom Berge‘ gelehrt. Der unendliche Gott, der Himmel, Erde und alle Menschen erschaffen hat, braucht uns armselige Menschen nicht, um sich zu bestätigen. Er war, ist und steht weit über allem. Kann eine Ameise einen Elefanten beleidigen?

In seiner unendlichen Güte hat Ono seinen Himmel denen geöffnet, die ein gottgefälliges Leben geführt haben. Mit ihnen will er Gemeinschaft pflegen. Denjenigen, die seinen Geboten nicht folgen oder die sogar dagegen verstoßen, bleibt der Weg in die Hölle. Ono allein entscheidet, wen er bei sich haben will, und er allein entscheidet, wann dies der Fall sein soll. Nicht wir selbst dürfen darüber bestimmen, sondern nur er. ‚Geht nicht eher von der Welt, als bis Ono euch gerufen hat‘, lehrte uns der ‚Alte vom Berge‘. Ich weiß, dass ich für viele von euch ein Fremder bin, jemand, der gerade erst zu Ono gefunden hat. Doch ich hatte das große Glück, schon in jungen Jahren zum Berg wandern zu können und den Alten zu hören. Keiner hat Onos Willen so klar verstanden und wiedergegeben wie er. Folgt aber auch ihr ihm, dann wird Ono euch lieben.

Was nützt es, wenn wir uns umbringen. Ist es unsere Aufgabe, uns als Gemeinde aufzulösen, oder ist es unsere Aufgabe, Zeugnis für Ono abzulegen? Wer aber soll das tun, wenn es uns nicht mehr gibt? Was macht ein Gott, von dem keiner weiß und an den keiner glaubt? Niemand, so wage ich zu behaupten, verfügt über den gleichen Glaubenseifer wie wir. Das muss sich fortsetzen. Deshalb darf die Tat eines Einzelnen, der wahrscheinlich sogar in seinem Geist verwirrt ist, nicht dazu führen, dass wir uns umbringen. Nein, niemals und nein.“

Daniels Rede hatte großen Eindruck auf die Gemeinde gemacht. Nun schauten fast alle auf Tamrud. Er war zwar zurückhaltender als der Eiferer Selass, doch schon wegen seines höheren Alters sehr geachtet.

„Lukas hat richtig gesprochen“, sagte nun Tamrud mit erhaben klingender Stimme. „Er hat nicht aus sich selbst geredet, sondern die Worte wiederholt, die der ‚Alte vom Berge‘ an uns gerichtet hat. Der große Prophet hat mich gelehrt und zum Priester geweiht. Jeder fromme Mann in unserem Land kennt und verehrt ihn. Nie kann ich zulassen, dass seine Lehren nicht befolgt werden.“

Gerne wäre Daniel noch eine böse Bemerkung über Selass losgeworden, doch er verkniff sie sich aus Rücksicht auf Tamrud. Das war auch gut so. Selass ging zwar aus diesem Streit als Verlierer hervor, doch hatte er in der Gemeinde immer noch viele Anhänger. In deren Augen war es auch keine Schande, sich dem „Alten vom Berge“ unterordnen zu müssen. Schließlich hatte Selass, im Gegensatz zu Tamrud, nie das Glück gehabt, in dessen Schule aufgenommen zu werden. Wie immer die Gemeindemitglieder dachten, in Wirklichkeit waren sie aber auch froh, so gut aus der heiklen Angelegenheit entkommen zu sein. In den folgenden Tagen ging Daniel den beiden Priestern so weit wie möglich aus dem Weg. Auch sie hatten offenbar keinen Gesprächsbedarf. Stattdessen unterhielt er sich mit den Religionsschülern und ließ sich immer wieder beim Gebet beobachten.

Er kümmerte sich um die Reinigung der Mauern, was seine Aufgabe war. Das war ein Grund für ihn, häufiger in die Stadt zu gehen. Mit normalem Wasser konnten die Graffiti nicht abgewaschen werden. Er musste nach besonderen Lösungen suchen und ließ sich dabei beraten.

Während einer Pause setzte er sich auf eine Bank auf dem zentralen Marktplatz von Jana. Er dachte nach, wie es weitergehen sollte. Sich den deutschen Behörden zu stellen, kam für ihn nicht in Frage. In Betanien bleiben wollte er auch nicht. Einige Religionsschüler hatten ihm versichert, dass es bald zu einem Bürgerkrieg kommen würde. Die Religionsgemeinschaften und Stämme des Landes waren heillos zerstritten. Daniel fasste den Entschluss, zum Uhrmacher zu gehen und ihm einen Brief an Alexander zu übergeben. Der stand bei Lore im Wort. „Ich will raus hier, und zwar so schnell wie möglich“, würde am Ende des Briefes stehen.

Plötzlich fühlte er wieder einmal eine Hand auf seiner Schulter. Er schaute auf und sah in das freundliche Gesicht eines älteren Mannes. „Erschrecken Sie nicht“, sagte der. „Ich habe Sie schon länger beobachtet.“

„Darf ich fragen, was Sie von mir wollen?“, fragte Daniel misstrauisch. Auch der Zielfahnder hatte freundlich dreingeschaut. Der Mann setzte sich zu ihm auf die Bank. „Junger Freund, ich weiß nicht, woher Sie kommen. Doch ich sehe Ihnen an, dass Sie Arbeit suchen. Hier in unserem Land werden Sie nicht glücklich werden. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und es ist zu befürchten, dass schon bald ein Bürgerkrieg ausbricht. Auf der gegenüberliegenden Seite des Meeres liegt das Fürstentum Hegedon. Es ist klein, aber reich an Erdölvorkommen. Dort werden dringend Arbeitskräfte gesucht. Der Großvater des jetzigen Fürsten war ein leidenschaftlicher Kunstsammler und engagierter Künstlerfreund. In einem Anfall von Wohlwollen hat er angeordnet, dass alle Künstler seines Landes, ob Maler, Bildhauer, Schriftsteller oder Musiker, gleich welchen Alters, eine monatliche Rente erhalten sollen. Die Höhe dieser Rente bemisst sich am Gehalt eines Schuldirektors. Die fürstliche Anordnung ist in die Verfassung des Landes aufgenommen worden, und niemand traut sich, sie zu ändern. Eine starke Künstlergewerkschaft wacht darüber, dass sie genauestens eingehalten wird. Kaum, dass das Gesetz in Kraft getreten war, haben 80 Prozent der Bevölkerung behauptet, Künstler zu sein und die versprochene Rente für sich beantragt. Das hat die Möglichkeiten selbst dieses reichen Landes überstiegen. Deshalb wurde im Gesetz festgelegt, dass nur der als Künstler anerkannt wird, der etwas völlig Neues schafft. Es darf kein Plagiat, kein Gebrauchsgegenstand und nicht zu irgendetwas nützlich sein. Ein einziges Kunstwerk reicht. Wer einmal in die Künstlergewerkschaft aufgenommen wurde, behält seinen Status bis an sein Lebensende.“

„Wer bohrt dann noch nach Öl?“, fragte Daniel erstaunt.

„Das genau ist das Problem in Hegedon. Die Ingenieure bekommen so hohe Gehälter, dass sie nicht in Versuchung geraten, etwas Künstlerisches zu tun. Im Ausland werden ständig geeignete Arbeitskräfte angeworben. Sie werden sehr gut bezahlt, müssen sich aber, bevor sie ins Land dürfen, schriftlich verpflichten, sich jeder künstlerischen Betätigung zu enthalten.“

„Dazu will ich mich gerne verpflichten. Außer einem Liebesgedicht an eine 12-jährige Mitschülerin habe ich in meinem Leben nie ein Kunstwerk geschaffen. Gelernt habe ich den Kaufmannsberuf. Darin würde ich auch gerne wieder arbeiten.“ „Gesucht werden vor allem häusliche Bedienstete, Köche, Kellner, Kraftfahrer, Kinderbetreuer und Krankenpfleger. Die Gehälter lohnen sich, sie sind ungewöhnlich hoch.“ Der Mann legte erneut seine Hand auf Daniels Schulter und ging dazu über, ihn zu duzen. Er fragte Daniel nach dessen Namen und stellte sich selbst mit seinem Vornamen „Alwedo“ vor. „Ich will dir ehrlich sagen, was ich persönlich davon habe, wenn es mir gelingt, dich nach Hegedon zu vermitteln. Von der Provision können meine Familie und ich hier in Betanien ein ganzes Jahr lang leben.“

„Es gibt ein Problem“, erwiderte Daniel. „Ich bin aus Deutschland geflohen, weil dort nach mir gefahndet wird. Ich schwöre Stein und Bein, dass ich nichts ausgefressen habe, doch die Verdachtsmomente gegen mich waren erdrückend. Da habe ich die Nerven verloren und bin getürmt.“

„Mit etwas Ähnlichem habe ich gerechnet“, sagte der Mann, „darauf bin ich eingestellt. Überlass es mir, dich über die Grenze zu bringen.“

„Ich will kein Versteckspiel mehr treiben müssen, in dem ich mich nur immer mehr verheddere. In Hegedon will ich mit meinem richtigen Namen und meiner wahren Identität leben können. Nur ausgeliefert werden will ich nicht.“

„Mach dir darüber keine Sorgen, junger Mann. Das können sie sich dort gar nicht leisten.“

Sie verabredeten sich für den folgenden Morgen. Daniel ging zurück in seine Klosterzelle, um seine wenigen Sachen zu packen. Er fand einen geöffneten Brief vor, in dem ihn die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland aufforderte, zu einem von ihr festgelegten Termin vor ihrer Rechtsabteilung zu erscheinen. Daniel steckte den Brief in sein Jackett. Er überlegte, ob er für Tamrud einen Abschiedsbrief hinterlassen sollte. Doch kam er zum Ergebnis, dass es besser wäre, das bleiben zu lassen. Würde irgendetwas mit seiner Flucht schiefgehen, dann hätte er für sein Verschwinden keine Ausrede mehr gehabt. Die Erfahrungen der vergangenen Monate hatten Daniel sehr vorsichtig werden lassen. Schlafen konnte er nicht. Zu früher Stunde verließ er das Kloster und machte sich auf zum Treffpunkt, den er mit dem Berufsvermittler vereinbart hatte.

Die Irrfahrten des Herrn Müller II

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