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1 Die verlassene Stadt

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1.

Es war kein Geräusch, das sie weckte. Nein, es war die vollkommene Stille, die immer tiefer in ihr Unterbewusstsein vorgedrungen war und Lisa aus dem Traumland entführte. Noch konnte ihr Bewusstsein diese Information nicht verarbeiten, denn die Klauen des Tiefschlafs versuchten sie an den Ort des Vergessens zurück zu holen. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Augen zu öffnen, und sie warf einen Blick auf den Wecker. Dort, wo normalerweise die Digitalanzeige in leuchtend blauen Ziffern die aktuelle Uhrzeit anzeigen sollte, herrschte absolute Dunkelheit. Lisa konnte sich selbst und einen Teil des Schlafzimmers in der spiegelnden Oberfläche des Glases erkennen. Seufzend bettete sie ihren Kopf im raschelnden Polster, lag eine Weile ganz ruhig, starrte an die Zimmerdecke und betrachtete das vertraute Muster der feinen Risse und Unebenheiten im Verputz. Sie lauschte, aber kein Laut drang an ihr Ohr. Nur ihr eigener Atem vermochte sie davon zu überzeugen, dass das Gehör noch einwandfrei funktionierte.

Als sie die Stille nicht mehr aushielt, schlug Lisa das Laken auf, schwang ihre Beine aus dem Bett und gähnte. Mit einer Hand ertastete sie das Kabel, das vom hinteren Teil des Weckers zur Steckdose führte. Sie zerrte daran und fand, dass alles seine Ordnung hatte. Lisa drückte zerstreut einige Knöpfe. Dann zog sie mit einer resignierenden Handbewegung den Stecker aus der Dose. Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass er seinen letzten Dienst erfüllt hatte, als er sie am Vortag pünktlich aus den Federn geholt hatte, damit sie ihren Schülern die Zeugnisse übergeben konnte. Sie würde sich wohl oder übel einen neuen besorgen müssen.

„Schade um den schönen Wecker“, murmelte sie kopfschüttelnd, während sie träge ins Badezimmer schlurfte, und musste plötzlich über sich selbst lachen. Früher hatte sie Leute belächelt, die Selbstgespräche führten, doch in letzter Zeit kam es immer öfter vor, dass sie ihre inneren Dialoge über die Stimme austrug. Die Ursache dieser Entwicklung führte sie darauf zurück, dass sie schon allzu lange allein lebte. Genau genommen tat sie dies, seit sie vor einigen Jahren nach Wien gezogen war, vom ländlichen Elternhaus direkt in die erste eigene Wohnung in dieser vor Hektik pulsierenden Großstadt.

Ihr Atem beschlug den Spiegel, und sie betätigte den Lichtschalter.

Klick. Normalerweise hätte sie dieses Geräusch nicht erschreckt. Normalerweise wäre auch das Licht angegangen.

Klick. Klick. Lisa spürte, wie sich im Halbdunkel ihre Nackenhaare aufstellten.

Klick. Klick. Klick. Mist!

Nichts geschah. Kein Licht, kein zuckendes Flackern mit dem die Neonröhre sonst ihre Arbeit aufnahm. Sie dachte, dass der Leuchtkörper ebenso kaputt gegangen war, und machte sich eine geistige Notiz, auch diesen bei Gelegenheit auszutauschen.

„Ist es nun an oder aus?“ Klick. Mist! „Geht denn heute alles schief?“

Nachdem der erste Schreck überwunden war, begab sie sich zurück ins Schlafzimmer und bedachte den Wecker mit einem missfälligen Blick. Sie ging weiter ins Wohnzimmer und überprüfte auch dort den Lichtschalter.

Klick. Nichts rührte sich. Gut, weiter in die Küche. Ich glaube, wir haben hier ein größeres Problem!

Dort wurde zur Gewissheit, was sie schon im Wohnzimmer vermutet hatte. Eine Pfütze vor dem Kühlschrank bestätigte ihren Verdacht. Der Strom musste irgendwann im Laufe der Nacht ausgefallen sein, und die erste Aufgabe in ihrem wohlverdienten Urlaub bestand darin, den Küchenfußboden aufzuwischen.

„Na prima! So ein verdammter Mist“, fluchte sie und schlug mit der flachen Hand auf die Arbeitsfläche, sodass das Besteck in der Schublade darunter schüchtern klirrte. Sie fischte mit einer ungeschickten Verbeugung ein Wischtuch unter der Spüle hervor und vernahm ein Knacken, das ihre Bandscheiben dabei erzeugten.

Wenn sie in die Knie gehen, dann ersparen sie ihrem Rücken eine Menge Ärger, Frau Wagner, äffte sie im Geiste ihren Orthopäden, Dr. Wittmann, einen schrulligen kleinen Kerl mit buschigen Augenbrauen, nach. Also tat sie Dr. Wittmann und ihrem Rücken den Gefallen und ging in die Hocke, als sie den Fußboden trockenzulegen begann.

Nachdem sie die unerfreuliche Reinigungsarbeit erledigt hatte, beschloss sie, den Sicherungskasten zu inspizieren. Sie ging in den Vorraum, öffnete die kleine Blechtüre und starrte mit zugekniffenen Augen ins Kästchen und sah, dass alle Hebel in der gewohnten Position standen. Sie drückte den Hauptschalter aus der Arretierung nach unten, doch auch er schien in Ordnung zu sein, also aktivierte sie ihn wieder. Sie hätte genauso unter die Motorhaube eines Wagens schauen können. Mit ähnlichem Erfolg. Was technische Dinge betraf, verfügte sie nicht gerade über erwähnenswerte Kenntnisse. Sie würde wohl oder übel zum Hausmeister hinuntergehen müssen, um ihn zu bitten, sich der Sache anzunehmen. Sie würde es nicht gerne tun, da er in ihren Augen ein Chauvinist erster Güte war. Lisa hörte ihn schon jetzt seine anzüglichen Bemerkungen machen, aber sie brauchte Strom und beschloss daher, in den sauren Apfel zu beißen und alle Demütigungen tapfer hinzunehmen.

Nachdem sie Blue Jeans und ein T-Shirt übergezogen hatte, wusch sie sich oberflächlich das Gesicht und bürstete ihr kinnlanges, blondes Haar durch. Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, ging sie zur Wohnungstür und trat auf den Flur hinaus. Dieser roch angenehm neutral. Zum allerersten Mal blickte sie auf die Armbanduhr und stellte erstaunt fest, dass es schon viertel vor zwölf war. Sie wusste nicht, was sie mehr beunruhigen sollte; Die Tatsache, dass es schon fast Mittag war, und sie den ganzen Vormittag verschlafen hatte, oder der Umstand, dass sie keinerlei Geräusche wie klapperndes Geschirr oder schreiende Kinder vernehmen konnte.

Wahrscheinlich ist der Strom im ganzen Haus ausgefallen und jetzt steht alles still. Das kommt davon, wenn man sich zu sehr auf die Elektrizität verlässt. Wenn der Saft einmal für längere Zeit abgestellt wird, bricht das ganze System zusammen, dachte sie.

Lisa hatte schon einige Katastrophenfilme im Nachtprogramm gesehen und sich gewundert, ob sich in Wirklichkeit ebenfalls eine Schar unerschrockener Helden finden würde, die allen Schwierigkeiten zum Trotz einen Weg aus dem Schlamassel findet und als Draufgabe ganz nebenbei den Rest der Menschheit rettet. Sie persönlich glaubte da schon eher an die Chaos-Theorie, jeder gegen jeden, und dass das Ende der Menschheit anders aussehen würde, als man sich das in Hollywood vorstellte.

Sie tastete sich an der Wand vorsichtig den Flur entlang, an den stillen Nachbarwohnungen vorbei. Der Gang lag im Inneren des Gebäudes und besaß keine Fenster. Die natürliche Beleuchtung bestand lediglich aus einer gläsernen Dachluke im Dachgeschoss, die in einem sechsstöckigen Haus, das ohne Strom war, natürlich zu wenig Licht spendete. Lisa lauschte in die Dunkelheit und versuchte möglichst flach zu atmen, was ihr durch das Stufensteigen relativ schwer fiel. Sie musste vier Stockwerke ins Parterre hinab überwinden, wobei es immer dunkler wurde, je weiter sie vorankam.

Eigenartig. Normalerweise sollte man viel sensibler auf Geräusche reagieren, wenn man sich im Dunkeln aufhält. Ich höre nichts, außer meinem Herzschlag und meinen eigenen Schritten.

Eine weitere Tatsache begann sich bei ihr bemerkbar zu machen. Man bekommt im Dunkeln leichter Angst. Lisa ärgerte sich über sich selbst, weil sie nicht daran gedacht hatte, eine Kerze oder Taschenlampe mitzunehmen, doch umdrehen wollte sie auf halbem Weg auch nicht. Als sie die Stufen vom ersten Stock ins Erdgeschoss hinabstieg, wurde es wieder ein wenig heller, da durch die Glaselemente im Eingangsbereich genügend Licht hereinfiel, um den Rest des Flurs bis zur Hausmeisterwohnung zu beleuchten. Sie hielt kurz an der Wohnungstür inne und betrachtete das Schild über dem Guckloch.

HAUSWART, stand in großen, weißen Buchstaben darauf, die in der Düsternis unheimlich fluoreszierten. Dennoch bewirkte dieser zarte Schimmer, dass sie sich ein wenig wohler fühlte, trotz des schwarzen Lochs, das sich hinter ihrem Rücken ausbreitete. Lisa atmete noch einmal durch, bevor sie klopfte.

Er soll nur ja nicht glauben, ich hätte Angst. Das macht solche Kotzbrocken wie ihn nur noch unverschämter, als sie ohnehin schon sind.

Sie klopfte. Zuerst noch leise und zaghaft, wartete, bevor sie nochmals mit den Fingerknöcheln auf das Holz schlug. Dieses Mal heftiger. Sie stand still und horchte. Dann hämmerte sie ihre Faust gegen die Tür. Nichts rührte sich. Mist!

2.

Robert Lang bewohnte ein Appartement direkt am Donaukanal. Es war eigentlich viel zu groß für einen Junggesellen, doch er hatte es vor vier Jahren günstig angeboten bekommen. Die Familie, die vorher darin gewohnt hatte, musste dringend umziehen und hatte keine Zeit zu verlieren gehabt. Daraus resultierte eine relativ niedrige Ablöse.

Er benutzte gar nicht alle Zimmer und hatte sogar schon an Untervermietung gedacht, doch er wollte keine Fremden in der Wohnung haben, und so hatte er die Idee wieder verworfen. Der Vorteil einer großen Wohnung liegt darin, dass man sich ungebremst ausbreiten kann, ohne das Risiko eingehen zu müssen, ständig über irgendwelche Dinge zu stolpern. Lediglich sein Arbeitszimmer hatte sich seit dem Einzug in ein heilloses Durcheinander von Aktenordnern, Schnellheftern, Papierstapeln, Computerzubehör und vielen anderen Utensilien, die er für die Arbeit als Journalist benötigte, entwickelt.

Robert kam eben aus jenem Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich. Kein Strom in der ganzen Wohnung. Schweinerei!

Er warf einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster zu den gegenüberliegenden Häusern. Obwohl diese gut zweihundert Meter entfernt waren, konnte er normalerweise in der Morgendämmerung den schwachen Schein der Lichter in den Wohnungen deutlich erkennen. Doch heute waren die Fenster dunkel. Er kam zu dem Schluss, dass der Strom in größerem Umfeld ausgefallen sein musste.

Bevor er sein Appartement verließ, kontrollierte er den Sicherungskasten neben der Wohnungstür, konnte jedoch wie erwartet keinen Defekt feststellen. Also trat er auf den Flur hinaus und verharrte einen Augenblick, bis sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnten. Er verstaute den Wohnungsschlüssel in einer kleinen Tasche seiner Fitnesshose und schlurfte vorsichtig auf den Stiegenabgang zu, wobei die Sohlen seiner Laufschuhe leise quietschten. Geistesabwesend drückte er den Lichtknopf, doch im Stiegenhaus blieb es dunkel, und so tastete er sich weiter vorwärts bis ins Erdgeschoss.

Das Eingangstor knarrte beim Öffnen, wie sie es jeden Tag tat, nur dieses Mal kam ihm das Geräusch lauter vor als sonst. Er trat ins Freie und blickte auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach sechs. Am Straßenrand angekommen, schaute er automatisch nach links. Als er keinen Wagen auf der Einbahnstraße heranbrausen sah, setzte er sich in Bewegung.

Robert war begeisterter Jogger, und als solcher pflegte er jeden Morgen und bei jedem Wetter vor dem Frühstück in der Prater Hauptallee zu laufen. Während er im lockeren Laufschritt die Fahrbahn überquerte, die dem Verlauf des Donaukanals folgte, kam ihm die Luft besonders schwül vor. Jedenfalls für diese Uhrzeit. Er lief zur Rotundenbrücke, über den Donaukanal zur anderen Seite in den zweiten Bezirk hinüber, von wo es nur noch ein Katzensprung zur Allee war.

An einer Ampel, die ebenfalls ausgefallen war, hielt er nach sich nähernden Fahrzeugen Ausschau und setzte auf die andere Seite der Fahrbahn über. Er rannte weiter in Richtung Prater, in der sicheren Gewissheit, dass die Luft im Schatten der Kastanien kühler sein würde. Die nächste Stunde würde er nun nicht mehr anhalten müssen, somit konnte er sich auf seinen Rhythmus konzentrieren und das Joggen ungestört genießen.

3.

Lisa gab die Hoffnung auf, den Hausbesorger daheim anzutreffen. Er hatte auf ihr Klopfen nicht reagiert. Sie stieg die Treppen zum Keller hinunter und öffnete die schwere Eisentür, deren rostige Scharniere mit lautem Quietschen protestierten. Es erinnerte sie an das Knarren von Türen in Gruselfilmen.

„Herr Schwarz? ... Hallo! ... Sind sie da?“, rief sie mit zitternder Stimme ins Dunkel hinein.

Als Antwort kam ein Schwall muffiger Luft zurück.

„Herr Schwarz“, probierte sie es nochmals und machte einen Schritt vorwärts. Lisa lugte um die Ecke in den ersten Quergang und lauschte mit angehaltenem Atem in die Stille. Kein Laut. Sie drehte sich um und hastete die Treppen zum Erdgeschoss empor. Dieser Keller hatte wie immer etwas Bedrohliches an sich, doch heute spürte sie diese Bedrohung intensiver als sonst. Lisa konnte nicht sagen, woran das lag. Es war einfach nur dieses Gefühl, dass irgendetwas Eigenartiges vor sich ging. Beim Fahrradabstellraum, gleich neben dem Fahrstuhl, blieb sie stehen. Sie warf einen Blick hinein. Einige kleine Reflektoren - Katzenaugen - blitzten auf. Sie erschrak und fühlte plötzlich, wie ihr Magen eine Etage tiefer rutschte.

Beruhige dich! Es sind nur Fahrräder!

Trotzdem blieb das Gefühl, beobachtet zu werden, und so schlug sie die Tür mit einem lauten Krachen zu. Die kahlen Wände im leeren Stiegenhaus warfen das Poltern einige Male zurück, dann war es wieder ruhig.

Zu ruhig.

Lisa inspizierte den Müllraum. Aber er war dunkel und leer. Sie sah zur Klinke der Waschraumtür hinüber.

Vergiss es! Er ist nicht da. Niemand ist da!

Zu ruhig … dieser Gedanke ließ sie nicht mehr los.

Es war so leise im Haus, dass sie sich fragte, ob es wirklich nur am Stromausfall liegen konnte. Sie machte auf dem Absatz kehrt und huschte zum Stiegenaufgang zurück. Dort blieb sie stehen und sah die Treppe hoch. Diese führte in einen dunklen Schlauch hinein, dessen Ende man nicht sehen konnte, als ob der erste Stock und alles, was noch dahinter kam, hinter einem dunklen Vorhang verborgen liegen würde.

Sie stand etwa zehn Minuten unentschlossen am Fuß der Treppe und betrachtete wie versteinert den Eingang zu dem schwarzen Loch, das den einzigen Weg zurück in ihre eigenen vier Wände bildete. Die vertraute Umgebung würde ihr die relative Sicherheit geben, die sie im Moment mehr herbeisehnte als alles andere. Lisa hoffte, dass ein Nachbar vorbeikäme, der sie begleiten konnte. Bei einem Wohnhaus, in dem etwa vierzig Parteien wohnten, musste doch früher oder später jemand ein- oder ausgehen.

Was, wenn ich jetzt den halben Tag hier verbringe und darauf warte, dass jemand kommt? Bei meinem Glück lässt sich just heute keiner mehr vor dem Abend blicken. Warum habe ich nicht daran gedacht, eine Kerze mitzunehmen? Das ist doch zu blöd! ... Nein es ist einfach lächerlich, hier zu stehen und zu warten. Was soll schon geschehen? Entweder ich stehe hier bis zum jüngsten Tag, oder ich reiße mich zusammen und bin gleich wieder zuhause.

Lisa nahm all ihren Mut zusammen und hastete Stufe für Stufe empor, wobei sie mit der rechten Hand das Geländer fest umklammerte und die Linke wie eine Blinde von sich streckte. An ihrer Wohnungstür angelangt, blickte sie ein letztes Mal über die Schulter zurück, während sie mit zittrigen Händen den Schlüssel ins Schloss steckte. Sie stieß die Tür auf und verschwand in ihrer Wohnung. Ihr war nicht ganz klar, warum sie derart verunsichert auf die Stille im Haus reagierte.

Zu ruhig. Da war es wieder, dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es ist nur ein ganz normaler Stromausfall, verdrängte sie den beunruhigenden Gedanken.

Lisa ging in die Küche und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Die Luft in dem kleinen Raum war ziemlich stickig, denn die Sonne hatte den ganzen Vormittag zum Fenster hereingescheint. Sie öffnete es, und eine Brise feuchtheißer Sommerluft schlug ihr ins Gesicht.

Na fein. Draußen ist es auch nicht kühler!

Plötzlich verspürte sie das Verlangen nach einem starken Kaffee.

Wenigstens Wasser und Gas stehen mir zur Verfügung.

Sie stellte einen kleinen Rein mit Griff auf den Herd und erwärmte das Wasser über den zischenden Flammen. Dann beobachtete sie, wie kleine Luftbläschen an die Oberfläche stiegen, drehte den Herd ab und goss das heiße Wasser in den vorbereiteten Filteraufsatz. Rasch verbreitete sich der Kaffeduft in der kleinen Küche. Sie nahm die Tasse mit dem dampfenden Inhalt und sah aus dem Fenster.

Im Innenhof, den man von dort aus überblicken konnte, wuchsen vier gewaltige Kastanienbäume. An anderen Tagen tummelten sich dort Scharen von Amseln und Spatzen in den Zweigen, und Kinder spielten kreischend in deren Schatten. Doch heute wirkte der Hof so trostlos und leer wie das Haus. Lisa hing ihren Gedanken nach, sodass sie diesem Umstand kaum Beachtung schenkte. Sie nippte an ihrer Tasse und dachte, dass sie nicht in der Garage nachgesehen hatte, ob sich der Hausmeister vielleicht dort aufhielt. Manchmal bestreute er Ölspuren und Benzinlacken mit Sägemehl oder wechselte ein schadhaftes Lämpchen aus.

Nicht sehr sinnvoll, bei einem Stromausfall Lämpchen auszuwechseln! Auf so eine Idee kommst auch nur du, dachte sie und musste über sich selbst schmunzeln.

Lisa begann, ihre nächsten Schritte zu planen, während sie am Fenster stand und Kaffee schlürfte. Sie wollte eine Dusche nehmen, danach eine Kleinigkeit essen und später einen Spaziergang im Park unternehmen. Wenn sie am Nachmittag zurückkäme, wäre das Problem mit dem Stromausfall höchstwahrscheinlich erledigt. Sie spürte neue Zuversicht durch ihren Körper strömen und fühlte sich deutlich besser. Die Kaffeetasse verschwand im Geschirrspüler und Lisa im Badezimmer, wo sie sich frischmachen wollte - für ihren ersten Ferientag, der zwar etwas unglücklich begonnen hatte, doch sie nahm sich vor, das Beste aus der Situation zu machen.

Sie streifte ihre Kleidung ab und stieg in die Duschkabine. Anfangs war das Wasser noch angenehm warm...

4.

Robert hatte sich geirrt, was den Schatten der Allee betraf. Heute schien dieser bedeutungslos zu sein, denn es war selbst für einen Sommermorgen ungewöhnlich heiß und schwül. Der Schweiß rann ihm in Sturzbächen an Gesicht, Armen und Rücken herab. Er blickte auf seine Armbanduhr.

Viertel vor Sieben!

Er war fix und fertig, konnte sich nicht erinnern, dass die Luft schon einmal so drückend gewesen wäre. Zwar hatten sämtliche Wetterfrösche für diesen Nachmittag heftige Sommergewitter vorhergesagt, doch mit diesen Verhältnissen war nicht zu rechnen gewesen. Er wollte eigentlich noch einige Recherchen für einen Artikel, an dem er gerade arbeitete, durchführen, doch nun befürchtete er, dass seine Pläne, den Nachmittag betreffend, im wahrsten Sinn des Wortes ins Wasser fallen würden.

Er beschloss, das Training zu beenden und nach Hause zurückzukehren. Im lockeren Laufschritt bog er von der Allee ab und begann sich das erste Mal, seit er von daheim aufgebrochen war, bewusst mit der näheren Umgebung zu befassen. Es war ihm keineswegs entgangen, dass er noch keinem Menschen begegnet war, hatte diesen Umstand jedoch auf das Wochenende, die frühe Stunde, das schwüle Wetter und den ersten Ferientag zurückgeführt. Wenngleich normalerweise am ersten Ferientag eine große Stampede Richtung Süden aufbrach. Jedenfalls in den Jahren zuvor war das der Fall gewesen.

Ich kann nichts hören. Vielleicht ein Druck in den Ohren?

Als er die Donau-Lände erreichte, um den Kanal an diesem Morgen zum zweiten Mal zu überqueren, hielt er an. Die an anderen Tagen stark frequentierte Straße war noch immer leergefegt. Er sah nochmals auf seine Uhr, um sicher zu gehen.

Das gibt es doch nicht!

Es begann ihn leicht zu frösteln.

Was zum Henker ist hier eigentlich los?

Er begriff, dass irgendetwas geschehen sein musste, dass noch nicht bis zu seinem Verstand vorgedrungen war. Er stolperte einige Schritte weiter bis zur Mitte der Fahrbahn, wo er abermals stoppte. So stand er mit halb geöffnetem Mund da und starrte die Straße hinunter, als würden dort zigtausend nackte Frauen für mehr Gleichberechtigung demonstrieren.

Was ist...

Er vollzog eine halbkreisförmige Drehung, wobei er mit weit aufgerissenen Augen versuchte irgendeinen Menschen oder eine Bewegung, irgendwelche Anzeichen von Aktivitäten innerhalb seiner Reichweite zu erkennen. Seine Lähmung begann sich langsam wieder zu lösen, und seine Gedanken meldeten sich in Zeitlupentempo von dort zurück, wohin auch immer sie in der letzten Minute verschwunden waren. Ein leichtes Schwindelgefühl überkam ihn. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, hatte er sich wieder halbwegs im Griff.

Okay! Ich kann niemanden auf der Straße sehen. Dafür muss es eine logische Erklärung geben. Meine Uhr funktioniert nicht richtig - allerdings steht die Sonne dort, wo sie sein soll, also können wir die Möglichkeit, dass es viel zeitiger ist, als ich dachte, nicht in Betracht ziehen. ... Die Straße kann auch nicht wegen eines Unfalls gesperrt worden sein, denn das hätte keinerlei Einfluss auf den Verkehr am anderen Ufer. Drüben ist aber auch keiner unterwegs!

Sein Blick wanderte auf die andere Seite des Kanals hinüber.

Nichts. Kein Auto. Keine Leute. Irgendetwas ist geschehen, sodass keiner auf der Straße unterwegs ... Oh mein Gott!

Er begann wieder zu laufen. Richtung zuhause. Über die Brücke.

Wie konnte ich nur so dämlich sein! Ein Atomunfall, ein Supergau, sie haben es sicherlich im Radio durchgesagt! Niemand soll seine Wohnung verlassen, … und ich Idiot bin hier herumgelaufen und habe mich der Strahlung ausgesetzt! Ich muss schleunigst weg von hier, nach Hause!

In seinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Ein heiseres Krächzen entfuhr seiner Kehle, als er an der nächsten Kreuzung anhielt, um neuerlich nach Fahrzeugen Ausschau zu halten.

Idiot! Weiter! Schnell!

Er setzte sich wieder in Bewegung, während sein Gehirn Bilder von Strahlenopfern der letzten großen Atomkatastrophe in Tschernobyl reproduzierte. Er stieß das Haustor auf und rannte die Treppen hinauf, immer zwei auf einmal nehmend. Seine Gedanken rasten nun Wirbelstürmen gleich durch seinen Kopf. Zusammenhängendes Denken schien nun unmöglich geworden zu sein. An der Wohnungstür angekommen, bemerkte er einen weißen Fleck von der Kalkfarbe des Flurs am rechten Arm, den er sich zudem leicht aufgeschürft hatte, ohne es zu bemerken. Ein irres Kichern entfuhr seiner Kehle, als er in seine Wohnung stürzte und über die Auswirkungen eines Unfalls in einem Atomreaktor nachdachte. Wie verschwindend gering das Problem eines weißen Flecks sich im Vergleich dazu ausmachte.

Mit dem Zuschlagen der Tür und dem damit verbundenen Gefühl der relativen Sicherheit, gewann die Vernunft wieder Oberhand über sein Denken.

Der Stromausfall!

Er probierte den Lichtschalter. Klick. Nichts geschah.

Wenn der Stromausfall irgendwie damit zusammenhängt, wie komme ich dann zu Informationen?

Langsam kam sein journalistisches Denken auf Touren. Er stürzte zum Telefon und nahm den Hörer von der Gabel, lauschte. Tot. Die Leitung gab keinen Mucks von sich.

Was in Herrgottsnahmen mach’ ich jetzt?

Robert knallte den Hörer auf die Gabel zurück. Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten und langsam durch die Augenbrauen gesickert waren, rannen ihm in die Augen. Diese begannen zu brennen, deshalb stolperte er augenreibend ins Badezimmer.

Ich werde erst einmal duschen, bevor ich etwas unternehme. Ich schwitze wie ein Schwein. Außerdem muss ich den Staub loswerden, er könnte kontaminiert sein!

Er entledigte sich rasch seiner Sachen und stieg in die Brausetasse.

Hoffentlich ist es noch nicht zu spät!

Es wurde ein kurzes Duschvergnügen, denn dank des fehlenden Stromes war das Wasser eiskalt.

5.

Es war kurz vor dreizehn Uhr, als Lisa das Haus verließ, in der Absicht eine Zeitung zu kaufen, den Park des Belvedere-Schlosses aufzusuchen, um es sich auf einer der Bänke gemütlich zu machen und die Sonnenstrahlen zu genießen, während sie darauf warten würde, dass der Strom - Nervensystem der modernen Gesellschaft - wieder seinen Weg in ihren Haushalt finden würde. Doch der Tag sollte abermals einen anderen Verlauf nehmen als geplant.

Die Luft hatte sich mit Feuchtigkeit vollgesogen und die Hitze weiter zugenommen, doch der Himmel zeigte sich noch immer strahlend blau. Als sie das Haustor hinter sich zuzog, traf sie diese feuchtheiße Luft wie eine Ohrfeige. Das Gefühl hatte sie schon einmal erlebt, als sie eine Urlaubsreise mit ihren Eltern nach Sri Lanka unternommen hatte. Sie war damals sechzehn Jahre alt und das erste Mal in den Tropen gewesen. Daher würde sie den Augenblick, in dem sie vom Flugzeug heraus auf die Gangway trat, niemals vergessen. Damals hatte sie das tropische Klima mit derselben Wucht getroffen wie die Luft gerade eben. Blinzelnd verharrte sie in der Eingangsnische und kramte in der Handtasche nach der Sonnenbrille. Sie setzte die Brille auf ihre Nase und marschierte los. Eine Windbö wehte ihr Haar in alle Richtungen. Irgendwo weiter vorne in der Gasse schepperte etwas blechern, ansonsten war es auch auf der Straße ungewöhnlich ruhig.

Zu ruhig. Da war es wieder!

Die Trafik, zu der sie wollte, befand sich nur einen Häuserblock weiter. Dennoch musste sie sich beeilen, wenn sie eine Zeitung haben wollte. Obwohl der Trafikant es normalerweise mit den Ladenschlusszeiten nicht so genau nahm, war es möglich, dass er heute ausnahmsweise einmal pünktlich zusperrte. Bekanntlich kommt ein Unglück selten allein, und heute war alles andere als Lisas Glückstag. Sie erreichte die kurze Steintreppe, die zur Geschäftstüre hinaufführte. Lisa stieg sie hoch und rüttelte am Knauf, doch die Tür ließ sich nicht öffnen, sie war abgeschlossen. Lisa seufzte und warf einen Blick ins Innere, das ihr ebenso dunkel erschien, wie das leere Anzeigefeld ihres Weckers heute Morgen.

Wenn ich eine Zeitung will, werde ich wohl oder übel einen Umweg über den Südbahnhof machen müssen.

Auf dem Weg zum Bahnhof musste sie den Elisabethplatz zwischen der roten Ziegelsteinkirche, deren Glockenturm hoch in den Himmel stach, und der Volksschule, an der sie unterrichtete, überqueren. Die Zeiger der Kirchturmuhr standen auf halb drei Uhr, doch Lisa nahm keinerlei Notiz davon.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie ein Gewühl aus Kindern, Eltern und Schulpersonal aus allen Richtungen kommend über den Vorplatz dem Schultor entgegenströmen. Eine pulsierende Masse, die sie an einen Ameisenhaufen erinnerte. Das Durcheinanderlaufen, Kreischen, Rufen, Lachen und Hopsen, wenn die Kinder einander begrüßten, Neuigkeiten austauschten oder einander neckten, konnte eine unsichtbare Energie erzeugen, die ihr Herz mit Wärme erfüllte, wann immer sie zur Arbeit ging.

Doch nun lag der Platz zwischen Kirche und Schule einsam und verlassen da und brütete unter der Junisonne dahin, als würde er sehnsüchtig darauf warten, dass die Ferien, die eben erst begonnen hatten, endlich wieder zu Ende gehen würden. Die Rutsche und die Schaukeltiere aus Holz, die mit daumendicken Stahlfedern auf dem Boden befestigt waren, standen nun unbenützt in der Gegend herum und erholten sich von den Strapazen, die sie während der Schulzeit erdulden mussten.

Eine weitere Windbö fuhr raschelnd durch die Bäume und zerrte an Lisas Haar und Gewand und trieb einen Fetzen Papier über den gepflasterten Boden. Als sie den Platz hinter sich gelassen hatte, bog sie in die Straße ein, die zum Bahnhof hin leicht anstieg, und folgte deren Verlauf. Drei Häuserblocks weiter erreichte sie die Gürtelstraße, welche die Innenbezirke von den Außenbezirken trennte. An der Ampel angekommen, hielt sie kurz inne, um nach Fahrzeugen zu sehen, da diese nicht in Betrieb war.

Der Strom ist in größerem Ausmaß ausgefallen, als ich vermutet habe!

Verwundert stellte sie außerdem fest, dass weit und breit kein einziges Auto zu sehen war, ganz im Gegenteil zum gewohnten Verkehrsaufkommen, das den Gürtel normalerweise beherrschte. Das stets präsente Gefühl, dass etwas nicht stimmte, drängte sich nun mit aller Macht in den Vordergrund. Lisa überquerte ungehindert die breite Fahrbahn und stolperte panisch an dem neu errichteten Parkhaus vorbei. Sie betrat die dunkle und verhältnismäßig kühle Halle des Südbahnhofs. Der Kontrast zur gleißenden Helligkeit und Hitze außerhalb der Halle riss Lisa aus ihren wirren Gedanken. Sie sah sich um, konnte jedoch im ersten Augenblick nichts erkennen. Es war viel zu dunkel in der Halle.

Die Brille!

Sie nahm die Sonnenbrille von der Nase. Lisa starrte nun in das Halbdunkel, das sich vor ihr ausbreitete. Stille. Nichts rührte sich. Sie konnte nicht die kleinste Bewegung wahrnehmen. Ihre Augen begannen sich zwar an die spärlichen Lichtverhältnisse zu gewöhnen, doch sie konnte nirgendwo eine Menschenseele entdecken. Sie war auch außerstande, irgendwelche von Menschen verursachte Geräusche wahrzunehmen.

Eine Windbö streifte um das Gebäude und brachte die getönten Scheiben der Glasfront zum Knistern. Es war das einzige Geräusch, danach herrschte wieder Stille.

Der Stromausfall! Deshalb ist es hier so dunkel, hämmerte es in ihrem Kopf. Aber das erklärt nicht diese Stille! Und wo sind all die Menschen? Hier wimmelt es normalerweise vor lauter Menschen!

Ihr verängstigtes Herz begann nun laut zu schlagen, und der Brustkorb schien plötzlich viel zu eng dafür zu sein. Verschiedenste Erinnerungen wirbelten plötzlich durch ihren Kopf. Dinge, die sie zuvor nur unbewusst wahrgenommen hatte. Kleinigkeiten, Nebensächlichkeiten, die jetzt plötzlich lauter große Fragezeichen hinterließen.

Zuhause habe ich niemanden angetroffen, weder den Hausmeister noch einen Nachbarn. Keine Geräusche im ganzen Haus. Herr Binder, der Trafikant, war nicht da. Am Kirchplatz ... kein Mensch. Auf der Straße? ... Bin ich da jemandem begegnet? ... Ich denke nicht. Keine fahrenden Autos, nicht einmal am Gürtel, ... und hier ...

Sie ließ den Blick abermals umherschweifen, sah in jeden Winkel der Halle, doch der Bahnhof, der sonst so belebt war, wie eines der großen Einkaufszentren am Stadtrand, blieb leer. Am Kiosk, im Schnellrestaurant, beim Bäcker, am Proviantladen, vor dem Wettbüro und auch an den Ticketschaltern waren weder Menschen noch sonst irgendwelche Lebenszeichen auszumachen. Die Szene erinnerte sie eher an einen Provinzbahnhof zur Mittagszeit, wenn der Bahnhofsvorsteher Mittagspause hält, weil er in der nächsten Stunde keinen Zug erwartete.

Aber das ist der Südbahnhof! Irgendwo muss doch jemand sein!

Lisa durchquerte die Halle ein wenig schneller, als sie sonst zu gehen pflegte. Immerhin war sie nun ziemlich aufgeregt. Und sehr beunruhigt. Sie trug zwar Halbschuhe mit Gummisohlen, war sich aber sicher, dass sie ein leichtes Echo ihrer Schritte hören konnte, so ruhig war es in der Halle. Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen in jede dunkle Nische, während sie zum automatischen Förderband schritt, das natürlich im Moment außer Betrieb war und daher still stand. Über dieses, das hinauf zur zweiten Ebene führte, würde sie auch zu den Bahnsteigen gelangen. Mit jedem Schritt, den sie darauf zurücklegte, entfernte sie sich vom Hallenboden. Auf der Galerie angekommen, starrte sie in die unter ihr liegende Halle.

Von oben wirkte die leere Bahnhofshalle noch unrealistischer, als von unten betrachtet, was den Eindruck des Unwirklichen an dieser ganzen Situation noch verstärkte. Sie wandte sich zuerst den Bahnsteigen zu, von denen hauptsächlich die Schnellbahnen und Regionalzüge abfuhren, doch als sie dort angekommen war, musste sie mit wachsendem Entsetzen feststellen, dass sich nur ein einziger Mensch dort aufhielt. Nämlich sie selbst.

Der Kontrollraum hinter der Glasscheibe, wo normalerweise eine Vielzahl von Bildschirmen flackerte, war dunkel und leer. Die Bahnsteige waren verlassen, niemand zu sehen.

Das gibt es doch nicht! Wenn hier keiner ist, wo dann? Vielleicht bei den anderen Bahnsteigen? Das ist die letzte Möglichkeit, die mir einfällt.

Irgendwoher erklang ein Scheppern und ein feines Klirren folgte. Lisa erschrak, und Sekundenbruchteile später fegte eine heftige Windbö über die leeren Bahnsteige. Sie blickte zwischen den Bahnsteigüberdachungen hindurch in den Himmel. Die Sonne war hinter grauen Wolken verschwunden, die sich rasch genähert haben mussten, während sie sich innerhalb des Bahnhofsgebäudes aufgehalten hatte.

Lisa drehte um und eilte den Weg zurück, den sie gekommen war. Es gab zwar noch einen zweiten Stiegenaufgang zu den anderen Bahnsteigen, doch sie wollte noch einen Blick in die Halle werfen. Sie weigerte sich beharrlich, die Tatsachen zu akzeptieren. Aber auch der zweite Blick in die leere Halle hinunter brachte keine neuen Erkenntnisse.

Was hast du erwartet?

Den Tränen nahe, lief sie das Förderband zur dritten Ebene hinauf, in die kleine Vorhalle, die in die restlichen Bahnsteige mündete. Mit dem ersten Rundblick erkannte sie, dass dieser Teil des Bahnhofes genauso unbelebt war wie der Rest.

Mein Gott, was mach’ ich jetzt? Warum muss so etwas ausgerechnet mir passieren?

Sie spürte, wie sich ihr Magen langsam umdrehte, während sie zur Glaswand wankte, von der aus man auf das Parkhaus und einen Teil der Stadt hinabsehen konnte. Sie versuchte verzweifelt wenigstens außerhalb des Gebäudes Menschen auszumachen, jedoch vergebens. Sie konnte die dicht gedrängten Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkennen, einige leere Taxis, die vor dem Seiteneingang der Halle geparkt standen, die Straßenbahnstation, aber keine Menschen. Der Wind trieb lediglich einige Blätter, Papierfetzen und anderen Unrat vor sich her.

Ihr Herz schlug nun so heftig, dass ihre Halsschlagader zu schmerzen begann.

Ich bin allein! Dieser Gedanke ließ sie erschauern.

Sie war nun schweißgebadet, und ihre Bluse klebte an ihr wie eine zweite Haut. Sie erspähte ihr eigenes bleiches Gesicht mit den dünnen blutleeren Lippen, das für einen kurzen Augenblick von der Panoramascheibe reflektiert wurde. Verwirrt wandte sie sich von der Glaswand ab und schlurfte auf den Bahnsteig hinaus, der am nächsten lag, denn sie hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. An den Wangeninnenseiten schmeckte sie den säuerlichen Geschmack, der sich bildet, kurz bevor man sich übergeben muss. Doch soweit kam es nicht.

Mama! Ihr letzter Gedanke galt ihrer Mutter, bevor sich die Welt um sie herum zu drehen begann. Sie fühlte nichts mehr. Sie wollte auch nichts mehr fühlen. Sie wollte endlich aus diesem Albtraum erwachen, um festzustellen, dass sie nur geträumt hatte. Sie nahm ein konstantes Rauschen wahr, das ihren ganzen Kopf zu erfüllen schien. Die ganze Welt bestand nur noch aus diesem brausenden Geräusch, dann sah sie den Fußboden in Zeitlupentempo auf sich zukommen. Das Rauschen verebbte, der Körper, über den sie keine Kontrolle mehr hatte, schien schwerelos zu sein. Den Aufprall bekam sie nicht mehr mit. Vollkommene Schwärze hüllte sie ein und entführte sie in eine tiefe Ohnmacht.

6.

Robert rieb seine müden Augen und stellte den Feldstecher auf dem Fensterbrett ab. Er suchte nun schon seit geraumer Zeit die Straße und die gegenüberliegenden Fensterreihen systematisch nach Lebenszeichen ab, hatte jedoch nichts weiter feststellen können, als dass sich nördlich der Stadt über dem Kahlenberg Gewitterwolken zusammenbrauten.

Eigenartig, dass nirgendwo jemand am Fenster steht, so wie ich. Die anderen Leute müssten doch auch neugierig sein und herausschauen, wenn, ... wenn was?

Ein Gedanke, eine Idee, was es mit all dem auf sich haben könnte, versuchte an die Oberfläche seines Denkens zu gelangen, schaffte es aber nicht, scheiterte an der Unvorstellbarkeit dieser Situation. Seit er daheim angekommen war, zermarterte er sich sein Gehirn auf der Suche nach einer logischen Erklärung, was geschehen sein könnte. Er hatte ebenso erfolglos versucht mit den Nachbarn Kontakt aufzunehmen, war von Tür zu Tür gegangen, hatte geklopft, gerufen, gewartet. Doch das Haus, in dem auch einige Büros und eine Zahnarztpraxis untergebracht waren, erwies sich als genauso leer wie die Straßen vor dem Haus.

Er hatte sein altes Kofferradio, das vor zwei Jahren einer neuen Stereo-Anlage weichen musste, aus einem Karton im Bettzeugraum hervorgekramt, mit Batterien ausgestattet und war auf Sendersuche gegangen. Vergebliche Mühe, wie sich herausstellte. Außer einem konstanten Rauschen konnte es nichts empfangen.

Gähnend ging er ins Badezimmer und benetzte sein Gesicht mit kaltem Wasser. Das war momentan die einzige Möglichkeit frisch zu bleiben, da die Espressomaschine und der Elektroherd nicht einsatzfähig waren. Er betrachtete sein Gesicht im Spiegel und fuhr mit der Hand über die kurzen Bartstoppeln.

Ich werde wohl oder übel das Risiko eingehen müssen, hinaus zu gehen, wenn ich etwas in Erfahrung bringen will.

Die Theorie eines radioaktiven Störfalles in einem Kernkraftwerk eines der benachbarten Staaten verwarf er nun endgültig. Somit bestand, nach eigenem Ermessen, die mögliche Chance für ihn ohne größere Gefahr ins Freie hinaus zu gehen, wenngleich er sich noch immer keinen Reim darauf machen konnte, warum sich keine Leute auf der Straße aufhielten. Er hatte keinen Karnevalsumzug erwartet, doch wenigstens den einen oder anderen Fußgänger, der den Kanal entlang schlenderte, oder vereinzelte Autofahrer, die unten am Haus vorbeifuhren.

Warum sollte bei uns der Strom ausfallen, wenn ein Unfall in einem Nachbarland passiert? Wir produzieren unseren Strombedarf selbst. Unabhängig von anderen. Unsere Stromgesellschaften exportieren sogar Strom. Wir selbst verfügen über keine Atomkraftwerke. Zwentendorf ist nie in Betrieb genommen worden, spulte sein Gehirn automatisch ab.

Er begab sich ins Vorzimmer und schlüpfte in ein Paar Halbschuhe. Wäre tatsächlich irgendetwas in dieser Richtung geschehen, und stünde darüber hinaus kein Strom zur Verfügung, dann hätten die Behörden einen anderen Weg, als den über die Medien, finden müssen, um die Bevölkerung zu informieren oder zu warnen.

Robert verließ das Appartement und machte sich auf den Weg zu seinem Auto. Das Innen- oder Verteidigungsministerium hätte sich etwas einfallen lassen! Die Polizei oder das Bundesheer müssten durch die Stadt patrouillieren, um die Bevölkerung via Lautsprecher aufzuklären, was passiert ist.

Er trat auf den Bürgersteig hinaus, blickte um sich. Das hätte ich sicherlich mitbekommen. Immerhin habe ich den ganzen Vormittag am Fenster zugebracht!

Sein Wagen parkte unmittelbar vor dem Haustor. Er stieg ein und ließ den Motor an. Das Autoradio nahm automatisch den Betrieb auf und Robert lauschte dem konstanten Rauschen, das aus den Boxen drang.

Seltsam, dass es derartig konstant ist. Keine Interferenzen!

Ein leichter Schauer überfiel ihn bei dem Gedanken, gleich durch die Stadt zu fahren. Der einzige Autolenker, der zur Stunde unterwegs war, weil er nicht wusste, ... was nicht wusste?

Dieses Gefühl war wieder da, als ob er etwas übersehen hatte, nicht sehen wollte, oder einfach verdrängte. Wütend, über sein eigenes Unvermögen, die Situation richtig einschätzen zu können, schaltete er das Radio ab und fuhr los in Richtung Arbeitsplatz. Er arbeitete für eine der führenden Tageszeitungen. Er hoffte, dass er in der Redaktion eine Antwort auf diese rätselhafte Inaktivität, die von dieser Stadt Besitz ergriffen hatte, finden würde. Auf seinem einsamen Weg durch die verlassenste Geisterstadt, die er jemals durchfahren hatte - und eigentlich auch gleichzeitig die einzige Geisterstadt, die er jemals durchfahren hatte - kam er sich vor wie die moderne Version des Robinson Crusoe. So sehr er sich auch anstrengte bei dem Versuch einen Freitag zu finden, kam ihm die Idee, dass er allein in der Stadt war, nicht mehr ganz so absurd vor.

Das war es, was er die ganze Zeit über nicht wahrhaben wollte! Doch diese Theorie nahm immer konkretere Gestalt an. Er konnte sich nur noch nicht festlegen, ob der Rest der Bevölkerung unter mysteriösen Umständen über Nacht verschwunden war, oder ob er derjenige war, mit dem augenblicklich etwas Eigenartiges geschah. Er spekulierte sogar mit der Möglichkeit, dass er gestorben war, und nun präsentierte sich ihm auf diese Weise das Leben nach dem Tode. Seine persönliche Version der Hölle!

Robert fuhr auf den Parkplatz des Redaktionsgebäudes, auf dem nur etwa ein halbes Dutzend Wagen standen und stellte den Motor ab. Er hielt das Lenkrad umklammert, fixierte den Eingang und spürte plötzlich unerklärliche Angst in seinem Innersten aufkeimen. Am liebsten hätte er kehrt gemacht und wäre wieder nach Hause gefahren.

Okay, jetzt wird sich herausstellen, ob das alles nur ein böser Traum ist oder nicht. Reiß dich zusammen!

Er stieg aus und ließ den Zündschlüssel stecken, denn er dachte, dass der Wagen wohl kaum gestohlen würde. Von wem auch?

Als er dem Eingang entgegenstrebte, bemerkte er noch, dass die Luft ein wenig abgekühlt hatte. Eine Bö bauschte das Gebüsch und erzeugte so das einzig hörbare Geräusch. Robert stoppte vor der Eingangstür, drehte sich um und ließ den Blick noch einmal in der Gegend umherschweifen. Er atmete tief durch, schloss die Augen und lauschte konzentriert. Er hörte den Wind. Das war alles. Er spürte, wie seine Nerven zu flattern begannen. Plötzlich bekam er ein unerklärliches, aber ziemlich intensives, Verlangen nach einer Zigarette.

Vor vier Jahren hatte er mit dem Rauchen aufgehört. Zur gleichen Zeit hatte er mit dem Joggen angefangen. Das war unmittelbar nach dem Abschluss seines Studiums gewesen. Er hatte gedacht, dass er endgültig darüber hinweggekommen war, dass er nie wieder Lust auf eine Zigarette verspüren würde!

Die Glastür ließ sich widerstandslos öffnen und er betrat das Gebäude. Hinter seinem Rücken schwang die Tür automatisch und lautlos wieder zu. Er verharrte einige Sekunden auf der Stelle und starrte mit halb zugekniffenen Augen ins Halbdunkel der Empfangshalle. Irgendwie fühlte er sich wie ein Revolverheld, der einen Saloon betritt und alle Gespräche durch sein plötzliches Auftreten zum Schweigen bringt. Doch die Stille in der Eingangshalle hatte einen anderen Grund. Sie war menschenleer.

Clint Eastwood im Saloon einer Geisterstadt. He, Pianospieler, spiel mir den Blues von der verlassenen Stadt!

Robert passierte die Portierloge, die nutzlosen Aufzüge und erreichte die Treppen. Im dritten Stock befand sich ein mittelgroßer Raum mit Fernschreibern für die rasche Übermittlung der aktuellsten Ereignisse. Dieser war sein erstes Ziel. Dort, so hoffte er, würde er einen Hinweis auf die Geschehnisse der letzten Nacht finden und somit auch eine Antwort auf die Frage, was mit ihm - beziehungsweise dem Rest der Menschheit - geschehen war.

Oben angekommen, musste er erst an der Chefredaktion vorbei, von der aus man einen freien Blick in die Druckerhalle hatte, bevor er mehrere kleinere Büros passierte. Seine Schritte klangen seltsam laut im unmöblierten Flur. Er drehte einige Male den Kopf, um einen Blick über die Schulter zu werfen, da er sich ein wenig unbehaglich fühlte. Der Korridor gabelte sich nach etwa fünfundzwanzig Metern in drei Richtungen. Robert ging nach links. Manche der Türen waren geschlossen, wie die der Besprechungszimmer, andere standen ein wenig oder ganz offen, sodass er in die Büros hineinschauen konnte. Robert gewann den Eindruck, dass es lange nach Mitternacht geschehen sein musste, denn die Zimmer wirkten einigermaßen sauber, auch wenn sich auf einigen Schreibtischen Ordner, Schnellhefter und ein Wust an Papieren jeglicher Art stapelte. Er wusste, dass die Räume nie gänzlich verlassen wirkten, auch wenn die Frauen der Putzkolonne bereits die Böden gewischt, Teppiche gesaugt und Aschenbecher sowie Papierkörbe geleert hatten. Der Putztrupp hatte die Arbeit anscheinend schon beendet, und es war nur mehr die Nachtschicht im Haus gewesen.

Er erreichte die Nachrichtenzentrale, deren Tür weit offen stand, als ob sie ihn geradezu einladen wollte, einzutreten. Der Raum war nicht besonders groß, etwa fünf mal sechs Meter. Hier wurden die verschiedensten Daten gesammelt, gespeichert und weitergeleitet. Hier, in dieser Kammer kamen die Nachrichten aus aller Welt an. Robert wandte sich dem ersten und größten Gerät zu, einem Fernschreiber der alten Garde, und riss den Papierstreifen mit den jüngsten Meldungen ab. Während er zum nächsten Gerät ging - dabei musste er um einen kleinen Beistelltisch mit Körben herum - überflog er hastig die Zeilen.

Die erste Aufzeichnung auf dem Papierstreifen war um 02:12 Uhr eingelangt. Am Samstag, den 28. Juni.

„Also, heute Nacht“, murmelte er nachdenklich.

Die letzte Meldung war um 02:29 Uhr eingetroffen und berichtete von einem leichten Seebeben in der Nähe der japanischen Insel Hokkaido. Eigenartigerweise brach die Übertragung offenbar mitten im Text ab.

... über die Stärke und den genauen Hergang lässt sich noch nichts sagen. Das Epizentrum liegt etwa 90 km nordöstlich der Insel. Erste Schätzungen sprechen von Stärke 3 nach Richter. Meldungen über Schäden an Gebäuden, oder Opfer unter der Bevölkerung liegen von offizieller Stelle...

noch nicht vor, ergänzte er den fehlenden Schluss.

Der Saft ist dem Ding ziemlich genau um halb drei ausgegangen. Was haben wir hier?

Er riss den Papierstreifen vom nächsten Fernschreiber herunter und las auch die darauf gedruckten Nachrichten durch.

02:02 Uhr

Amokläufer in Portland, Maine, erschoss seine Familie mit einer Pump-Gun. Unter den Opfern befinden sich seine Frau, zwei Töchter, ein Sohn, seine Schwiegermutter und ein Nachbar. Er lieferte sich mit der Polizei ein zwei Stunden dauerndes Gefecht. Auf seiner Flucht erschoss er drei Polizisten, fünf Passanten und verletzte weitere elf Menschen zum Teil schwer. Es handelt sich bei dem Täter um ...

... ein Riesenarschloch!

Dieser Bericht war zwar vollständig angekommen, doch er las schon den nächsten durch.

02:14 Uhr

Die Monet - Ausstellung in New York ist ein Riesenerfolg. Der Direktor des M.A.N.Y. Museum of Art, New York, möchte sie um zwei Wochen verlängern, ...

02:17 Uhr

Eine Gruppe von belgischen und französischen Bergsteigern wird seit einer Woche in Tibet, im Gebiet des K2, vermisst. Die Suche gestaltet sich äußerst schwierig, da schwere Unwetter...

02:30 Uhr

Was soll das? Als ob jemand um halb drei den Stecker aus der Dose gezogen und die Welt rundherum plötzlich zu existieren aufgehört hätte.

Mit einer Ausnahme. Dieser jemand hatte ihn, Robert Lang, übersehen. Robert kontrollierte noch einen weiteren Bericht, der keinerlei nennenswerte Informationen lieferte, die Aufschluss über seine eigene Situation ergeben hätten können.

Was habe ich eigentlich erwartet? Eine Lösegeldforderung? Wir haben sie in eine andere Dimension entführt! Zahlen sie eine Milliarde in gebrauchten Scheinen, und wir bringen sie wieder zurück. ... Oder wie wäre es damit: Sie sind verstorben! Melden sie sich umgehend bei Petrus in der Himmelpfortgasse 1, Innere Stadt.

Er warf die abgetrennten Zettel in einen Korb mit der Aufschrift EINGANG - AUSLAND und verließ enttäuscht den Raum. Auf dem Rückweg zur Treppe musste er an Fred Zimowskys Büro vorbei. Fred war das, was man allgemein als typischen Kettenraucher bezeichnete. Er hatte stets eine Stange Zigaretten in der untersten Schublade seines Schreibtisches gebunkert, und Robert wusste davon. Er verspürte just in dem Augenblick, als er die Tür passieren wollte und einen Blick hinein warf, den Drang sich eine Zigarette anzuzünden.

Was soll’s. Hab’ heute sowieso nichts Besseres vor!

Die Tür stand offen und Robert betrat das leere Büro. Freds Schreibtisch war das reinste Chaos, das den Eindruck vermittelte, als ob die Sachen, die einmal dort abgelegt worden waren, denselben niemals wieder verlassen würden. Der Aschenbecher war randvoll mit Stummeln und Asche. Daraus folgerte Robert, dass Fred zu dem Zeitpunkt, als das geschehen war, worauf er sich noch keinen Reim machen konnte, hier gewesen sein musste. Er machte einen Bogen um den Schreibtisch herum und öffnete die unterste Schublade.

„Fred, alter Kumpel, du hast sicher nichts dagegen. Sollten wir einander jemals wiedersehen, kriegst du sie bestimmt zurück.“

Er entwendete eine Packung Sargnägel, wie sein Kollege sie zu nennen pflegte, und riss sie auf. Er steckte sich eine Camel in den Mundwinkel und griff nach einem Benzinfeuerzeug, das seltsamerweise neben dem Aschenbecher lag. Fred trug sein Zippo normalerweise stets bei sich. Roberts Hand zitterte ein wenig, als er die Zigarette in Brand setzte und den ersten Zug inhalierte, der den Hals hinunterkratzte, und er konnte direkt fühlen, wie der Rauch seine Bronchien überrannte wie die Hunnen eine dürftige Festung.

Wozu ein langes Leben führen, wenn man der einzige Mensch auf diesem verfluchten Planeten ist? ... Wenn! ... Ich werde es herausfinden!

Er hüstelte, doch es war längst nicht so unangenehm, wie er erwartet hatte. Vielmehr übermannte ihn ein angenehmes Schwindelgefühl, das mit jedem Zug stärker wurde. Er steckte die angebrochene Packung und das Feuerzeug in die Brusttasche seines Hemdes und ließ sich in Freds, mit braunem Leder überzogenen, Schreibtischsessel fallen. Die Sitzfläche war ziemlich weich gepolstert, was Robert zu der Überlegung führte, dass Fred an Hämorriden leiden könnte. Er schnappte sich den Aschenbecher, leerte dessen Inhalt in den Papierkorb zu seiner Rechten und veränderte seine Sitzposition um hundertachtzig Grad, sodass er aus dem Fenster blicken konnte. Den Aschenbecher deponierte er auf seinem Schoß und seine Füße auf dem Fensterbrett zwischen einem Kaktus und einem Bonsai - Bäumchen.

Am Himmel waren in der Zwischenzeit Gewitterwolken aufgezogen, die diesen in zwei Hälften teilten. In eine Blaue und eine Schwarze. Die Sonnenstrahlen hatten noch freie Bahn, doch in Kürze würde sich das Wolkensystem vollends zwischen Sonne und Erde schieben und den Tag verdunkeln. Während er das Firmament und die menschenleere Gegend beobachtete und seine Zigarette rauchte, überlegte Robert die nächsten Schritte, die er zu unternehmen gedachte.

7.

Der Autobus donnerte mit überhöhter Geschwindigkeit auf der A1 in Richtung Wien an der Landeshauptstadt von Oberösterreich vorbei.

In Linz beginnt’ s, dachte Karl Brehm aufgeregt.

Der Spruch stammte aus einem Werbefilm über die Stadt und enthielt für Karl einen bitteren Kern der Wahrheit, obwohl es schon wesentlich früher begonnen hatte, und nicht erst hier, in Linz, drei Stunden später. Doch Angesichts der Brisanz seiner Entdeckung, die er gemacht hatte, wollte er sich nicht an solch banalen Kleinigkeiten stoßen.

Er hatte allen Grund, aufgeregt zu sein. Er war nun schon seit fünfzehn Jahren Busfahrer und hatte alle möglichen Gruppen von Menschen zu den unterschiedlichsten Orten in ganz Europa gefahren. Ob es sich dabei um Rentner handelte, die er nach Stockholm kutschieren musste, oder eine Schulklasse, die in St. Johann, im Pongau, ihren Schulschikurs verbringen wollte. Doch während all der Jahre - in seinem ganzen Leben, das nun schon 39 Jahre währte - war ihm nichts Vergleichbares untergekommen.

Seine Aufgabe war es gewesen, eine Reisegruppe - vorwiegend ältere Herrschaften - von Wien nach St. Gilgen am Wolfgangsee zu fahren und am nächsten Morgen eine andere Urlaubergruppe von St. Wolfgang abzuholen und nach Wien zurückzubringen. Eigentlich keine außergewöhnliche Herausforderung für einen routinierten Chauffeur. Von außergewöhnlicher Natur war jedoch die Entdeckung, die er am Morgen nach dem Aufstehen machen musste. Er stellte nämlich fest, dass sich St. Gilgen über Nacht offenbar in eine Geisterstadt verwandelt hatte.

Zuerst war es ihm gar nicht aufgefallen. Der batteriebetriebene Reisewecker, den er stets mit sich führte, hatte ihn zuverlässig geweckt. Die Dusche war etwas kurz ausgefallen, da anscheinend kein Warmwasser zur Verfügung stand. Das war nicht weiter ungewöhnlich und kam in den ländlichen Gegenden häufig vor, da das Wasser für die Gästezimmer in vielen kleineren Pensionen mittels Sonnenenergie erwärmt wurde. Nach der Morgentoilette hatte er sich in den Frühstücksraum begeben, wo er eine Viertelstunde darauf gewartet hatte, dass er bedient wurde. Doch es war niemand gekommen, um nach ihm zu sehen. Das allerdings war ungewöhnlich.

Dann begann seine Suche. Erst nach den Betreibern der Pension, dann nach anderen Einwohnern in der nächsten Umgebung. Er hatte gedacht, dass die Bewohner bei einem Umzug mitmachten, einem Schützenfest oder einer ähnlichen Veranstaltung, einem Feuerwehrfest möglicherweise, das irgendwo stattfand. Aber so sehr er sich auch bemüht hatte, einen Einwohner aufzustöbern, der ihm erklären hätte können, was vor sich ging, blieb er ohne entsprechenden Erfolg. St. Gilgen war wie ausgestorben.

Eine Geisterstadt.

Nachdem er eine Nachricht in der Küche der Pension hinterlassen hatte, machte er sich auf den Weg nach St. Wolfgang. Obwohl ihn diese seltsame Entdeckung verständlicherweise ein wenig aus dem Konzept geworfen hatte, war er wie vereinbart pünktlich in St. Wolfgang angekommen, um die Gruppe, die er heimbringen sollte, abzuholen. Zu seinem Schrecken musste er zur Kenntnis nehmen, dass dort keine Gruppe auf ihn wartete. Der ganze Ort machte einen ausgestorbenen Eindruck, genau wie St. Gilgen eine halbe Stunde zuvor.

Geisterstadt!

Als er an der Rezeption gestanden war und geläutet hatte, war er sich wie ein Dorftrottel vorgekommen, der nicht kapieren konnte, was geschehen war. Er hatte gar nichts mehr verstanden. Ziellos war er eine Stunde lang durch die Ortschaft gelaufen, ohne auch nur einem einzigen Lebewesen zu begegnen. Sogar der Platz vor dem berühmten Weißen Rössl, das normalerweise massenhaft Touristen anlockte, war menschenleer gewesen.

Er hatte daraufhin versucht, von einer Telefonzelle aus nach Wien zu telefonieren, musste jedoch hinnehmen, dass der Strom und das Telefonnetz ausgefallen waren. Endgültig verwirrt, weil er noch immer nicht wusste, wie er mit dieser eigenartigen Situation umgehen sollte, hatte er die Rückreise allein angetreten.

Die folgende Fahrt hatte er in tranceähnlichem Zustand verbracht, während er den Bus eher automatisch als bewusst gelenkt hatte. Auf seinem Weg war er auch durch andere größere Ortschaften gefahren. Überall gelangte er zu demselben Schluss; Sie waren zu Geisterstädten geworden. Karl war bis Wels gefahren, auf Straßen ohne Verkehr, durch Orte ohne Lebenszeichen. Er hatte während des ganzen Wegs nach Menschen Ausschau gehalten oder nach irgendwelchen Zeichen, die auf deren Verbleib hingewiesen hätten, jedoch ohne befriedigendes Resultat. Keine Spur von Leben auf den Straßen. Nicht einmal Leichen von Menschen oder Tieren waren zu sehen. Nichts, was auf eine Katastrophe zurückzuführen gewesen wäre. Gebäude, Fahrzeuge und alle anderen Dinge, die von Menschenhand geschaffen worden waren, schienen intakt zu sein. Es gab keinerlei Spuren von Zerstörung, Chaos oder Flucht in Panik. Die Autos standen schön geparkt vor den hübschen Häusern mit den netten Vorgärten, deren Türen brav geschlossen waren. Keine Trümmer, kein Schmutz oder weggeworfenes Gut säumten die Straßen. Die Szenerie wirkte perfekt und friedlich wie an jedem anderen ganz normalen Tag. Wenn er nicht von St. Gilgen gewusst hätte, dass sich auch keine Menschen innerhalb der Gebäude aufhielten, dann hätte er angenommen, dass sich die Leute aus irgendeinem Grund in ihren Häusern verkrochen hatten.

Er tankte den Bus in Wels an einer Tankstelle mit Hilfe einer Handpumpe randvoll und setzte seine Fahrt nach Hause fort. Er litt Höllenqualen, denn die Angst um seine Ehefrau und seine beiden Töchter brachte ihn fast um den Verstand. Der Gedanke, dass seine Familie ebenfalls verschwunden sein könnte, ließ ihn das Gaspedal bis zum Anschlag durchtreten. Der unbesetzte Autobus schaffte auf der ebenen Strecke immerhin fast 140 km/h.

Tränen schossen ihm in die Augen und verschleierten seine Sicht, aber es kümmerte ihn nicht sonderlich, da er die Autobahn für sich allein hatte. Karl wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und betrachtete das Foto, das auf dem Armaturenbrett angebracht war. Es steckte in einem Magnet - Bilderrahmen, und zeigte seine Frau und seine Kinder, den Mondsee im Hintergrund. Er hatte das Bild vor einem Jahr mit seiner neuen Minolta geschossen, die er drei Wochen vor dem Urlaub gekauft hatte.

Julia, Kinder, bitte seid zu Hause!

Die Digitalanzeige der Uhr über seinem Kopf sprang auf 11:15 Uhr um, als er die Ausfahrt nach Enns passierte. Lisa Wagner versuchte im selben Moment das Licht in ihrem Badezimmer anzuknipsen und Robert Lang nickte nach der dritten Zigarette in Fred Zimowskys äußerst komfortablen Schreibtischsessel ein.

8.

Etwa zur selben Zeit öffnete Richard alias „Richie“ Formann seine Augen. Die Sonne stach ohne Gnade zu. Blinzelnd wälzte sich Richie auf die andere Seite. Er hatte sich am Vortag auf einer Parkbank im Stadtpark niedergelassen, konnte sich daran jedoch nicht mehr erinnern. Im Leben eines Obdachlosen, der sich dem Suff ergeben hatte, gab es mehr schwarze Löcher als Erinnerungen. Es kam zuweilen auch vor, dass ihm ganze Tage schlichtweg fehlten.

Sein getrübter Blick fiel auf eine Wasseroberfläche, den Teich im Zentrum des Parks, der die Sonnenstrahlen reflektierte. Diese tanzenden Pünktchen taten seinen blutunterlaufenen Augen genauso wenig wohl, wie die direkte Sonneneinstrahlung. Er tastete mit seinen Armen nach der Lehne und zog sich ächzend daran hoch. Im selben Augenblick, als er sich herzhaft gähnend streckte, trafen ihn die Kopfschmerzen wie die Strafe des Bacchus für das Saufen minderwertigen Fusels. Richie massierte seine Schläfen und sah sich um. Langsam nahm die Umgebung Gestalt an.

Morg’n Welt! Morg’n Kater!

Er erblickte zwei dicht beieinanderstehende Weinflaschen am Ende der Bank.

Morg’n Weinderl!

Richi beugte sich lächelnd vor und griff nach der einen Doppelliterflasche, verfehlte sie jedoch. Er versuchte es bei der anderen. Mit Erfolg. Er führte die Öffnung an den Mund und nahm einen kräftigen Schluck, verzog das Gesicht.

Bäh! Schmeckt wie Hundepisse. Vielleicht die andere ...

Er wollte die andere Flasche nehmen, doch diese war verschwunden, also stellte er die Weinflasche ab, da tauchte die zweite aus dem Nichts wieder auf. Dopplereffekt, dachte er. Kichernd sammelte er seinen Rucksack vom Boden auf. Es handelte sich dabei um einen kleinen Stoffbeutel, der an allen Ecken und Enden aufgescheuert war. Sein treuer Begleiter, seit er seine Wohnung gegen die Straße getauscht hatte. Sein Inhalt variierte oft, da Richie ständig etwas verlor oder liegen ließ. Nur der Rucksack schien wie eine Klette an ihm zu hängen. Er kramte im Inneren und holte erst einen Kamm, dann einen kleinen Rasierspiegel, dem eine Ecke fehlte, heraus. Er kämmte sein dünnes, fettiges Haar nach hinten und kontrollierte dessen Sitz. Nach seiner üblichen Morgentoilette verstaute er die Utensilien wieder im Rucksack.

Richard Formann war wesentlich jünger, als er aussah. Das war auch keine große Überraschung bei dem Leben, das er führte. Im April hatte er mit ein paar Kumpel, die wie er ganz unten angelangt waren, seinen Vierziger gefeiert, obwohl er schon im Jänner Geburtstag gehabt hatte. Doch im Winter gab es für Menschen, die ihr Dasein auf der Straße fristeten, relativ wenig Grund zur Freude. Jeder einzelne war froh, wenn er die kalte Jahreszeit einigermaßen unbeschadet überlebte. Jedes Jahr forderten Frost und Schnee Opfer unter Richies Bekanntenkreis. Mal fehlte das eine oder andere Gesicht, dafür tauchten einige neue auf.

Richie erhob sich schwerfällig, hängte sich den Rucksack über die Schulter und trottete den Weg entlang in Richtung Wienfluss. Bei der Fußgängerbrücke bog er ins Gebüsch ab, öffnete seinen Hosenschlitz und ließ den Urin ab, der sich über Nacht angesammelt hatte. Dann setzte er seinen Weg über die Brücke fort und verließ den Park.

Fünf Minuten später nahm er erstaunt zur Kenntnis, dass die Würstelbude vor der Bahnhofshalle beim Bahnhof Wien - Mitte geschlossen war.

„Was ist das heute wieder für ein Tag? Kein Schwein weit und breit zu sehen, und die Bude ist zu“, murrte er verärgert.

Er umrundete die Hütte ungläubig und steuerte danach auf die Halle zu. Die Halle bildete den Eingangsbereich für die U-Bahnstationen der Linien U3 und U4, sowie den Abgang zu den Schnellbahnen, und war für gewöhnlich tagsüber frei zugänglich. Für gewöhnlich. Doch heute nicht.

Verdammt, was ist heute bloß los?

Er rüttelte an einer geschlossenen Glastür nach der anderen. Fassungslos starrte er ins Innere, das sich in Düsternis hüllte. Dennoch konnte er erkennen, dass der Bereich menschenleer war, einschließlich der Geschäftslokale, die sich darin befanden. An und für sich war es für ihn keine neue Erfahrung, vor einer geschlossenen Bahnhofshalle zu stehen und an der Eingangstüre zu rütteln. Doch am helllichten Tag davon ausgesperrt zu sein, das war ungewöhnlich. Er entfernte sich vom Portal und vergewisserte sich, dass die Sonne nach wie vor am Himmel stand.

„Ich hab Halluzinationen, jetzt ist es soweit! Als nächstes kommen die weißen Mäuse“, brabbelte er in seinen verfilzten Bart.

Nach kurzem hin und her beschloss er, dass es heller Tag war, auch wenn kein Schwein unterwegs war und die Vordereingänge der Halle aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen abgeschlossen waren. Er torkelte zum Hintereingang beim Busbahnhof. Dort wurde er fündig. Eine der Türen war nur angelehnt. Er schlurfte hinein und sah sich um. Meistens traf er dort einige Leidensgenossen, die wie er ein ruhiges und geschütztes Plätzchen suchten, doch heute war auch der rückwärtige Teil des Bahnhofsgeländes leergefegt.

Sein Magen knurrte. Er zog sich in eine Ecke zurück und kauerte sich am Boden nieder, stellte die Weinflasche, die er die ganze Zeit mitgetragen hatte, ab und öffnete seinen Rucksack. Nicht, dass er gewusst hätte, wonach er eigentlich suchte, aber man konnte ja nie wissen, was sich in dem Sack befand.

Überraschung! Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus, als er eine Dose Sardinen und eine verdreckte Plastiktüte mit einigen Scheiben Zwieback hervorzauberte. Fisch und Brot waren rasch verzehrt, die Weinflasche bis auf den Boden geleert. Mit einem zufriedenen Rülpser lehnte er sich gegen die Mauer, verschränkte die Arme vor der Brust und schlief zufrieden ein. Sein Schnarchen war bald darauf im gesamten Gebäudekomplex zu hören. Umso lauter, da es das einzige Geräusch war, das von innerhalb der Anlage kam. Draußen pfiff der Wind von Mal zu Mal heftiger und stieß die unversperrte Tür immer wieder einen Spalt breit auf. Sonst war es still.

9.

Dicke schwere Regentropfen fielen so plötzlich vom Himmel herab, als ob eine gigantische Brause über der Stadt geschwenkt würde. Lisa fuhr wie vom Blitz getroffen hoch, denn die ersten Boten des Schauers klatschten ihr mitten ins Gesicht. Der Bahnsteig war zwar überdacht, aber der Wind, der nun sehr heftig wehte, peitschte die Regentropfen über den gesamten Bahnsteig. Sie brauchte einige Sekunden, bis sie sich erinnerte, warum sie hier saß und wie sie hierher gelangt war. Sie stemmte sich hoch, torkelte benommen auf eine Bank zu und ließ sich darauf nieder.

Ein gewaltiger Blitz zuckte über den Himmel, der bedeckt war von dunklen, bedrohlich wirkenden Wolken. Er tauchte die Umgebung in ein gespenstisches Licht, das die, dem Blitz abgewandten, Flächen in pechschwarze Schatten verwandelte. Der Effekt wurde noch verstärkt durch das explosionsartige Grollen, das nur einen kurzen Augenblick später folgte. Lisa vergaß, überwältigt von der Heftigkeit des Gewitters, für einige Zeit die heikle Lage, in der sie sich befand. Binnen weniger Minuten hatten sich riesige Pfützen gebildet, die den Bahnsteig fast vollständig unter Wasser setzten. Die Tropfen hämmerten in beinahe ohrenbetäubendem Stakkato auf den Boden und die Dächer herab. Ein neuerlicher Blitz entlud sich und verwandelte die Welt ringsum in eine Mischung aus schwarz und weiß. Ganz in der Nähe krachte es, und der Donner schien mit mächtiger Stimme aus allen Richtungen gleichzeitig zu antworten. Lisa konnte die Vibrationen in ihrem Körper spüren. Das Gewitter war nun genau über ihr. Es schlug immer wieder zu wie eine wütende Raubkatze. Die Luft war erfüllt von Ozon. Lisa hatte Angst, die sich aber in Grenzen hielt.

Früher, als kleines Kind, war sie bei Sommergewittern zu ihren Eltern ins Bett gekrochen. Jetzt war sie erwachsen und sah die Dinge aus einer anderen Perspektive. Die Erinnerung an ihre Kindheit und somit auch ihre Eltern zog andere, schreckliche Bilder im Schlepptau nach sich.

Mutter, Vater, wo seid ihr? Was ist mit mir geschehen?

Sie sah sich um. Sie war nach wie vor allein. Lisa stützte die Ellenbogen auf ihren Oberschenkeln ab und verbarg ihr Gesicht in den Handflächen. Ihr Körper wurde durchgeschüttelt, und die Sorge um ihre Eltern und sich selbst brach mit lautem Schluchzen aus ihr heraus. Sie hatte keine Ahnung, was geschehen war und wie sie sich nun verhalten sollte. Immerhin bereitete man sich auf ganz andere Dinge im Leben vor. Niemand konnte vorausahnen, dass er eines Tages in der Früh aufwachen würde, um festzustellen, dass alle anderen Menschen spurlos verschwunden waren.

Wie kann so etwas geschehen? ... Ausgerechnet mir? ... Solche Sachen gibt es doch nur im Film.

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und versuchte sich neu zu orientieren. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, Blitz und Donner allmählich entfernt. Dafür war der Wind, der das Gewitter vor sich herscheuchte, unangenehmer geworden, denn die Luft hatte empfindlich abgekühlt, und Lisas Kleidung war bis auf die Haut durchnässt. Sie fror und schlang die Arme um ihren zitternden Leib.

Besser ich gehe nach Hause und überlege dort, was ich unternehmen kann, sonst hole ich mir eine Lungenentzündung. ... Ein Arzt! ... Es gibt keine Ärzte, wurde ihr siedend heiß bewusst. Was mache ich, wenn ich krank werde?

Sie erhob sich von der Bank und eilte über einen Verbindungssteg, der vom Bahnsteig zum hässlichen Parkhaus führte. Der Steg war rundherum mit Plexiglas ummantelt und bildete somit eine durchsichtige Röhre. Lisa war mulmig zumute, als sie beim Durchschreiten den festen Boden schwindelerregende zehn Meter unter sich erblickte. Beim Aufzug angekommen, blieb sie stehen.

Scheibenkleister! Ohne Strom - keine Talfahrt! Den Lift kann ich vergessen!

Sie wandte sich dem Stiegenabgang zu, doch die Tür ins Stiegenhaus ließ sich nicht öffnen.

Mist. Heute klappt auch rein gar nichts!

Sie drehte um und eilte den Weg zurück, den sie gekommen war. Der Wasserpegel auf dem Bahnsteig war zurückgegangen und es regnete nur noch ganz leicht. Im Inneren der großen Halle war es nun erheblich dunkler als vorher, und Lisa zögerte - lauschte - bevor sie das Förderband hinabschritt. Doch außer dem Prasseln des Regens konnte sie nichts hören. Die Gegenstände in der Halle, Papierkörbe, Pflanzen, der Brieflosautomat und der große steinerne Löwe zeichneten sich als tiefschwarze Klumpen vor dem dunkelgrauen Hintergrund ab. Mit einiger Fantasie konnte man bei dem einen oder anderen Schatten glauben, dass es sich um menschliche Gestalten - lauernde Gestalten - handelte. Je länger sie diese betrachtete, desto mehr begannen diese Schatten, dunklen Wesen gleich, zu leben und sich zu bewegen. Lisa nahm ihren ganzen Mut zusammen und durchquerte, so rasch wie möglich, die unheimliche Stätte. Sie war nun im Gegensatz zu der Unbekümmertheit, mit der sie hierhergekommen war, hellwach und auf der Hut. Denn man konnte schließlich nie wissen, welche Überraschungen dieser Tag noch für sie auf Lager hatte. Er war wahrhaftig anders verlaufen, als ursprünglich geplant.

10.

Großvater warf die Angelschnur mir einer weit ausholenden Bewegung aus. Etwa zwanzig Meter vom Boot entfernt traf der Angelhaken an der Wasseroberfläche auf und versank. An der Stelle, wo der Haken mit dem Köder verschwunden war, entstanden kleine kreisförmige Wellen, die sich ausdehnten, bis sie kaum wahrnehmbar endlich die Bootswand erreichten. Großvater sog an seiner Pfeife aus Wurzelholz und blies den Rauch wieder aus. Er lehnte die Rute an die Bootskante und führte die Hand zur Pfeife, umschloss den Pfeifenkopf und setzte sie ab. Donnergrollen kündigte ein aufziehendes Gewitter an. Es wurde von den Berghängen rings um den See mehrfach zurückgeworfen.

Großvater, sollten wir nicht zusehen, dass wir von hier verschwinden? „Das Gewitter wird bald hier sein“, rief Robert mit einer kraftlosen Stimme, die sich gar nicht wie seine eigene anhörte. Es war eine Kinderstimme. Großvater drehte den Kopf und blickte Robert fest in dessen Augen.

„Robert, hör mir gut zu“, Seine Stimme zitterte, während er sprach, doch sein Blick war fest auf Robert gerichtet. “Du musst den Kristall zurückbringen.“

„Wovon redest du? Welcher Kristall?“

Ein Blitz zuckte vom Himmel herab und schlug im Wald neben dem See ein. Robert sah in die Richtung, aus der er das Krachen vernommen hatte, als der Blitz einen Baum gespaltet hatte. Eine kleine Rauchwolke stieg aus dem Waldinneren auf, kaum sichtbar, denn am Himmel standen tiefschwarze Wolken. Robert bemerkte eine kleine Holzhütte am Waldrand nahe der Einschlagstelle. Dahinter wuchsen drei hohe Tannen dicht nebeneinander, die sich durch ihre Nähe zur Hütte ein wenig vom restlichen Wald abhoben.

Als er den Kopf wieder seinem Großvater zuwendete oder jedenfalls der Stelle, an der er noch einen Augenblick zuvor gesessen hatte, musste Robert entsetzt feststellen, dass sein Großvater verschwunden war.

Großvater?

Robert saß allein in dem Boot mitten auf dem See, den er zwar kannte, an den er sich aber nur schwach erinnern konnte. Sein Großvater hatte dort früher zu angeln gepflegt und seinen Enkelsohn nur selten zum Fischen mitgenommen. Damals war er sieben Jahre alt gewesen.

Erneut erhellte ein Blitz den Himmel und mit lautem Getöse folgte der obligate Donnerschlag. Robert fühlte sich in diesem Moment so klein wie eine Maus.

Was zum Kuckuck mach’ ich hier in dieser Nussschale? Wo bin ich hier eigentlich?

Neuerliches Donnern erklang anstelle einer Antwort. Der Himmel öffnete seine Schleusen und verwandelte die gesamte Umgebung in ein verschwommenes Grau.

Beim darauffolgenden Grollen schlug er die Augen auf und ihm wurde klar, dass er nur geträumt hatte. Er saß nach wie vor in Freds Bürosessel, seine Füße zwischen den Pflanzen auf dem Fensterbrett hochgelagert. Er nahm die steifen Beine herunter und streckte sich gähnend. Das Büro lag im Halbdunkel, was er auf die Bewölkung zurückführte. Ein Blick auf die Armbanduhr bestätigte ihm, dass er nicht nur ein Nickerchen gemacht hatte. Er war etwa drei Stunden lang weggetreten. Er beobachtete, wie die Regentropfen an der Scheibe herunterrannen, und überlegte, ob er gleich etwas unternehmen sollte, oder ob es besser wäre zu warten, bis das Unwetter sich wieder verzogen hatte.

Wer weiß, wie lange der Regen noch anhält?

Er holte die Packung Camel und das Feuerzeug aus der Brusttasche.

Am Ende regnet es bis morgen. Ich kann natürlich auch alles verschieben. An Zeit mangelt es nicht, ... davon habe ich jetzt reichlich.

Er holte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an.

Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, Mutter, du hattest schon immer die besten Sprüche auf Lager!

Er stemmte sich vom Sessel hoch, wobei sein Rücken schmerzhaft protestierte.

Drei Stunden in diesem Sessel hinterlassen ihre Spuren!

Er streckte sich erneut, schlenderte zur Tür, kehrte nochmals zum Schreibtisch zurück, um die Zigarette im Aschenbecher auszudämpfen, und verließ daraufhin endgültig das Büro. Im Flur war es stockdunkel. Durch die offenen Bürotüren fiel stellenweise nur ein schwacher Schimmer herein.

Das nächste Mal, wenn ich ein Gebäude betrete, muss ich unbedingt eine Taschenlampe mitnehmen, sonst breche ich mir noch alle Knochen.

Im fensterlosen Treppenabgang waren die Lichtverhältnisse noch schlechter. Er tastete sich vorsichtig eine Stufe nach der anderen hinunter ins Erdgeschoss. Draußen tobte das Gewitter, doch es verlor langsam an Intensität. Selbst im Inneren des Gebäudes konnte Robert hören, wie sich das Grollen von Minute zu Minute weiter entfernte.

Als er das Eingangstor erreicht hatte, war der Regen bereits zu einem Nieseln abgeklungen. Robert inhalierte die gereinigte Luft. Er fand, dass sie nach einem Gewitter immer besonders gut roch. Auf dem Weg zum Wagen musste er einigen größeren Pfützen ausweichen, denn das Wasser stand an manchen Stellen knöcheltief.

Hätte nie gedacht, dass sich in der kurzen Zeit so viel Wasser ansammeln kann. Ich muss wohl den größten Teil der Show verschlafen haben.

In einer der Wasserlacken entdeckte Robert einen treibenden Sektkorken, der ihn an das Boot in seinem Traum erinnerte.

Sonderbar, dass ich ausgerechnet von Großvater geträumt habe. … Du musst den Kristall zurückbringen, erinnerte er sich an dessen letzte Worte.

Robert stieg in den Wagen, startete den Motor und fuhr vom Parkplatz. Das Wasser spritzte fächerartig in alle Richtungen. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und reduzierte die Geschwindigkeit, denn er wollte verhindern, dass er ins Schleudern geriet. Unbewusst konzentrierte er sich nun wieder etwas mehr auf die Umgebung. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, zufällig den Weg anderer Individuen zu kreuzen. Robert dachte, dass die Chancen, auf andere Menschen zu stoßen, steigen würden, je mehr er sich dem Zentrum näherte. Immerhin zog es auch ihn in die Mitte der Stadt. Welche Gründe jemand anders auch immer dafür haben könnte.

Sein Plan bestand darin ein Geschäft aufzusuchen, das Leuchtpistolen führte, eine solche zu entwenden und damit vom Stephansplatz aus Leuchtkugeln abzufeuern. Sollten sich andere Menschen in der Stadt aufhalten, wäre es unwahrscheinlich, dass sie sein Zeichen nicht bemerkten. Immerhin war es totenstill in der Stadt, seit der Regen wieder aufgehört hatte. Er dachte dabei an ein Waffengeschäft am Graben, das nur einen Steinwurf vom Stephansdom entfernt lag.

Schließlich erreichte er den Stephansplatz, in dessen Mitte der Dom, Wahrzeichen der Stadt - und nun Hüter einer verlassenen Stadt - emporragte. Robert brachte den Wagen zum Stehen und ließ den Blick über den leeren Platz schweifen, der nun größer wirkte als sonst. Keine Pferdekutschen und auch keine Touristen, die an normalen Sommertagen die Altstadt bevölkerten oder in einen der Fiaker stiegen, um eine romantische Fahrt vorbei an den Sehenswürdigkeiten zu unternehmen, befanden sich dort. Sogar der Pferdemist war von dem Gewitter weggeschwemmt worden.

Er setzte sein Gefährt wieder in Bewegung und rollte an der Kathedrale vorbei, bog rechts in den Graben und hielt vor dem Waffengeschäft an. Er überlegte, ob er das Auto in der Seitengasse parken sollte, kam aber zu dem Schluss, dass es ziemlich egal war, ob er den Fluchtwagen hier stehen ließ oder versteckte. Immerhin lag der Sinn dieser Aktion darin, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Von der Auslage ging ein seltsamer Glanz aus und Robert wurde bei dem Anblick der Scheiben flau im Magen. Dieses Gefühl rührte wahrscheinlich daher, dass er im Begriff war, seinen allerersten Einbruch zu begehen.

Würde gern wissen, ob sich jeder Einbrecher so miserabel fühlt, bevor er ein Verbrechen begeht.

Er ging zum Heck des Wagens und hob den Kofferraumdeckel an. Im Inneren befand sich neben den üblichen Utensilien wie Pannendreieck, Verbandskasten, Abschleppseil, Schneebesen und Eiskratzer auch ein Werkzeugkasten. Robert klappte ihn auf und entnahm diesem ein Stemmeisen und einen zwei Pfund schweren Hammer. Ein Überbleibsel einer Wohnungsrenovierung, bei der er mitgeholfen hatte. Er steuerte auf die Geschäftstüre zu und nahm sie genauer unter die Lupe. Sie erschien ihm nicht besonders widerstandsfähig.

Eigentlich unverantwortlich bei einem Waffengeschäft eine derartig lächerliche Tür zu installieren.

Er setzte den Meisel beim Schloss an und holte mit dem Hammer zum Erstschlag aus. Die Alarmanlage!

Die Idee einer solchen Einbruchsicherung, die jeden Augenblick loslegen würde, manifestierte sich in seinem Hinterkopf. Er hörte im Geiste eine ohrenbetäubende Sirene heulen, während von allen Seiten Leute angelaufen kamen, um nachzuschauen, wer die Dreistigkeit besaß, am helllichten Tag in ein Waffengeschäft einzubrechen. Dann fiel ihm der Stromausfall wieder ein und die Tatsache, dass er höchstwahrscheinlich allein war, und wischte den Gedanken einer funktionstüchtigen Alarmanlage beiseite. ... Andererseits ... Ich will ja, dass mich jemand hört!

Er holte aus und schlug zu. Etwas zu zaghaft und ohne zerstörende Wirkung. Der zweite Schlag fiel stärker aus und ließ die Tür erzittern. Das Schloss zeigte sich unbeeindruckt von diesem höchst unprofessionellen Erstschlag. Robert schlug wieder und wieder zu, jedoch ohne befriedigendes Resultat.

Das gibt es doch nicht. Ich habe diese Tür eindeutig unterschätzt!

Er ließ vom Schloss und Türrahmen ab, wo er lediglich einige Schrammen hinterlassen hatte, und widmete seine Aufmerksamkeit der Scheibe. Er versuchte es vorerst ohne Stemmeisen und schlug zu, so fest er konnte. Er presste die Augenlider zusammen, weil er erwartet hatte, dass die Scheibe bersten würde, doch das Geräusch von zersplitterndem Glas blieb aus. Er hatte lediglich eine Delle in die Scheibe geschlagen, von der aus klitzekleine Risse zum Rand hin verliefen.

Spezialglas! Noch ein paar solcher Überraschungen und ich laufe Amok!

Die Scheibe, die in der Eingangstüre eingelassen war, war nicht besonders groß. Sie verlief vom Knie bis knapp über Kopfhöhe und war etwa einen halben Meter breit. Robert bearbeitete mit Stemmeisen und Hammer den Rand der Scheibe und schlug sie Zentimeter für Zentimeter aus dem Rahmen. Es wirkte beinahe so, als wollte er eine Konservendose öffnen. Als er damit fertig war, stieß er sie ins Ladeninnere, wo sie polternd auf dem Holzboden landete. Er schlüpfte durch das Loch ins Geschäft und stieg über die Reste hinweg.

Auf der rechten Seite befand sich ein langer Ladentisch, der teilweise verglast war, wodurch der Blick auf die darunterliegenden Objekte frei war. Einen der ausgestellten Artikel identifizierte Robert eindeutig als Leuchtpistole. Er zerschlug die Deckplatte mit seinem Hammer. Dieses Mal handelte es sich dabei um kein Spezialglas, und die Splitter flogen klirrend in alle Richtungen. Robert griff vorsichtig nach der Pistole und blies den Glasstaub davon ab. Er ging um die Verkaufstheke herum und öffnete eine Schublade nach der anderen, auf der Suche nach der passenden Munition. Einige waren versperrt, doch er hielt sich nicht länger damit auf. Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte. Er räumte alle Schachteln heraus und stapelte sie auf der Theke. Die Leuchtpistole steckte er in seine Hosentasche. Dann schnappte er so viele Verpackungen, wie er tragen konnte, brachte sie zu seinem Auto, warf sie auf den Beifahrersitz und kehrte ins Geschäft zurück, um die restliche Munition zu holen. Dann klemmte er sich hinter das Steuer und startete den Motor. Er fuhr bis vor das Haupttor des Stephansdomes, wählte eine Schachtel mit roten Leuchtpatronen und stieg aus. Ein Blick nach oben stimmte ihn wieder versöhnlich, denn der Himmel erstrahlte im herrlichsten Blauton, als ob nichts gewesen wäre.

Er lud die Pistole, zielte Richtung Himmel und drückte ab. Der Knall selbst war gar nicht so laut, wie er erwartet hatte, doch dessen Schall, der von den Häusern zurückgeworfen wurde, hallte umso unangenehmer über den leeren Platz. Robert verfolgte mit seinen Augen die Flugbahn der Leuchtkugel. Zuerst stieg sie steil in die Luft, bis zu den Dachkanten, dann wurde der rote Feuerball, kaum war er dem Windschatten der Häuser entkommen, von einer Bö erfasst und horizontal davon getrieben.

Verdammter Wind! Ich veranstalte hier keine Party zu meinem Privatvergnügen!

Er lud die Leuchtpistole nach und drückte ein zweites Mal ab. Gleiches Resultat. Er sah der Feuerkugel nach, bis sie hinter den Dächern verschwunden war.

Wenn nicht zufällig jemand eine Gasse weiter einen Spaziergang hält, dann ist diese ganze Aktion sinnlos!

Aufgebracht blickte er um sich.

Denk nach, was kannst du jetzt noch ... Er betrachtete den Dom. Und wenn ich den Turm ins Turmstüberl hinaufsteige. Von dort oben abgefeuerte Leuchtkugeln erzielen sicher den gewünschten Effekt!

Er ging ein paar Schritte rückwärts von der Kirche weg, bis er freie Sicht auf den Südturm hatte.

Soweit ich mich erinnere, kann man nur von außen in den Turm gelangen.

Er setzte sich in Bewegung und war im Begriff zu Fuß zum Südturm zu gehen, besann sich schließlich anders und fuhr mit dem Wagen bis zur Portierhütte am Fuß des Turmes. Robert nahm den Eingang genauer unter die Lupe. Er glaubte nicht wirklich, dass er unversperrt war, versuchte aber trotzdem ihn zu öffnen.

Geschlossen! Habe nichts anderes erwartet. Zwei Einbrüche an einem Tag. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals in eine solche Lage geraten könnte.

Er holte Hammer und Meißel aus dem Auto und machte sich damit am Schloss zu schaffen. Im Gegensatz zur Eingangstür des Waffengeschäftes ließ sich diese beinahe mühelos aufbrechen.

„Schön langsam habe ich den Bogen heraus!“ Seine eigene Stimme ließ ihn zusammenzucken.

Er gelangte in einen Vorraum, der an der gegenüberliegenden Seite in zwei weiteren Türen endete. An der rechten Wand befand sich ein Fenster, und ein Blick hinein bestätigte seine Vermutung, dass er dahinter die Schlüssel zu den weiteren, noch vor ihm liegenden, Schlössern finden würde. Diese Barriere war kein Problem. Schon beim zweiten Schlag mit dem Hammer gab das Holz berstend nach. Robert betrat den Raum und brauchte nicht lange zu suchen. Direkt neben dem Türrahmen war ein Bord angebracht, auf dem einige Schlüssel hingen. Sein Hauptaugenmerk galt einem Schlüsselbund, auf dessen Anhänger Turm geschrieben stand. Er nahm ihn vom Haken und wollte den Raum gerade wieder verlassen, als ihm ein anderer Schlüssel auffiel, der etwas abseits von den anderen hing. Er drehte die Plakette um. „Turmstüberl“ stand darauf.

„Du kommst besser auch mit“, murmelte er.

Robert verließ den Kassenraum und kehrte zu seinem Auto zurück. Die Schlüssel verstaute er in seiner Hosentasche. Er öffnete die Beifahrertür, und betrachtete den Haufen Schachteln.

Im Handschuhfach müsste ein Plastiksack sein!

Er öffnete die Klappe, um nachzusehen, und fand, wonach er gesucht hatte. Er schüttelte die Einkaufstüte auf und begann die Schachteln mit der Leuchtmunition hineinzuschaufeln. Zuletzt warf er die Leuchtpistole hinein. Hammer und Meißel verstaute er wieder im Werkzeugkasten. Nach einem prüfenden Rundblick verschwand er im Turmhäuschen. Er durchquerte den Vorraum und rüttelte an der Tür, die er noch nicht aufgebrochen hatte. Wie erwartet war auch diese versperrt. Er holte den Schlüsselbund aus der Hosentasche und schloss sie auf. Er musste etwa ein Dutzend Stufen hinaufsteigen, bis er wieder vor einer verschlossenen Tür stand. Dahinter begann der spiralförmige Aufstieg in den Turm. Direkt neben dem Eingang befand sich zwar ein kleines vergittertes Fenster, doch schon ein paar Stufen oberhalb konnte Robert kaum mehr die Umrisse der Treppen wahrnehmen.

In der Hölle könnte es nicht dunkler sein. Ich muss zurück, meine Taschenlampe holen. Wie konnte ich sie nur vergessen! Wenn ich so weitermache, dann bin ich frühestens um Mitternacht oben!

Fluchend rannte er zum Auto und entnahm dem Handschuhfach das Leuchtmittel. Zurück, im Treppengang, knipste er die Taschenlampe an, die zu Beginn flackerte. Robert sah sich schon Batterien besorgen und schüttelte sie ungeduldig, doch der Kegel spendete zu seiner Erleichterung nach wenigen Sekunden gleichmäßiges Licht.

Er begann seinen Aufstieg. Der Südturm war 137 Meter hoch, doch zum Glück musste Robert nicht ganz hinauf. Das Turmstüberl lag etwas unterhalb der Spitze. Es handelte sich dabei um einen Raum, von dem aus man einen ziemlich guten Überblick über die Stadt hatte. Große Fenster an jeder Seite erlaubten an schönen Tagen mit guter Fernsicht, dass man weit über die Stadtgrenzen hinaus sehen konnte, und zwar in allen vier Himmelsrichtungen. Immer wenn er an einer der schießschartenförmigen Öffnungen vorbeikam, was nach seinem Geschmack ruhig etwas öfter vorkommen hätte können, legte er eine kurze Pause ein, um einen Blick ins Freie zu werfen. Dabei wunderte er sich, wie schnell er vorwärts kam. Auf halber Höhe gelangte er ins frühere Glockengewölbe, das ebenfalls verriegelt war. Der dritte Schlüssel, den er probierte, passte.

Er durchquerte das Gewölbe und stand neuerlich vor einer abgesperrten Tür.

Was haben die dort oben Wertvolles gelagert? Unglaublich, wie viele Hindernisse man erst überwinden muss, um ins Stüberl zu gelangen.

Dieses Mal erwischte er den richtigen Schlüssel sofort. Nach einer weiteren Minute Aufstieg fiel der Lichtkegel der Taschenlampe auf das letzte Hindernis, das er vor sich hatte, den Eingang zum Turmstüberl. Er nahm nun den Extraschlüssel aus der Hosentasche und schickte ein Stoßgebet in den Himmel.

„Bitte mach’, dass der Schlüssel passt, sonst drehe ich auf der Stelle durch!“

Er passte! Robert trat ein. Die gleißende Helligkeit, die den Raum durchflutete, erfüllte ihn mit Ehrfurcht. Die Sonnenstrahlen drangen mit einer leichten Neigung durch das Südfenster in das Innere. Er sah die Staubpartikel entlang der Sonnenstrahlen tanzen, die er beim Eintreten aufgewirbelt hatte.

Robert fühlte sich für diesen kurzen Augenblick ins Mittelalter zurückversetzt. Er konnte fast die schwitzenden Arbeiter sehen, die sich beeilten den Turm fertigzustellen, während der Baumeister prüfend über den Plänen stand, um diese zu studieren. Dann tauchte der Verkaufsbereich in der Mitte des Raumes auf und nahm konkretere Gestalt an. Er umrundete die Kabine mit den Scheiben, an denen unzählige Ansichtskarten und vielerlei andere Souvenirs ausgestellt waren.

Robert interessierte sich nur am Rande für die Einrichtung. Seine Aufmerksamkeit galt dem Westfenster, zu dem er sich nun begab. Er öffnete einen der Seitenflügel und blickte in die Tiefe. Weit unter ihm lag der Stephansplatz. Er ließ den Blick über die Dächer von Wien streifen und stellte erstaunt fest, dass die Dunstglocke, die üblicherweise über der Stadt hing, heute nicht vorhanden war.

Logisch, ohne Abgase gibt es auch keine Smogbildung!

Die Stadt erstreckte sich zu seinen Füßen wie ein Gemälde. Dieselbe Bewegungslosigkeit und Stille gingen davon aus.

Als ob sie auf etwas warten würde.

Er griff ihn den Plastiksack und holte die angebrochene Packung Leuchtmunition und die Pistole heraus. Das Laden der Pistole erwies sich als unkompliziert.

Dann geben wir der Stadt das, worauf sie wartet ... ein Lebenszeichen!

Er betätigte den Abzug. Lud nach. Drückte nochmals ab. Die Leuchtkugeln stiegen weit über die Dächer der Stadt hinaus. Mit der Windrichtung abgefeuert, waren sie weithin sichtbar. Das war, was er gewollt hatte. Ein Zeichen, das man bemerken musste, wenn man sich in der Stadt aufhielt. Wenn man nicht blind, taub oder beides war.

Oder zu betrunken wie Richard Formann, der von alledem nichts mitbekam.

Oder zu ängstlich wie Lisa, die das Feuerwerk zwar hörte - sie wohnte immerhin im 4. Bezirk, der an das Zentrum angrenzte, also nicht allzu weit vom Stephansdom entfernt - aber sie konnte nicht wissen, was es mit diesen Schüssen auf sich hatte. Sie ging ans Fenster und sah hinaus, wusste dieses periodische Geräusch sehr wohl als Beweis zu deuten, dass sie nicht ganz so allein war, wie ursprünglich angenommen, war sich aber nicht sicher, ob sich diese Entwicklung für sie persönlich als positiv oder negativ herausstellen würde. Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass es ratsamer war, in Zukunft vorsichtig zu sein und nicht überstürzt zu handeln. Immerhin war sie eine Frau. Eine verdammt hübsche noch dazu! Aber auf sich allein angewiesen! Sie beschloss die weiteren Entwicklungen abzuwarten.

11.

Karl Brehm stellte das Foto seiner Familie, das er in der letzten Stunde nicht aus der Hand gegeben hatte, auf dem Couchtisch ab. Seit er zuhause angekommen war, versuchte er irgendwie zu verarbeiten, dass seine Frau und die Kinder das gleiche Schicksal ereilt hatte wie der Rest der Welt.

Er dachte schon, er hätte sich verhört, doch als der Knall, der wie ein Schuss klang, ein zweites Mal ertönte, sprang er, so rasch wie es sein Übergewicht erlaubte, vom Armsessel hoch und lief ans Fenster. Er spähte hinaus und wartete.

Päng! Da war er wieder.

Das ist kein Donner! ... Das ist ein Schuss! Päng.

Die Signale klangen sehr schwach, als ob diese von weit entfernt abgegeben würden, doch aufgrund der fehlenden Hintergrundgeräusche waren sie gut zu hören. Karl war sicher, dass die Schüsse, oder was auch immer, von der anderen Seite des Hauses kamen.

Ich wusste es! Ich bin nicht ganz allein! Wer auch immer ... Ich muss mich beeilen!

Aufgeregt stürzte er aus der Wohnung, hinunter auf die Straße, wo er den Bus in zweiter Spur geparkt hatte.

Päng. Karl drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der der Knall seiner Meinung nach gekommen war.

Das kommt aus dem Zentrum! Wer auch immer diesen Krawall veranstaltet, befindet sich dort! Also, nichts wie los!

Er setzte sich mit erstaunlicher Beweglichkeit in Bewegung, zwängte seinen hundertdrei Kilogramm schweren Körper in den Bus und startete denselben. Er fuhr los, obwohl er gar nicht wirklich wusste, woher genau dieses Signal abgegeben wurde. Intuitiv lenkte er das Fahrzeug in Richtung Stephansplatz.

Karl beobachtete durch die Frontscheibe eine rote Leuchtkugel, die beim Dom kerzengerade in die Höhe stieg, bis die Aufwärtsbewegung hoch über den Dächern der umliegenden Häuser stoppte. Dann wurde der Feuerball von einer Windbö erfasst und nach Südosten in seine Richtung davongetragen, bis er schließlich erlosch. Karl kannte nun den Ursprung des Signals.

Er lenkte den Bus weiter und drückte die Hupe, um zu signalisieren, dass er das Zeichen gesehen hatte und im Anmarsch war. Für kurze Zeit vergaß er seine momentane Situation völlig. Noch vor zehn Minuten, als er mit dem Foto seiner Familie in der Hand auf dem Bett gesessen war, hatte er mit dem Gedanken gespielt, seinem Leben ein Ende zu setzen, doch so schnell konnten Leid und Freud die Positionen wechseln. Es handelte sich nur um Signalpatronen, doch sie waren ein Zeichen. Zum richtigen Zeitpunkt! Einen besseren konnte er sich gar nicht vorstellen. Gab es überhaupt einen richtigen Zeitpunkt? Wenn ja, dann war dies definitiv einer.

Beinahe trunken vor Freude bog er in die Rotenturmstraße ein, die ihn direkt zum Stephansdom führen würde. Er war zwar den ganzen Weg über schon verkehrswidrig unterwegs gewesen, doch wen kümmerte es? Ihn ganz sicher nicht!

Er hupte wieder und wieder, betätigte das Signalhorn auch, als er von der Straße herunter in die Fußgängerzone vor der Kirche rollte. Er hatte die Geschwindigkeit ein wenig gedrosselt, um niemanden mit seinem Bus über den Haufen zu fahren. Irgendwie hatte er damit gerechnet, auf eine größere Ansammlung von Menschen zu stoßen, doch seine Hoffnungen schwanden, als der Platz vor der Kirche sich ihm in gähnender Leere präsentierte.

12.

Robert hatte die erste Schachtel Leuchtmunition aufgebraucht, als er dachte, er hätte ein anderes Geräusch gehört als den pfeifenden Wind, der um den Turm strich.

Das hast du dir eingebildet, das war nur der Wind. Wenn man unbedingt etwas hören will, dann kann man sich alles Mögliche einbilden.

Doch dann hörte er es wieder. Es klang wie ...

... eine Autohupe! Verdammt will ich sein, wenn das keine Hupe war.

Er lehnte seinen Oberkörper weit aus dem Fenster, um besser hören zu können. Obwohl der Wind nun lauter pfiff, konnte er erneut das Signal vernehmen.

Jaaa ...

Aufgeregt nahm er seinen Oberkörper wieder zum Fenster herein, um nachzuladen. Dabei stieß er sich den Ellenbogen derart heftig am Fensterrahmen, dass ihm der lähmende Schmerz die Hand öffnete, in der er die Leuchtpistole festgehalten hatte. Den Rest tat die Schwerkraft. Mit vor Schmerzen tränenden Augen verfolgte er ungläubig die Flugbahn der Signalwaffe, die sie direkt auf den Stephansplatz hinunter beförderte, der sich tief unter ihm erstreckte.

Neiiin ...

Mit einem lauten Knacken, das er selbst so weit oben sehr deutlich vernehmen konnte, landete die Leuchtpistole auf dem Pflaster, zersprang in zwei Teile, wovon der eine nach dem Aufprall wieder einige Meter in die Höhe zurückkatapultiert wurde und der andere in waagrechter Linie am Boden entlang davonschlitterte. Sekundenbruchteile später registrierte er das Brummen eines Motors, das anschwoll und wieder abnahm. Tatenlos musste er mit ansehen, wie ein Reisebus im Schneckentempo den Platz zu seinen Füßen überquerte und schließlich mit dem Heck in seiner Richtung stehen blieb. Der Bus stand nun mit laufendem Motor direkt an der Stelle, wo der Graben vom Stephansplatz wegführend begann.

Robert stand seinerseits an der Maueröffnung und beobachtete den Bus, der seine Hoffnungen bestätigte, dass er nicht allein auf der Welt zurückgeblieben war. Als sich seine Lähmung allmählich zu lösen begann, wusste er im ersten Augenblick gar nicht, ob er sich nun darüber freuen sollte, dass seine Aktion erfolgreich gewesen war, oder ob er das Schicksal verfluchen sollte, das ihm einen derart grausamen Streich spielte. Da hatte er es endlich geschafft, mit einem anderen menschlichen Wesen Kontakt aufzunehmen, doch ausgerechnet in dem Moment, in dem es am meisten darauf ankam, war er unfähig sich bemerkbar zu machen.

Wenn ich runter laufe, dann ist er vermutlich weg, bevor ich ihn erreiche. Andererseits, wenn ich hier untätig herumstehe, dann ist das auch nicht gerade sinnvoll. Was soll ich machen? Nichts bringt mich wirklich weiter!

Robert drehte sich um. Verzweifelt versuchte er etwas im Raum zu entdecken, das er aus dem Fenster werfen konnte. Der Gegenstand musste groß genug sein, um aufzufallen. Er drehte eine Ehrenrunde um den Verkaufsstand, doch das Turmstüberl war leergefegt von beweglichem Gut. So kam er mit leeren Händen wieder zum Fenster zurück und lehnte sich hinaus. Unten stand der Bus. Zum Greifen nahe und doch so weit entfernt! Immer noch mit laufendem Motor.

„Hier bin ich!“, schrie er, „Hiiier oooben!“

Er beobachtete, wie ein korpulenter Mann aus dem Gefährt stieg und nach links und rechts blickte. Offensichtlich war er auf der Suche nach ihm.

„Hallooo, hiiier bin ich!“, rief er wieder, doch gegen den laufenden Motor des Busses hatte Robert nicht die geringste Chance. Zumal der Fahrer keine Anstalten machte sich vom Bus ein Stückchen zu entfernen.

Wie kann man nur so dämlich sein und den Motor laufen lassen? ... Wie kann man nur so dämlich sein und diese gottverdammte Leuchtpistole fallen lassen!

Der Mann, nicht größer als eine Ameise, verschwand hinter der Front des Miniatur - Busses.

„Mach endlich den Motor aus und schau herauf!“

Plötzlich hatte er eine Idee. Robert zog sein Hemd aus und stopfte, auf dem Boden kniend, die Schachteln mit der Leuchtmunition hinein. Die Hemdsärmel wickelte er rundherum und verknotete sie. Das Zippo von Fred rutschte aus der Hemdtasche und fiel polternd auf den Holzfußboden.

Ja! Genau dich brauche ich jetzt! Ich veranstalte das größte Feuerwerk, das der Typ da unten jemals gesehen hat!

Robert griff in die Brusttasche, zog die Packung Camel heraus, hob das Feuerzeug vom Boden auf und erhob sich wieder. Der Fahrer war immer noch nicht zu sehen.

Wo ist er? ... Schon eingestiegen ... oder noch hinter dem Bus? Egal, das kann er nicht überhören.

Robert kontrollierte den Knoten, zog ihn sicherheitshalber nochmals fest und klappte den Deckel des Feuerzeuges auf. Er hielt einen Zipfel des Hemdes darüber und setzte ihn in Brand. Zuerst wollte der Stoff nicht so richtig Feuer fangen, doch nach ein paar Sekunden züngelten die Flammen am Ärmel empor.

Unten ertönte die Hupe des Busses.

„Ja, ja, hup du nur, gleich werden dir die Leuchtkugeln um die Ohren fliegen!“

Als die Flammen den Teil des Hemdes erreicht hatten, der um die Schachteln gewickelt war, schwang Robert seinen Arm wie ein Bowlingspieler und warf das brennende Bündel beim Fenster hinaus. Im gleichen Augenblick gab der Fahrer des Busses, der offensichtlich doch eingestiegen war, während Robert seine Bombe gebaut hatte, Gas. Der Bus unten am Platz fuhr weiter, den Graben entlang.

Spitzentiming, dachte Robert, aber das macht nichts, wenn sich die Patronen entzünden, dann merkt er es garantiert!

Robert sah der improvisierten Fackel nach. Sie brannte nun lichterloh.

Sieht aus wie ein Meteorit, der beim Eintritt in die Erdatmosphäre verglüht!

Der Meteorit prallte am Stephansplatz auf. Das einmal ein Hemd gewesene Bündel platzte auf, und die Munitionsschachteln flogen in allen Richtungen davon.

Das war’s? Das soll schon alles gewesen sein?

Das war’s! Es erfolgten keine Explosionen, keine Leuchtkugeln, die in alle Richtung flogen, und auch kein infernales Feuerwerk, das die Aufmerksamkeit des Busfahrers auf Robert gelenkt hätte. Er glotzte auf den Platz hinunter, auf dem die Schachteln nun gemeinsam mit den Resten der Leuchtpistole verstreut lagen und musste hilflos mit ansehen, wie keine hundert Meter von der Stelle entfernt der Bus aus dem Blickfeld verschwand, wo der Graben eine leichte Rechtskurve beschrieb. In diesem Augenblick war ihm zum Heulen zumute.

Reiß dich zusammen, noch ist nichts verloren! Der Bus kann nicht weit kommen. Er wird höchstwahrscheinlich umkehren, wenn er weiter vorne nicht fündig wird. ... Das ist deine Chance!

Robert nahm die Zigarettenschachtel und das Benzinfeuerzeug vom Fensterbrett und steckte beides in die Hosentasche. Dann hob er die Taschenlampe vom Boden auf und rannte zum Ausgang.

Der Abstieg dauerte nur halb so lang wie der Aufstieg. Er musste vorsichtig sein, da die Treppen ziemlich schmal waren und steil abfielen. Er wollte auf keinen Fall stürzen. Das Letzte, was er riskieren durfte, war eine Verletzung, die ihn behindern konnte. Jedenfalls solange er nicht wusste, was geschehen war und wie es um die ärztliche Versorgung stand.

Robert erreichte seinen Wagen und stieg ein. Er startete und fuhr etwa zwanzig Meter weit, bis zu der Stelle, an der die Trümmer seines fehlgeschlagenen Experiments lagen. Er stieg aus dem Wagen, sammelte eilig alle Schachteln und herumliegenden Patronen ein, denn einige der Verpackungen waren angesengt und aufgeplatzt, und schaufelte alles durch die offene Beifahrertür ins Wageninnere.

Von dem Zeitpunkt, als der Bus verschwunden war, bis zu dem, als Robert wieder am Steuer seines Wagens saß, die Verfolgung aufnahm und dabei die Reste seines verkohlten Hemdes mit den linken Vorderreifen überrollte, waren höchstens fünf Minuten vergangen. Mit nacktem Oberkörper, der vor Schweiß glänzte, lenkte er das Auto den Graben entlang bis zum Tuchlauben. Dort hielt er an, kurbelte das Fenster herunter und stellte den Motor ab. Er versuchte sich auf das Brummen eines Busmotors zu konzentrieren, konnte jedoch nichts hören. Robert stieg aus und lauschte mit angehaltenem Atem und geschlossenen Augen. Nichts. Kein Laut.

„Wo bist du?“, flüsterte er. Verdammt, was mach ich jetzt? ... Ich hole mir einfach eine neue Leuchtpistole!

Er wendete den Wagen und fuhr zum Waffengeschäft zurück. Er konnte sich noch erinnern, dass in einer der Laden, die er bei seiner Suche nach der Munition geöffnet hatte, das gleiche Modell der Pistole lag, die nun zweigeteilt auf dem Pflaster ruhte. Er konnte sich sogar noch an die genaue Position des guten Stücks erinnern. Robert betrat das Geschäft, umrundete den Ladentisch und steuerte direkt auf die besagte Lade zu. Er öffnete sie...

... Bingo! Komm zu Papa!

Eilig verließ er das Geschäft. Er hielt kurz inne, als er davor stand, drehte sich um, blickte in die Auslage und überlegte angestrengt, ob er möglicherweise noch irgendetwas anderes benötigen würde, was sich in diesem Geschäft befand.

Wenn ich etwas brauche, dann kann ich jederzeit hierher zurückkommen.

Er stieg wieder in den Wagen, lehnte sich im Sitz zurück und fasste die Ereignisse des Tages kurz zusammen. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er noch nichts zu sich genommen hatte, und als er jetzt im aufgeheizten Auto saß, dämmerte ihm, dass er noch andere Bedürfnisse hatte, wie zum Beispiel Hunger und Durst ... oder ein frisches Hemd.

13.

Karl dachte, dass er sich geirrt haben musste. Die Stelle, von der die Signale abgegeben worden waren, konnte natürlich auch weit hinter dem Stephansdom liegen. Am Stephansplatz und am Graben hatte er jedenfalls niemanden angetroffen. Er bog links in den Kohlmarkt ein, der nach zirka hundert Metern in den Michaelaplatz überging, hinter dem sich die Hofburg erstreckte. Er lenkte den Bus um die Hofburg herum und erreichte schließlich die Ringstraße.

Weil keine weiteren Signale abgegeben wurden, fuhr er den Ring entlang und hielt ab und zu an strategisch wichtigen Stellen an, um nach den Signalgebern zu suchen. Diese Orte waren nicht nur weitläufig und daher übersichtlich, sondern unter normalen Umständen auch wichtige Verkehrsknotenpunkte, oder Plätze, an denen oft Veranstaltungen stattfanden - jedenfalls waren dort üblicherweise eine Menge Menschen unterwegs. Doch heute war niemand auf den sonst so belebten Straßen und Plätzen im Herzen Wiens unterwegs. Nur Karl in seinem Bus und der Wind, der herrenlosen Unrat vor sich hertrieb wie Windhexen, die in alten Kinofilmen durchs Bild huschten. In Filmen in denen Szenen von Geisterstädten vorkamen.

Einbildung! ... Vielleicht waren die Leuchtkugeln gar nicht real. ... Eine Wunschvorstellung oder Halluzination. Mein Gott, ich glaube, ich verliere bald den Verstand.

Karl fuhr noch bis zum Sonnenuntergang durch die verlassene Stadt, bis zu dem Zeitpunkt als der Bus ruckelnd stehen blieb. Der Tank war bis zum letzten Tropfen geleert. Er hatte in der Aufregung vergessen, die Tankanzeige im Auge zu behalten. Als er eilenden Schrittes heimkam, war es in der Zwischenzeit stockdunkel geworden.

Die Stadt hatte ein neues Gesicht bekommen. Ein dunkles, ein unheimliches Gesicht, das furchteinflößender war als untertags. Das einzige Licht, das ihn an den letzten Häuserblocks vorbei nach Hause geleitete, war das des abnehmenden Mondes - schwach und unzureichend und zeitweise von Wolken verhangen. Er lernte eine neue Facette seiner Ängste kennen. Es war nun schon die Zweite des heutigen Tages. Zuerst war die Sorge um seine Familie und deren Verbleib aufgetaucht. Nun war es die Angst um sein eigenes Schicksal, die sich tief in sein Bewusstsein bohrte. Intensiviert wurde dieses schreckliche Gefühl durch die beinahe vollkommene Dunkelheit, die sich nach und nach über die Stadt gelegt hatte wie ein überdimensionales schwarzes Leichentuch. Das Leichentuch einer toten Stadt.

Einer verlassenen Stadt.

Einer Geisterstadt.

Allein

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