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3 Die erste Nacht

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1.

Lisa hatte den ganzen Nachmittag damit zugebracht, eine Erklärung für den Schlamassel zu finden, in dem sie sich befand. Doch je länger sie darüber grübelte, was mit ihr geschehen war, desto fantastischer wurden ihre Überlegungen. Keine kam ihr realistisch oder logisch genug vor, um sie akzeptieren zu können.

Sie war knapp davor überzuschnappen. Einmal begann sie wie irre zu kichern, dann verfiel sie in Weinkrämpfe. Als sie sich wieder beruhigt hatte, nahm sie einen Block und einen Bleistift zur Hand und begann eine Liste zu schreiben.

Sie hatte beschlossen mit ihrem Fahrrad - sie besaß weder ein Auto noch einen Führerschein - zu ihren Eltern nach Kärnten zu fahren, um die Lage in ihrer ehemaligen Heimatgemeinde zu peilen. Sollte sie dort auch keine Menschen antreffen, dann konnte sie immer noch überlegen, wie es weitergehen sollte. Ob sie nun hier in der Großstadt diese Katastrophe ausstand oder auf dem Land, erschien ihr nach längeren Überlegungen keinen großen Unterschied auszumachen. So würde sie sich wenigstens Gewissheit verschaffen, wie es um ihre Familie stand. Untätig herumzusitzen und zu warten, bis sich die Situation von allein verbessern würde, das kam für sie auf Dauer jedenfalls nicht in Frage.

Die Fahrt, dessen war sie sich absolut bewusst, würde ziemlich beschwerlich werden, denn sie musste das halbe Land durchqueren. Und noch dazu bei dieser Affenhitze! Sie plante für die Reise drei Tage ein. Das war einigermaßen großzügig geschätzt, doch ihr Tagespensum hing nicht nur von ihrer Kondition allein, sondern auch von diversen anderen Begebenheiten ab, die sie im Vorhinein schwer abschätzen konnte. Immerhin hatte sie noch nie eine Strecke dieser Größenordnung, im Fahrradsattel sitzend, bewältigt.

Gerade in dem Augenblick, als sie die Liste der Dinge fertiggestellt hatte, die sie auf ihre Reise mitnehmen wollte, begann der Krawall, der sich anhörte wie Schüsse, die von einer Waffe abgegeben wurden. Schüsse, ich bin nicht allein, hatte sie gedacht und sich gefreut - jedenfalls für einen kurzen Moment.

Dann war sie unsicher geworden, ob dies als ein gutes oder weniger gutes Omen zu deuten wäre. Immerhin waren Schutz und Sicherheit, die die Großstadt normalerweise boten, im Augenblick nicht vorhanden. Wie es aussah, war Lisa auf sich allein gestellt und konnte unmöglich wissen, ob hinter diesem Lärm nicht auch Menschen mit üblem Ansinnen steckten. Wer garantierte ihr, dass es rechtschaffene Leute waren, die in der Gegend herumballerten? Obwohl sie zugeben musste, dass die Schüsse zu periodisch klangen, um bloß als wilde Schießerei abgetan werden zu können. Sie machten einen einigermaßen koordinierten Eindruck, sodass sie durchaus als Signal aufgefasst werden konnten.

Dieses Lebenszeichen anderer Menschen hatte natürlich ihre Pläne, das Reiseziel betreffend, durchkreuzt. Lisa spekulierte nun mit der Möglichkeit, anstelle der beschwerlichen Landpartie die Stadt mit dem Rad zu erkunden, doch sie wollte nicht sofort und ohne Plan losfahren. Sie wollte erst in Ruhe darüber nachdenken, wie sie es am besten anstellen konnte, ohne Gefahr zu laufen, in eine Falle zu tappen. Besondere Zeiten erforderten eben besondere Vorsichts-Maßnahmen. Kurz vor fünf Uhr waren die Schüsse verklungen. Lisa war noch etwa zehn Minuten an einem der beiden Wohnzimmerfenster gesessen und hatte gelauscht, ob sie wieder beginnen würden.

Sie trennte den Zettel mit den aufgelisteten Reiseutensilien vom Block ab und begann eine neue Liste mit Dingen, die sie für ihre Erkundungsfahrt durch die Stadt brauchen würde, anzufertigen. Die erste Version warf sie nicht in den Papierkorb, sondern heftete diese an die Pinnwand über ihrem Schreibtisch, denn sie konnte ja nicht wissen, ob sie die Auflistung nicht doch noch irgendwann benötigen würde. Aufgeschoben war bekanntlich nicht gleich aufgehoben.

Als Lisa die neue Liste fertiggestellt hatte, las sie diese nochmals durch und fügte hier und dort etwas hinzu. Dann erhob sie sich von ihrem Schreibtisch, um die Dinge zusammenzutragen. Sie ordnete die Sachen auf dem Esstisch an, der innerhalb kürzester Zeit vollständig bedeckt war.

Dort reihten sich folgende Sachen aneinander: Ein Ersatzschlauch für die Fahrradreifen, Flickzeug für dieselben, ein Schraubenzieherset, eine verstellbare Zange, eine Stabtaschenlampe mit zwei Batterien, die sie selbstverständlich auf ihre Funktionstüchtigkeit kontrolliert hatte, eine Straßenkarte von Wien, ein Kompass, Schreibzeug, bestehend aus einem Block im Format A5 und zwei Kugelschreibern, ein dünner Regenponcho, der zusammengeknüllt in einem Kunststoffsack steckte und nicht mehr Platz brauchte als drei Paar Socken, ein dünner Pullover, falls es abends abkühlen sollte und ein Schweizer Taschenmesser. Des weiteren lagen auf dem Tisch noch eine Rolle Spagat, eine Trinkwasserflasche, ein Feuerzeug, Streichhölzer, eine Trillerpfeife, Sonnencreme, ihre Sonnenbrille, ein Schweißband für die Stirn, ein mit Brot, Käse, Obst und Gemüse gefülltes Tupperware, eine Packung Taschentücher, Verbandszeug in einem Necessaire und zuletzt ein langes Fleischmesser, für das sie eine Scheide aus Zeitungspapier und Klebestreifen bastelte. Sie hoffte, dass ihre Waffe nie zum Einsatz kommen würde, doch Vorsicht war bekanntlich schon immer besser als Nachsicht gewesen.

Lisa fühlte sich für kurze Zeit in ihre Kindheit zurückversetzt, in der sie einige Jahre bei den Pfadfindern war. Damals hatte sie auch, mit einer Liste und einer Packordnung ausgestattet, die diversen Utensilien zusammengetragen, auf dem Zettel abgehakt und danach in den Rucksack gestopft. ... Von wegen Packordnung!

Der Rucksack war kaum zugegangen, da sie stets viel zu viel mitnehmen wollte. Dann wurde sie immer vor die Entscheidung gestellt, auf irgendetwas zu verzichten. Den dicken Pullover? Niemals, denn sie gehörte zu der Kategorie, der stets Erfrorenen! Wenn die Pfadfindergruppe bis spät in der Nacht um das Lagerfeuer herumsaß und Lieder trällerte, oder wenn Lisa in der Früh aufstand, und die Wiese noch feucht vom Morgentau war, dann war die Zeit des dicken Pullovers gekommen. Auch von den Naschereien wollte sie sich nicht trennen, denn wenn man fast zwei Wochen in einem Sommerlager verbrachte, dann waren Süßigkeiten überlebensnotwendig. Da ließ sie schon eher das eine oder andere Paar Socken oder ein T-Shirt zuhause.

Im Vergleich zum Pfadfinderrucksack, der damals beinahe so groß gewesen war wie sie selbst, war ihr gewöhnlicher Alltagsrucksack, den sie nun mitzunehmen gedachte, ein Zwerg. Er war aus blau weiß-kariertem Stoff und bestand aus einem Hauptfach und zwei kleinen Außentaschen, in die nicht gerade viel hineinpasste, aber er erfüllte wenigstens den Zweck, dass sie ihn auf dem Rücken tragen konnte, und dass alle Dinge, die sie vorbereitet hatte, hineinpassten.

Sie hatte ihn so gepackt, dass der dünne Pullover eine weiche Polsterung für ihr Rückgrat bildete und der Griff des Fleischmessers knapp hinter ihrem rechten Ohr herausragte, sodass sie im Verteidigungsfall leichten Zugriff auf die Waffe hatte, ohne erst umständlich den Rucksack vom Rücken nehmen und aufbinden zu müssen.

Komm her, Kleine, ich dreh’ dir deinen hübschen kleinen Hals um und reiß dir den Schädel ab! ... Moment, Herr Gewaltverbrecher, ich hole nur mal schnell mein Messer aus dem Rucksack! … Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir so ein Spinner die nötige Zeit nicht gibt, um Maßnahmen zur Selbstverteidigung zu treffen.

Lisa betrachtete zufrieden den Rucksack und stellte ihn auf den Vorzimmerboden neben die Wohnungstür. Die Sonnenbrille, das Stirnband, die Trillerpfeife und die Taschenlampe, sowie das Schweizer Armeemesser reihte sie neben den Schlüsselbund auf das Vorzimmerschränkchen. Diese Sachen wollte sie in die Hosentasche stecken oder an sich tragen. Die Taschenlampe brauchte sie am nächsten Tag in der Früh als erstes, wenn sie den finsteren Gang durchqueren und das Stiegenhaus hinabsteigen würde. Die Trinkwasserflasche trug Lisa in die Küche und stellte sie neben das Abwaschbecken. Sie würde diese erst kurz vor dem Aufbruch mit frischem Leitungswasser befüllen. Sie konnte den Geschmack nach Kunststoff, den das Wasser nach einiger Zeit annahm, nicht ausstehen. Lisa schlurfte zum Küchenfenster und blickte in den Hof hinaus. Die Westseite des Hauses schräg gegenüber auf der anderen Seite der Kastanienbäume schimmerte rötlich golden und die Fensterscheiben reflektierten die schwächer werdenden Strahlen der untergehenden Sonne.

Dieser Tag ist unglaublich schnell vergangen, resümierte sie, nun ja immerhin habe ich den ganzen Vormittag verschlafen, ... und dann meine Ohnmacht. ... Ich weiß gar nicht, wie lang sie eigentlich gedauert hat. Wenn ich bedenke, wie kopflos ich zu Beginn agiert habe, nachdem ich realisiert hatte, was geschehen war. Und wie dumm meine erste Reaktion war. Ich bin froh, dass niemand Zeuge meiner Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit geworden ist. Ich habe immer geglaubt, dass ich anders in Extremsituationen reagieren würde, ... besser, überlegter und kühler, aber wer hätte gedacht, dass ich je in eine solche Situation geraten könnte? Eigentlich kommt mir das alles noch immer ziemlich absurd und unwirklich vor. Ich denke, dass ich noch ein bisschen Zeit brauchen werde, bis ich das volle Ausmaß der Situation, in der ich mich momentan befinde, begreifen werde

Lisa schloss das Küchenfenster, um es gleich darauf zu kippen. Es widerstrebte ihr ein Fenster über Nacht ganz geöffnet zu halten, denn der Wind konnte es auf und zu schlagen, dann wäre sie gezwungen, mitten in der Nacht aufzustehen, um es zu schließen. Sie erwartete ein ähnlich schwüles Wetter, wie in der Nacht zuvor. Vor allem aber eine stille und besonders dunkle Nacht. Lisa verließ die Küche in Richtung Abstellkammer, um nach Kerzen zu suchen. Sie fand in einem Schuhkarton vier Stück längliche, blaue Kerzen und eine dicke bunte, die sie von ihren Eltern zu Weihnachten bekommen hatte. Die dünnen Stangen deponierte sie auf dem Wohnzimmertisch und trug die große Kerze ins Schlafzimmer. Sie schob einen Teller unter die Kerze, legte eine Streichholzschachtel darauf und stellte das Arrangement vor den überflüssigen Radiowecker ab. Dann begab sie sich wieder ins Wohnzimmer, wo sie zwei der blauen Kerzen in je einen gläsernen Doppel-Kerzenständer steckte.

Wie zu Omas Zeiten, dachte sie und lächelte, als sie das Gesicht ihrer Großmutter vor Augen hatte. Lisa kramte aus einer der Laden in der Wohnzimmerkommode ein Päckchen Spielkarten heraus, mischte sie durch und arrangierte die Karten für eine Partie Solitär. Während es draußen und auch im Inneren der Wohnung von Minute zu Minute dunkler wurde, spielte Lisa eine Partie nach der anderen, ohne zu bemerken, wie die Zeit verflog. Als die Lichtverhältnisse für ihre Augen zu anstrengend wurden, zündete sie die Kerzen an, gönnte sich ein Glas Haltbarmilch und spielte weiter. Irgendwann merkte sie, wie ihr die Augenlider zufielen und sie plötzlich in einen Sekundenschlaf fiel. Sie riss ihren Kopf, der nach unten gesackt war, wieder in die Höhe und rieb gähnend ihre müden Augen. Sie blies die Kerzen des einen Kerzenständers aus und nahm den anderen mit ins Badezimmer. Dort putzte sie im Eiltempo ihre Zähne, um möglichst schnell ins Bett zu gelangen. Nur fünf Minuten später versank ihr Kopf im daunenweichen Kopfpolster. Noch bevor sie richtig entspannen konnte, war Lisa schon eingeschlafen.

2.

Die Hitze des Tages hatte ihn ausgetrocknet. Ohne es recht zu merken, hatte er seinen Körper an die Grenze der Belastbarkeit geführt. Zwölf ereignisreiche und auch anstrengende Stunden waren vergangen, bevor der erste Schluck Wasser seine Kehle hinunterrann. Sein Innerstes fühlte sich an, wie mit Löschpapier ausgekleidet, das die Flüssigkeit gierig aufsaugte.

Nachdem er seinen Durst gelöscht hatte, stillte er seinen Hunger mit den Resten aus dem Kühlschrank. Eigentlich hatte er vorgehabt, für das Wochenende einige Lebensmittel einzukaufen, doch der Tagesablauf hatte auf Grund der aktuellen Ereignisse einen anderen Verlauf genommen. Bestürzt musste er feststellen, dass er für den Fall einer Katastrophe, bei der man sein Zuhause nicht verlassen konnte, keinerlei Vorkehrungen getroffen hatte. Ohne Trinkwasser hätte er wahrscheinlich keine vier Tage überleben können. Wenn er nicht verdurstet wäre, hätte ihn wahrscheinlich der Hungertod dahingerafft.

Robert fühlte sich nach beendetem Mahl zwar gestärkt, jedoch hundemüde. Er beschloss für zehn Minuten auszurasten, um seinem Magen Zeit zu geben, die zugeführte Nahrung zu verdauen. Er bettete sein Haupt auf einem der Zierpölster der Wohnzimmercouch, legte die Füße hoch, schloss seine Augen und begann zu summen … nur zehn Minuten. ... It´s been a hard day´s night and I´ve been working like a dog. ... It´s been a hard day´s night, I should be sleeping like a ... und glitt in die Traumwelt hinüber.

Er träumte wieder von dem See, doch diesmal lag er von Beginn an allein in einem Boot ohne Ruder. Er öffnete die Augen und blickte in den klaren Himmel. Das Boot schaukelte ganz leicht und Robert setzte sich auf. Am Ufer vor der Holzhütte stand eine Gestalt, die Robert als die seines Großvaters identifizierte. Er war gerade dabei den Angelhaken auszuwerfen. Robert erhob sich vorsichtig und ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Der Boden schwankte, wie das bei Booten so üblich war, die auf dem offenen Wasser trieben.

Großvater, rief er, Hallo, Großvater!

Die Gestalt nahm keine Notiz von ihm. Robert stellte sich auf eine der Sitzbänke, legte die Hände trichterförmig an den Mund und probierte es noch einmal.

Großvater! ... Huhuuuh!

Robert schwang seine Arme. Das Boot unter seinen Füßen neigte sich nach links und er versuchte vergeblich die Neigung auszugleichen. Seine Bemühungen kamen zu spät. Er spürte, wie es ihn zur Wasseroberfläche hinunterzog. Er breitete seine Arme aus und schlug damit auf und ab wie ein Vogel.

Los ... flieg! Ich weiß, dass ich es kann. ... Die Wasseroberfläche kam unerbittlich näher. ... Wieso funktioniert es gerade jetzt nicht? ... Er ruderte wie wild mit seinen Flügeln.

Der Aufprall auf der Wasseroberfläche war nicht so unangenehm, wie er erwartet hatte. Zum Glück war das Wasser nicht kalt. Er konnte es eigentlich kaum fühlen. Er spürte fast gar nichts, nur das rechte Knie tat ihm weh. Das Knie habe ich mir wohl an der Bootskante gestoßen. Irgendwie hatte er es geschafft, dass er mit dem Kopf nicht unters Wasser gelangt war, denn sein Gesicht und seine Haare waren trocken geblieben. Er spähte an der Bootswand entlang zu der Hütte am Waldrand, doch sein Großvater war verschwunden. Nach und nach dämmerte ihm, dass er sich in einem Traum befinden könnte. Deshalb ist mein Kopf nicht nass geworden. Er schlug die Augen auf, doch er konnte nichts sehen.

Mein Gott, ich bin blind! Er setzte sich auf. Seine Blase war schwer und voll, und sein Knie schmerzte. Robert war nicht erblindet. Das fand er schnell heraus, indem er zu den Wohnzimmerfenstern hinübersah. Die Umrisse der Wandöffnungen zeichneten sich deutlich vom Rest der dunklen Mauer ab. Die Fenster schienen ein wenig höher zu liegen als sonst. Das lag wohl daran, dass er während des Traumes von der Couch gefallen und zwischen ihr und dem Wohnzimmertisch auf dem Boden gelandet war.

Wie spät es wohl ist? ... Es ist viel dunkler als normal. ... Das liegt sicherlich daran, dass keine künstliche Beleuchtung vorhanden ist.

Er stemmte sich hoch und humpelte zur Toilette, wobei er beide Arme, tastenden Tentakeln gleich, von sich streckte. Robert fand sich trotz der schlechten Sicht verhältnismäßig gut in der finsteren Wohnung zurecht. Wo habe ich eigentlich die Taschenlampe abgestellt?

Während er sich erleichterte, fiel es ihm wieder ein. Er hatte die Taschenlampe gar nicht in die Wohnung mitgenommen, sondern bei der Signalpistole und der Leuchtmunition im Auto gelassen.

Die Kerzen! In der Abstellkammer mussten sich einige Kerzen befinden. Er hatte sie anlässlich eines romantischen Abendessens besorgt, das er für eine Arbeitskollegin bei sich zuhause vorbereitet hatte, doch seine Flamme hatte ihn sitzen gelassen. Sie war nicht erschienen. Sie hatte es nicht einmal für nötig befunden anzurufen. Es kam noch viel schlimmer. Sie hatte sich am darauffolgenden Tag nicht einmal bei ihm entschuldigt. Sie war ihm einfach aus dem Weg gegangen.

Schon wieder ein Traum von diesem See, und Großvater kam auch darin vor. Robert kramte in einem Regal im Abstellraum nach den Kerzen und ertastete mit den Fingern eine längliche Schachtel.

Das müssen sie sein! Er trug sie in die Küche, wo er eine Kerze aus der Verpackung herausnahm und den Docht mit Hilfe von Freds Zippo, das neben der Zigarettenschachtel auf der Arbeitsfläche lag, zum Brennen brachte. Warmes Licht verbreitete sich in der Küche und warf tanzende Schatten an die Wände. Er sah sich nach einem Kerzenständer um und fand einen in einem der Oberschränke. Er spießte die Kerze auf. Dann füllte er ein Glas mit Wasser, trank es in einem Zug aus und begab sich ins Wohnzimmer, wo er die Kerze samt Ständer auf dem Tisch abstellte. Er schlurfte zu einem der Wohnzimmerfenster, öffnete es und spähte in die Nacht hinaus.

Die Häuser und Straßen zeichneten sich pechschwarz bis dunkelgrau ab, deren Konturen nur sehr schwer zu unterscheiden waren. Die Wasseroberfläche des Kanals und der Himmel zeigten sich in etwas helleren Grautönen, aber nur solange, bis die Wolken den Mond wieder freigaben, dann konnte er auch Einzelheiten wie Bäume, Büsche, Autos und die Fensterscheiben der gegenüberliegenden Häuser erkennen. Der Erdtrabant hing sichelförmig am Firmament, würde aber demnächst untergehen, was Robert jedoch nicht sehen konnte, denn das Fenster, an dem er stand, war nach Nordosten gerichtet. Die Luft, die er atmete, war so rein, dass es ihm vorkam, als ob er sich gar nicht in der Stadt, sondern irgendwo auf dem Land befände. Das betraf auch die unheimliche Stille, die ihn momentan umgab. Sie war beinahe perfekt, diese Stille. Robert schloss die Augen und lauschte. Sogar die Natur schweigt. Bis auf ein kleines Lüftchen steht alles still ...

Er blickte auf seine Armbanduhr, wobei er das Ziffernblatt in Richtung Kerze drehte, damit er etwas erkennen konnte. Der kleine Zeiger stand zwischen zwei und drei, und der große kurz vor sechs. Der Sekundenzeiger überrundete gerade den Minutenzeiger und begann seinen Anstieg, um die Runde zu beenden.

Wenn meine Uhr richtig eingestellt ist, dann ist es exakt vor vierundzwanzig Stunden geschehen. Nur noch eineinhalb Minuten ... was ist...

Er hörte ein schwaches Rauschen, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Das ist nicht der Wind, es ist zu ... konstant! Er konzentrierte sich voll und ganz darauf.

Bilde ich mir das nur ein, oder wird es tatsächlich lauter? Es hat einen Ursprung, soviel steht fest. Das Rauschen kommt von Osten, es klingt wie ... wie das Rauschen aus meinem Kofferradio ... und dem Autoradio.

Plötzlich war es draußen pechschwarz. Der Mond war binnen eines Sekundenbruchteils untergegangen. Das Rauschen schwoll immer noch an.

Was auch immer das zu bedeuten hat, es nähert sich mit großer Geschwindigkeit!

Zu dem Rauschen gesellten sich noch andere Geräusche. Ein extrem tiefer Basston, der ebenfalls konstanter Natur war. Außerdem ein feines kratzendes Sirren, das auf und ab wogte. Es klang wie das Zirpen von Millionen Grillen in einer lauen Sommernacht.

Vielleicht ein Insektenschwarm? Robert konzentrierte seinen Blick in östlicher Richtung, doch dort war es stockdunkel, wie auch sonst überall. Wind setzte ein, zuerst ganz schwach, doch nach und nach wurde er stärker. Robert sah auf seine Armbanduhr. Es war wenige Sekunden vor halb drei.

Plötzlich hellte sich der Horizont auf, als ob eine Tür in einem fensterlosen Raum langsam geöffnet würde, in den das Licht mit zunehmender Intensität ins Innere flutete. Der Himmel verwandelte sich wie bei einer Zeitrafferaufnahme. Einzelne Wolken zogen gigantischen Ufos gleich in atemberaubendem Tempo über Robert hinweg. Sie strömten auf den Horizont zu, der sich inzwischen rot gefärbt hatte. Es wirkte, als ob der Himmel im Osten in lodernden Flammen stünde und die Wolken ansaugte wie ein Schwarzes Loch die Materie eines ganzen Sonnensystems.

Der Wind hatte sich erst eingependelt auf eine gleichbleibende Stärke und war ganz plötzlich wieder abgerissen. Im Moment war es windstill. Der Lärm jedoch war weiter angeschwollen. Das Rauschen war nun nicht mehr so konstant wie zu Beginn. Robert konnte hören, wie es durchzogen war mit einem Knistern und peitschendem Klatschen und Knacken. Ein Basston vibrierte einem australischen Didgeridoo ähnlich und komplettierte das Orchester. Das Grillenzirpen entpuppte sich als eine kaum erträgliche Flut von unzähligen Einzelgeräuschen im höchsten, für das menschliche Ohr gerade noch hörbaren, Frequenzbereich, die jeweils nur Bruchteile von Sekunden dauerten. Einzelne hielten ein wenig länger an und rissen mit einem Schnalzlaut abrupt wieder ab. Kaum merkbar war im Hintergrund außerdem ein leises Pfeifen zu hören, wie von einem unter Druck stehenden Kochtopf oder Teekessel. Das war neben dem dröhnenden Bass das einzige gleichbleibende Geräusch, das er im Augenblick wahrnehmen konnte.

Erstaunt verfolgte er die Bahn der Sonne, die in der ersten halben Minute seit ihrer Geburt, die unglaubliche Strecke bis zu ihrem Höchststand zurückgelegt hatte. Das konnte er durch das Fenster zu seiner Rechten beobachten, denn das Wohnzimmer war ein Eckzimmer, mit vier Fenstern, von denen zwei nach Nordosten und die restlichen zwei nach Südosten gerichtet waren. Dann machte Robert eine andere, in gleichem Maße erstaunliche Entdeckung. Nachdem er seinen Blick vom Himmel gelöst hatte, entdeckte er dass die Straße vor seinem Haus sich in einen bunten, durchschimmernden und sich windenden Wurm verwandelt hatte, der in den verschiedensten Farben schillerte, wie die Oberfläche eines Opals.

Die Straße ... kein Wurm ... das sind Autos, stammelte sein Verstand. ... Menschen ... aber wieso ... so schnell ... die Zeit?

Er sah auf seine Uhr. Es waren kaum drei Minuten vergangen, seit er dieses Phänomen beobachtete. Mit einem Mal verdunkelte sich der Himmel, der in der Zwischenzeit von Gewitterwolken bedeckt worden war. Die Windrichtung hatte sich scheinbar auch geändert, denn die Wolken flogen nun geradewegs auf Robert zu. Die Welt außerhalb Roberts Wohnung verwandelte sich in ein verschleiertes Grau.

Es regnet! Er streckte die Hand aus dem Fenster, doch er wurde nicht nass. Wenige Sekunden, nachdem das Gewitter ausgebrochen war, riss der Himmel auf, die Wolken wurden auseinandergefegt und die Umgebung hellte sich wieder auf. Robert konnte sehen, wie der Asphalt in kürzester Zeit trocknete. Der Wurm wälzte sich noch immer entlang der Straße, am Fuß seines Hauses und genauso am gegenüberliegenden Ufer.

Es muss jetzt früher Nachmittag sein. Seine Gedanken begannen wieder koordiniert durch seine Gehirnwindungen zu fließen. Der Überraschungseffekt war vorüber. Seit seinen ersten außergewöhnlichen Wahrnehmungen waren fünf Minuten vergangen.

Der Tag läuft, jedenfalls wettermäßig, so ab wie der, den ich gestern selbst durchlebt habe. Nur im Zeitraffertempo ... und wie es aussieht mit anderen Menschen! Robert betrachtete fasziniert das Treiben unter und über ihm. Die Wolken überquerten noch immer mit schwindelerregender Geschwindigkeit den Himmel, auch wenn sie nur mehr vereinzelt vorüberzogen.

So sehr er sich auch anstrengte, konnte er keine einzelnen Fahrzeuge in dem Wurm ausmachen. Aber er bemerkte wohl, dass die vor dem Haus parkenden Autos sprunghaft wechselten. Erst stand hinter seinem Colt ein weißer Volkswagen, dann entstand für zwei Sekunden eine Lücke. Plötzlich parkte in derselben ein dunkelblauer BMW. Das gleiche Schauspiel ereignete sich vor seinem Wagen. Ein grauer Mercedes wechselte übergangslos in einen roten Wagen, dessen Marke Robert von oben nicht erkannte. Die ganze Zeit wurden Fahrzeuge getauscht, verschwanden, tauchten aus dem Nichts auf. Nur der schwarze Colt stand unbewegt auf seinem Platz.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, erst ganz langsam, dann nach und nach schneller. Robert sah die Schatten wachsen, von Sekunde zu Sekunde immer länger werden. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite begannen golden zu schimmern, die Fensterscheiben funkelten für wenige Augenblicke wie Sprühkerzen, als sich die untergehende Sonne in ihnen spiegelte, und erloschen wenig später wieder. Alles verwandelte sich allmählich in eine graue Masse. Nur die Autoschlangen auf den Straßen begannen rotorange und weiß zu leuchten. Auch die Straßenbeleuchtung konnte Robert eindeutig sehen. In den Häusern gingen nach und nach die Lichter an. Manche gingen auch gleich wieder aus. Die Welt vor seinem Fenster hatte sich in einen riesengroßen Flipper verwandelt, dessen Lämpchen wie verrückt flimmerten.

Robert hatte zuerst gar nichts bemerkt, doch als er sich - inspiriert durch die anderen erhellten Fenster - umdrehte, erstrahlte sein eigenes Wohnzimmer im künstlichen Licht. Der Strom war wieder da!

Oh Gott, vielleicht ist dies der Wendepunkt. Jetzt wird alles wieder gut! Was auch immer mit mir geschehen ist... ich glaube, es ist vorbei! Robert fühlte sich in jenem Augenblick wie ein Kleinkind vor dem Weihnachtsbaum am Abend der Bescherung. Er tanzte durch das Wohnzimmer, kam wieder ans Fenster zurück und blickte erwartungsvoll in die Nacht hinaus. Die Autoschlange hatte sich praktisch aufgelöst. Einzelne Lichtpünktchen schossen mit ungeheurer Geschwindigkeit die Straße entlang. Die Lichter in den Wohnungen gingen nach und nach wieder aus.

Die Geräusche hatten sich ebenfalls verändert. Robert hatte sich schon so daran gewöhnt, dass er sie gar nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte, obwohl es nach wie vor unangenehm laut gewesen war. Die optischen Reize hatten seine gesamte Aufnahmefähigkeit in ihren Bann gezogen. Doch jetzt, da der Pegel nachließ, und das Konzert der etwas anderen Art im Abklingen war und allmählich wieder in dieses altbekannte Rauschen überging, lenkte er seine Aufmerksamkeit abermals darauf.

Es bildet sich zurück, zu seinem ursprünglichen Geräusch. Der ganze Spuk geht zu Ende. Ich bin mir sicher, dass das Rauschen auch bald wieder abgeklungen ist, und was dann folgt ...

Noch bevor er diesen Satz zu Ende denken konnte, vernahm er ein Gurgeln, das genauso klang wie das Gurgeln des Wassers in einer Badewanne, wenn der letzte Rest in den Abfluss gesaugt wird.

... werde ich sehen, wenn es soweit ist.

Dann ging das Licht aus und er stand im Dunkeln.

Es ist soweit. Die Kerze war durch einen Luftzug irgendwann ausgelöscht worden. Er hatte bis jetzt auch genug Licht und andere Dinge, die seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Bis jetzt. Ganze zehn Minuten! Für zehn Minuten Licht und Strom. Zehn Minuten Zivilisation, Menschen, Hoffnung. Aus und vorbei.

Neiiin! Die Stadt hatte wieder das unbelebte Gesicht von vorhin angenommen. Ihr Antlitz wirkte wie das einer Filmkulisse nach Beendigung der Dreharbeiten. Alles wirkte unecht, einer Maske gleich. Wenn man dahinter blickt, dann gibt es dort nichts zu sehen. Robert fühlte sich in jenem Moment, in dem er an seinem Fenster stand und auf die verlassenen und vom Mond nur spärlich beleuchteten Straßen und den Kanal hinabblickte, wie eine vergessene Requisite. Er fürchtete sich davor, dass sich dieses Schauspiel wiederholen könnte. Der Tag, der innerhalb von zehn Minuten vor seinen Augen vorbeizog, während er hilflos zusehen musste, wie es geschah.

Er war der vertrauten Welt so nah gewesen und gleichzeitig doch so fern. Dieser Gedanke versetzte ihn in Panik und jagte ihm eiskalte Schauer den Rücken hinab.

Was kommt jetzt noch? Was kann ich noch ertragen, ... was muss ich noch ertragen? Weshalb ausgerechnet ich?

3.

Lisa öffnete das Küchenfenster und beugte sich weit hinaus, um das Geräusch besser hören zu können. Es klang wie das Rauschen einer Meeresbrandung, nur schien es eine einzelne gigantische Flutwelle zu sein, die sich näher und näher wälzte. Sie spähte in die Richtung, aus der es kam, doch die anderen Häuser des Blocks, die diesen Innenhof bildeten, versperrten ihr die Sicht.

Plötzlich lösten sich ihre Füße vom Küchenboden, und sie verlor das Gleichgewicht. Sie fiel kopfüber aus dem Fenster und ruderte wie wild mit den Armen. Ihr Mund öffnete sich - sie wollte schreien -, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Die Luft strich durch ihre Kehle, aber ihre Stimmbänder wollten einfach nicht schwingen. Verzweifelt ruderte sie mit ihren Armen, um dem scheinbar Unvermeidlichem doch noch zu entgehen. Der Rasen kam unerbittlich näher, doch knapp über dem Boden wurde ihr Fall gebremst, und sie flog horizontal über ihn hinweg. Sie steuerte auf die mächtigen Kastanien zu und gewann allmählich an Höhe. Als sie die Baumwipfel erreicht hatte, flog sie eine leichte Linkskurve und schwebte über das Dach eines der Häuser, die ihr vorhin die Sicht versperrt hatten.

Was sie auf der anderen Seite sah, verschlug ihr fast den Atem. Ein riesiger See erstreckte sich von der Hausmauer unter ihr bis zu einem Gebirgszug, der sie an ihre Heimat, an Kärnten, erinnerte.

Ein Traum, es ist nur ein Traum. Irgendwie wusste sie aber, dass dieser See nicht in Kärnten lag, sondern im Salzkammergut. Sie war schon einmal dort gewesen!

Attersee, ... das ist der Attersee! Das Rauschen war auf dieser Seite des Hauses lauter und kam noch immer näher, aus der Richtung, in der die Berge lagen. Lisa konnte jedoch die Ursache nicht erkennen.

Die ganze Szenerie wirkte friedlich, nahezu idyllisch, … wäre da dieses unangenehme Geräusch nicht gewesen.

... Lisa ... Lisa ...

Eine verzerrte Frauenstimme rief ihren Namen.

... Lisa ... Sie kannte diese Stimme.

Das ist der See. Der See ruft meinen Namen!

Sie blickte zur Wasseroberfläche hinunter. Sie wollte nicht dorthin, doch der See zog sie auf magische Weise zu sich hinab, auf eine unter der Oberfläche treibende Gestalt zu. Sie schwebte über dem Wasserspiegel und beobachtete, wie der Körper unter dem Wasser immer höher stieg, bis sie ihn beinahe berühren konnte. Lisa hätte ihren Arm nur ausstrecken müssen, doch nichts widerstrebte ihr im Augenblick mehr, als genau das zu tun. Das Gesicht der Gestalt wurde unter der schaukelnden Wasseroberfläche immer deutlicher erkennbar. Es war das verzerrte Abbild ihrer Freundin... Susi... Susi Kramer!

Oh mein Gott, das ist sie! Lisa sah, wie Luftblasen von Susis geöffnetem Mund aufstiegen. Die Lippen bewegten sich, als ob sie ihr etwas Wichtiges sagen wollte, doch Lisa konnte nichts hören, außer dem brausenden Geräusch, das nun überall zu sein schien. Dennoch konnte sie ihren Blick nicht von Susis schreckensgeweiteten Augen und den aufsteigenden Luftbläschen nehmen. Sie starrte wie gebannt auf die blasse aufgedunsene Gestalt ihrer ertrunkenen Freundin und war unfähig sich zu bewegen.

Plötzlich begann Susis Körper wieder hinab zu sinken. Die Leiche streckte ihre Arme nach Lisa aus, noch immer die Lippen bewegend. Sie sank immer tiefer dem dunklen, schlammigen Seeboden entgegen und wurde immer unscheinbarer, bis sie nicht mehr zu erkennen war. Einzelne Luftblasen stiegen noch an die Oberfläche, dann war der See wieder ruhig.

Susi, rief sie. „Susi!“

Lisa schreckte hoch. Sie war von ihren eigenen Rufen wach geworden.

Nur ein Traum, ... es war nur ein ... das Rauschen konnte sie aber immer noch hören. Ebenso hörte sie ein Peitschen, Pfeifen und Klatschen, einen tiefen Basston, Grillenzirpen und Schnalzen.

Was ist das? Lisa überlegte kurz, ob sie aufstehen, oder unter die Decke kriechen sollte. Sie entschied sich für die erste Möglichkeit und kletterte aus dem Bett. Als sie am Badezimmer vorbeikam, bemerkte sie, dass die Neonröhre leuchtete. Auch im Wohnzimmer brannte das Licht. Sie drehte beides ab, denn es war taghell. Sie schlurfte zum Fenster und öffnete es, um hinauszusehen. Dieses infernale Getöse war zwar überall zu hören und schien aus keiner bestimmten Richtung zu kommen wie in ihrem Traum, doch draußen war es entschieden lauter als innerhalb der Wohnung.

Die folgenden Beobachtungen, die sie machte, ließen Lisa wieder einmal an ihrem Geisteszustand zweifeln. Sie sah, wie die Wolken am Himmel vorüberzogen, als wären es tieffliegende Überschallflugzeuge, wie diese immer mehr und mehr wurden, bis der Himmel bedeckt war von einer schwarzgrauen, brodelnden Wolkenmasse, die vorbeifloss wie ein Pyroklastischer Strom. Danach hüllte sich alles in ein nebeliges Grau, und Lisa verfolgte fassungslos, wie die Dächer ringsum nass wurden. Wenige Sekunden später riss die Wolkendecke wieder auf und die Dächer trockneten genauso schnell und mysteriös. Sie beobachtete, wie die Sonne innerhalb einer Minute die Strecke von drei Stunden zurücklegte, um schließlich wie jeden Tag an der üblichen Stelle hinter einem Dach zu verschwinden.

Ich muss noch träumen, so etwas gibt es nicht. Im Hof wurde es rasch dunkler, und das schnelle Ergrauen der Umgebung erweckte bei Lisa den Anschein, als ob alle Farben aus den Dingen gesaugt würden. Nach und nach verblassten sie zu einem stumpfen Grauton. Es war wieder Nacht geworden.

Wie schnell die Zeit verflieg! Unheimlich! Die Geräusche verebbten zu dem konstanten Rauschen, bis es mit demselben blubbernden Gurgeln endete, das auch Robert Lang im selben Augenblick hörte. Lisa verharrte einen kurzen Moment im Dunkeln. Dann stolperte sie ins Schlafzimmer und kroch unter die Bettdecke, nachdem sie die Kerze auf ihrem Nachtkästchen in Brand gesetzt hatte. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf. Vor allem aber hatte sie Angst. Angst davor einzuschlafen, während sich die Welt um sie herum zu einem noch unfreundlicheren Ort verwandeln konnte, als er ohnehin schon war. Angst davor, welche Überraschungen noch auf sie warteten. Sie fühlte sich wieder wie das kleine Mädchen, das bei einem Gewitter zu den Eltern unter die Bettdecke kroch. So sehr sie das Tageslicht herbeisehnte, fürchtete sie sich gleichermaßen vor den Entdeckungen, die sie auf ihrer Erkundungsfahrt durch die Stadt machen würde. So lag sie im Bett und erwartete sehnsüchtig den Tagesanbruch, doch die restliche Zeit zog sich unbarmherzig in die Länge wie ein alter, zähelastischer Kaugummi. Die Nacht wollte einfach nicht zu Ende gehen. Lisa nahm ein Buch zur Hand und begann darin zu lesen, doch sie schweifte mit ihren Gedanken immer wieder ab, sodass sie gar nichts von dem Text mitbekam, den ihre Augen überflogen. Sie musste immer wieder von neuem beginnen. Schließlich kapitulierte sie und legte das Buch wieder weg.

Doch jede Nacht muss irgendwann einmal dem Tag weichen, und so ging auch diese zu Ende. Im Morgengrauen schleppte sie ihre müden Knochen ins Badezimmer und half ihrem Kreislauf durch eine kalte Dusche auf die Sprünge. Es war zwar nicht gerade die angenehmste Art und Weise, sich auf die kommenden Ereignisse vorzubereiten, doch die wirkungsvollste und momentan einzige Alternative, die sich bot.

Auch wenn sie sich lieber wieder in ihrem Bett verkrochen hätte, wusste sie, dass das keine Lösung war. Sie musste unbedingt herausfinden, was geschehen war und wer die Signale abgegeben hatte. Sie musste andere Menschen finden!

Allein

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