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(2) Auferlegung von Loyalitätsobliegenheiten

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Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen beiden fundamentalen Urteilen zum kirchlichen Arbeitsrecht festgestellt, dass die Kirchen auf der Grundlage ihres Selbstbestimmungsrechts aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV und der korporativen Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ihren Arbeitnehmern die tragenden Grundsätze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre auferlegen und von diesen verlangen können, nicht gegen die fundamentalen Verpflichtungen zu verstoßen, die sich aus der Zugehörigkeit zur Kirche ergeben.508 Dogmatisch betrachtet wird die Norm des § 241 Abs. 2 BGB damit gewissermaßen durch die kirchliche Autonomie überlagert und modifiziert.509 Die Verschmelzung von Vertragsfreiheit und Selbstbestimmungsrecht gewährt den Kirchen damit einen Freiraum, der gewöhnlichen Arbeitgebern nicht zusteht, zur Erbringung des kirchlichen Diensts aber unabdingbar ist.

Wegen ebenjener privatrechtlichen Begründung der Arbeitsverhältnisse bedarf es dafür zunächst einer hinreichend bestimmten vertraglichen Regelung jener Obliegenheiten,510 die regelmäßig durch eine Bezugnahme auf das jeweilige kirchliche arbeitsrechtliche Regelungswerk erfolgt. Da der Arbeitnehmer nur auf dieser Grundlage an die Obliegenheiten gebunden werden kann, müssen ihm deren Inhalt und Reichweite sowie die Konsequenzen eines etwaigen Verstoßes gegen diese mit hinreichender Bestimmtheit erkennbar sein.511 Dass die Regelungen abstrakt gehalten sind,512 steht einer derartigen Erkennbarkeit insbesondere dann nicht entgegen, wenn das Anforderungsprofil eines Arbeitnehmers aufgrund seines Glaubens oder seiner Stellung ohnehin die Kenntnis der kirchlichen Lehre voraussetzt.513 Im Zweifel sollte der kirchliche Arbeitgeber aber die abstrakten Termini zum Verständnis des Arbeitnehmers im Rahmen der individualvertraglichen Vereinbarung konkretisieren.514

Eine richterliche Prüfung der Wirksamkeit von Loyalitätsobliegenheiten einschließlich der Frage, ob ein bestimmtes Verhalten eines Arbeitnehmers einen Verstoß gegen diese begründet, ist stark eingeschränkt.515 Denn auf der Grundlage ihres Selbstbestimmungsrechts ist es den Kirchen überlassen, „verbindlich zu bestimmen, was die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung erfordert, was spezifisch kirchliche Aufgaben sind, was Nähe zu ihnen bedeutet, welches die wesentlichen Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre sind und was als – gegebenenfalls schwerer – Verstoß gegen diese anzusehen ist“.516 Die staatlichen Gerichte müssen insoweit den kirchlichen Freiraum der Ordnung und Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten akzeptieren und dürfen sich kein eigenes Urteil über die angesprochenen Fragen anmaßen. Dies ist auch Folge des staatskirchenrechtlichen Neutralitätsgrundsatzes.

Staatlichen Institutionen fehlt ohnehin zur Beantwortung derartiger Fragen die theologische Kompetenz, sie haben kein ekklesiologisches Mandat.517 Sollte in Einzelfällen unklar sein, ob das Verhalten eines Arbeitnehmers einen Verstoß gegen die Glaubens- und Sittenlehre begründet, bedarf es bei einem etwaigen Rechtsstreit einer klärenden Anfrage des Gerichts bei der jeweiligen Amtskirche bzw. der zuständigen Kirchenbehörde.518 Da das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 WRV unmittelbar nur den verfassten Kirchen zusteht, bestimmt sich ausschließlich nach den von ihnen anerkannten Maßstäben der Inhalt und die Reichweite der Loyalitätsobliegenheiten.519 Die Auffassung einer einzelnen kirchlichen Einrichtung ist dabei irrelevant, da diese von der Kirchenautonomie nur derivativ Gebrauch machen kann.

Grundsätzlich dürfen sich die staatlichen Gerichte nicht über die kirchlichen Vorgaben hinwegsetzen und können allenfalls im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle überprüfen, ob die Anforderungen und Wertungen des kirchlichen Arbeitgebers dem kirchlichen Selbstverständnis entsprechen.520 Eine Angemessenheitskontrolle der vertraglichen Regelungen – etwa auf Grundlage von § 307 Abs. 1 BGB – findet nicht statt.

Eine Grenze kann ausschließlich durch den Art. 137 Abs. 3 WRV immanenten Vorbehalt des „für alle geltenden Gesetzes“ gezogen werden. Dieser wird vom Bundesverfassungsgericht im Kontext der Festlegung von Loyalitätsobliegenheiten durch eine Trias der Grundprinzipien der Rechtsordnung, namentlich dem allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG), sowie dem Begriff der guten Sitten (§ 138 Abs. 1 BGB) und des ordre public (Art. 6 EGBGB), präzisiert.521 Damit wird den Kirchen ein weiter Gestaltungsspielraum überlassen.

Dieser Vorbehalt gleicht demjenigen der Anwendung ausländischen Rechts im Internationalen Privatrecht;522 er legt als Kontrollmaßstab nur den Kernbestand des staatlichen Rechts zugrunde. Friktionen mit diesen Grundsätzen werden regelmäßig nicht auftreten, wenn von Arbeitnehmern die Einhaltung der christlichen Glaubens- und Sittenlehre verlangt wird, da diese nicht im Widerspruch zu den essentiellen Grundprinzipien des Verfassungsstaats stehen.523 Dass auf diese Weise strengere Anforderungen begründet werden, als vom weltlichen Arbeitsrecht vorgesehen, bedeutet freilich noch keinen Verstoß gegen die tragenden Grundprinzipien; entscheidend ist nur, dass keine wertordnungsfeindlichen Loyalitätsobliegenheiten konstituiert werden.

Durch die Festlegung jener Begrenzungen steht auch zugleich fest, dass eine Abwägung mit den Grundrechten der Arbeitnehmer auf der Prüfungsebene der Wirksamkeit einer Auferlegung von Verhaltenspflichten nicht vorzunehmen ist. Zwar ist das Meinungsbild im Schrifttum524 zu dieser Frage geteilt und überdies hatten zwischenzeitlich zwei Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts525 diesbezüglich Zweifel aufkommen lassen. In der Entscheidung des 2. Senats vom 22. Oktober 2014 wurden die bestehenden Grundsätze aus BVerfGE 70, 138 aber ausdrücklich bestätigt.526 Damit wird der dogmatischen Einordnung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts als institutioneller Garantie Rechnung getragen, die nicht als gewöhnliches grundrechtliches Freiheitsrecht zu verstehen ist und daher auch nicht per se im Wege der praktischen Konkordanz mit Arbeitnehmergrundrechten abzuwägen ist.527 Maßgeblich ist allein der besondere Schrankenvorbehalt des „für alle geltenden Gesetzes“, der im vorliegenden Zusammenhang durch das Bundesverfassungsgericht auf die Grundprinzipien der Rechtsordnung begrenzt wird.

Dementsprechend wäre das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen auch verletzt, wenn man ihnen oktroyierte, ob und in welcher Weise sie die von ihnen geforderten Loyalitätsobliegenheiten im Verhältnis zur Verkündigungsnähe ihrer Arbeitnehmer abstufen. Dennoch ist dies immer wieder in der Literatur gefordert worden.528 Auch das BAG hatte noch bis zum Jahr 1985 vertreten, dass bspw. Verstöße einer Schreibkraft oder eines Betriebshandwerkers gegen die kirchliche Lehre wegen der untergeordneten Funktion jener Mitarbeiter nicht die Glaubwürdigkeit der Kirche berührten und entsprechende Loyalitätsobliegenheiten auch unter Berücksichtigung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts unbeachtlich seien.529 Dieser Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht in seiner grundlegenden Entscheidung vom 4. Juni 1985 explizit widersprochen: Die Entscheidung darüber, ob und wie innerhalb der im kirchlichen Dienst tätigen Mitarbeiter eine „Abstufung“ der Loyalitätsobliegenheiten eingreifen soll, ist eine dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht unterliegende Angelegenheit.530

Staatlichen Gerichten ist es daher verwehrt, anhand der Position und Funktion eines kirchlichen Arbeitnehmers die Reichweite von dessen Loyalitätsobliegenheiten zu prüfen und deren Verbindlichkeit ggf. einzuschränken. Verstöße gegen tragende Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre können nicht deshalb für arbeitsrechtlich unbeachtlich erklärt werden, weil der Mitarbeiter nach Ansicht eines Gerichts keine „Nähe zu spezifisch kirchlichen Aufgaben“ hat. Darin läge eine unzulässige Ingerenz des säkularen Staates in Gestalt seiner Judikative gegenüber dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht.

Die erzwungene Abstufung von Verhaltensanforderungen würde die kirchliche Autonomie bei der Gestaltung von Arbeitsverhältnissen auf einen reinen Tendenzschutz verkürzen. Kirchen und ihre Einrichtungen sind aber keine Tendenzbetriebe.531 Ihre Tätigkeit lässt sich nicht wie bei politisch, wissenschaftlich oder künstlerisch motivierten Unternehmungen auf ein spezifisches geistig-ideelles Ziel eingrenzen.532 Sie sprechen den Menschen in seiner Gesamtheit an und legen ihrem gesamten Handeln die umfassende Lehre christlicher Weltanschauung zugrunde. Verfassungsrechtlich gesprochen: Anders als bspw. ein Pressebetrieb seine Freiheiten als Tendenzunternehmen nur im Rahmen des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 1 GG – und daher bei spezifisch journalistischen Funktionen – begründen kann, garantiert das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 WRV eine umfassende Freiheit vor staatlichen Eingriffen bei der Ordnung und Verwaltung des kirchlichen Dienstes. Die Art und Weise der Gewährleistung und Sicherstellung der religiösen Dimension ihres Wirkens ist allein den Kirchen überlassen, sofern die Grundprinzipien staatlicher Rechtsordnung dabei gewahrt bleiben. Sie allein können darüber entscheiden, ob und inwiefern eine Abstufung von Loyalitätsanforderungen mit der Integrität der Dienstgemeinschaft und der Glaubwürdigkeit kirchlichen Wirkens vereinbar ist.533 Sofern ein staatliches Gericht eine derartige Differenzierung anhand eigener Maßstäbe selbst vornähme begründete dies einen Verstoß gegen die im Kontext des staatskirchenrechtlichen Trennungsprinzips sowie des Neutralitätsgrundsatzes auszulegende Kirchenautonomie.

Aus den vorangehenden Feststellungen folgt grundsätzlich noch keine Klerikalisierung der Rechtsstellung des kirchlichen Arbeitnehmers.534 Allerdings leitet das Bundesverfassungsgericht aus den Grundprinzipien der Rechtsordnung auch ab, dass kirchliche Einrichtungen in Einzelfällen keine „unannehmbaren Anforderungen“ an die Loyalität ihrer Arbeitnehmer stellen dürfen.535 Demzufolge dürften kirchliche Arbeitsverhältnisse keine Ersatzform für kirchliche Ordensgemeinschaften und Gesellschaften des apostolischen Lebens sein.536 Wann die Beurteilung einer Loyalitätsanforderung als unannehmbar ausfallen muss, wird freilich nicht immer trennscharf bestimmt werden können. Als unzulässig dürfte jedenfalls zu erachten sein, wenn der theologische Dogmenkanon und die religiösen Ge- und Verbote arbeitsrechtlich möglichst umfassend und detailgetreu abgebildet würden.537

Dieser allgemeine Vorbehalt vermag jedoch nicht als Einfallstor für eine Aufweichung kirchlicher Selbstbestimmung bei der Auferlegung von Loyalitätsobliegenheiten zu dienen. Zwar mögen manche Teile einer sich säkularisierenden Gesellschaft bereits die wesentlichen Loyalitätsobliegenheiten als „unannehmbar“ empfinden, doch ist dies nicht der Maßstab zur Einschränkung der verfassungsrechtlich verbürgten Kirchenautonomie. Das deutsche Trennungssystem in seiner wohlwollenden Ausprägung akzeptiert und anerkennt die kirchliche Sitten- und Glaubenslehre. Die vertragliche Auferlegung der Befolgung ihrer wesentlichen Bestandteile kann daher aus der Perspektive der staatlichen Wertordnung niemals grundsätzlich als unannehmbar betrachtet werden, wenn der kirchliche Dienst vom christlichen Glauben geprägt ist.538 Ohnehin beschränkt das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit einer etwaigen Unannehmbarkeit auf Einzelfälle.

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