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2 Das Geschäft/Reale Welt
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An einem 28. Juni war es endlich soweit. Für Artur Krosnowski ging ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung und er rollte den rubinrot gestrichenen Rollbalken um acht Uhr in der Früh zum ersten Mal in die Höhe, um Kundschaft einzulassen. Eine halbe Stunde später betrat die erste Kundin, eine etwa dreißigjährige Blondine, das neu eröffnete Edelstein-Geschäft und kaufte ein Lederhalsband mit einem kreisförmigen Pyrit-Anhänger.
2.
Auf den Tag genau, 4 Jahre später, stand die kleine Julia, neun Jahre alt und Vollwaise, vor der Auslage in der Landstraßer Hauptstraße und drückte ihre Nase an der Scheibe platt. Sie schirmte ihre Augen mit den Händen ab, um die Bergkristall-Rohspitzen, die auf einem violetten Samtkissen fein säuberlich drapiert waren, besser sehen zu können. Nicht, dass sie gewusst hätte, worum es sich bei den kristallklaren, stabförmigen Dingern handelte. Das Wissen um deren Namen hätte auch nichts an der Faszination geändert, die diese Kristalle auf sie ausübten, die im Sonnenlicht so schön funkelten. Es schien, als ob diese Glitzersteine mit ihr auf magische Weise kommunizierten. Das Mädchen konnte ein feines Vibrieren wahrnehmen, das von ihnen ausging. Zwischen dem auf und abschwellenden Straßenlärm und dem Klack-Klack, das die Stöckel von vorbeieilenden Damen erzeugte, bildete sie sich ein, dass die Kristalle kaum wahrnehmbar ihren Namen flüsterten.
Juliaaa ... Juliaaa!
Sie musste einen davon haben! Ihr ganzes Wesen konzentrierte sich auf diese fixe Idee, doch so sehr sie ihre kindliche Fantasie auch bemühte, konnte sie sich nicht vorstellen, wie sie das ohne Geld bewerkstelligen sollte. So musste sie sich fürs Erste damit begnügten, diese magischen Steine nur zu betrachten. Niemand in dem Heim, von dem sie wieder einmal ausgerissen war, würde sie wirklich vermissen oder sich vor Kummer die Augen ausweinen, auch wenn sie den ganzen Tag hier verbringen sollte.
Sie erschrak, als sie bemerkte, dass plötzlich jemand neben ihr stand. Dieser Jemand hatte sich förmlich neben ihr von einem Moment auf den anderen materialisiert. Sie blickte mit großen Augen an einem hellblauen Träger-Kleid empor. Die attraktive Frau, die darin steckte, hatte langes, dunkelbraunes Haar, in der gleichen Länge und Tönung wie das von Julia.
Wie sie selbst zuvor, ließ sich auch die Dame von den hübschen, bunten Ausstellungsstücken verführen, wobei ihr Hauptaugenmerk den Halsketten mit den Halbedelsteinen galt. Als sie alles im Schaufenster begutachtet hatte, zwinkerte sie dem kleinen Mädchen an ihrer Seite lächelnd zu und umrundete Julia, in der Absicht das Geschäft zu betreten. Noch bevor sie wusste, was sie tat, schloss sie sich der Frau an und trat dicht hinter ihr über die Schwelle, dabei bemerkte Julia, dass diese einen angenehm fruchtigen Duft verströmte. Es handelte sich bei der Kundin zwar nicht wirklich um ihre Mutter, doch der Verkäufer sollte denken, dass die beiden zusammengehörten, das verschaffte ihr die Möglichkeit hinein zu gelangen, ohne den Argwohn des Mannes zu wecken.
Und genau das war es auch, was Artur dachte, als er beim Klingeln des Glöckchens von dem Katalog, in dem er gerade geblättert hatte, aufblickte und diese Frau sah und das Mädchen, das hinterher trottete, als ob die Nabelschnur noch nicht zur Gänze durchtrennt worden wäre. Die Schönheit in dem hellblauen Kleid steuerte auf die Theke zu und grüßte freundlich.
„Grüß Gott!“, erwiderte Artur geschäftsmäßig. „Was kann ich für sie tun?“ Er nickte der Tochter in dem langärmeligen Sommerkleidchen, das schüchtern an der Tür stehen geblieben war, nur kurz zu und widmete seine ganze Aufmerksamkeit wieder der Erwachsenen.
„Ja, ich interessiere mich für ...“, begann die Frau mit einer weichen, tiefen Stimme zu sprechen und zog Artur mit ihren großen, dunklen Augen in ihren Bann.
Julia hatte auf diesen Augenblick gewartet. Sie schlich, Langeweile vortäuschend, vorsichtig zu der Stelle, an der die Bergkristalle ausgestellt waren. Als sie in Griffweite lagen, drehte sie sich um und bemerkte, wie sich der Verkäufer gerade hinter der Theke bückte, um etwas aus einer Lade zu holen. Die Dame in Blau lehnte sich mit einem Ellenbogen auf den Ladentisch, während sie mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf etwas zeigte, das Julia nicht sehen konnte. Das lange braune Haar verdeckte das Gesicht der Kundin, somit konnte sie unmöglich sehen, was Julia machte. Diese griff blitzschnell nach einer der Bergkristallnadeln und schob den Stein hastig in den Ärmel ihres Kleides. Die Kristallspitze war so lang wie ihr Oberarm. Sie klemmte die Spitze in der Achselhöhle fest und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann drehte sie sich um und beobachtete die beiden Erwachsenen.
Der Verkäufer tauchte gerade hinter dem Ladentisch wieder auf und legte drei weitere Halsketten zu einer vierten dazu, die schon auf dem Tisch lag. Die Frau strich ihr Haar aus dem Gesicht und griff nach einer der Ketten.
„Da haben Sie eine hervorragende Wahl getroffen“, setzte der Mann das Verkaufsgespräch fort. „Diese hier zeichnet sich durch ein besonders intensives Blau aus und bei den goldenen Punkten handelt es sich um Pyriteinschlüsse.“
„Ich finde sie auch wunderschön, was soll die denn kosten?“, fragte die Kundin interessiert.
Der Mann bedachte Julia mit einem kleinen Seitenblick, kaum länger als eine halbe Sekunde, doch das reichte schon aus, um sie in Panik zu versetzen. Das kleine Herz in ihrer Brust begann zu hämmern, und sie fühlte erst einen kalten Schauer über ihren Körper huschen, dann wurde ihr unglaublich heiß. Sie wusste, dass ihr Kopf nun rot angelaufen war, und das kleine Geheimnis, das sie in ihrem Ärmel verbarg, ihr förmlich ins Gesicht geschrieben stehen musste. Ihre Ohren fingen an zu rauschen und zu dröhnen. Julia sah, wie sich die beiden unterhielten, konnte jedoch kein Wort mehr verstehen. Die Lippen der Erwachsenen bewegten sich abwechselnd und die Gesichtszüge durchliefen die unterschiedlichsten Veränderungen. Die Käuferin zückte eine große, dunkelrote Geldbörse aus ihrer Handtasche und fischte einen Geldschein heraus. Der Verkäufer öffnete seine Registrierkasse und nahm ihn entgegen.
Klinge-ling-ling ... bimmelte das Glöckchen über der Tür munter. Das Geräusch löste die Starre, die Julia befallen hatte. Sie streifte die Lähmung wie einen kratzenden Pullover ab und drehte sich um. Drei ältere Mädchen strömten kichernd und schubsend zur Tür herein. Zwei von ihnen hatten ein Nasenpiercing, der dritte Teenager große Ringe in beiden Ohrläppchen. An ihren Hälsen baumelten Lederschnüre mit Steinen und Pseudo-Amuletten. Ihre Kleidung war ziemlich bunt und schrill. Das fiel Julia noch auf, dann - eh sie noch richtig begriff, was sie eigentlich tat - nutzte sie die Gunst der Stunde und schummelte sich durch das Trio hindurch und stand plötzlich wieder auf dem Gehsteig.
Draußen vor der Tür konnte sie im ersten Augenblick gar nicht glauben, dass sie es geschafft hatte, den Stein zu klauen, ohne dabei erwischt zu werden. Die Frau im hellblauen Kleid kam ebenfalls aus dem Geschäft heraus. Um ihren Hals hing eine Kette mit dunkelblauen Steinen, deren Oberflächen mit goldenen Pünktchen überzogen waren, die im Sonnenlicht glitzerten. Sie lächelte, kam mit zwei großen Schritten auf Julia zu, bückte sich zu ihr herunter und tätschelte ihren Kopf.
„Tschüss, meine Kleine“, frohlockte sie, kniff ihr liebevoll in die Wange und stolzierte davon. Julia stand noch ein paar Sekunden wie versteinert auf dem Trottoire und blickte der Dame mit der Halskette nach. Dann fiel ihr ein, was sie gerade getan hatte, und warf einen ängstlichen Blick zur Eingangstüre des Geschäftes, denn sie erwartete, dass diese jeden Augenblick aufging und der Mann sich auf sie stürzen würde und sie so lange schütteln würde, bis der gestohlene Kristall aus ihrem Ärmel rutschte. Die drei Mädchen würden dahinter stehen und Beifall spenden und grausliche Wörter rufen.
Diebin! Steineklauerin! Elternloser Dreckspatz! Einsperren... Julia wollte nicht darauf warten, bis diese Vision in Erfüllung ging. Sie gab Fersengeld und rannte mit überkreuzten Armen in dieselbe Richtung, wohin die Frau mit der Halskette verschwunden war. Sie entdeckte das hellblaue Kleid inmitten einer kleinen Menschenansammlung, die an einer roten Ampel wartete. Das Signal sprang soeben auf Grün um und die Menge setzte sich in Bewegung. Julia lief über den Zebrastreifen hinterher.
Sie verfolgte die Frau etwa eine Viertelstunde und beobachtete, wie sich manche Männer ungeniert nach dieser umdrehten, um ihr nachzugucken. Julia wusste zwar nicht, was es mit diesem merkwürdigen Ritual auf sich hatte, dachte aber, dass das Nachgucken ein ziemlich blöder Brauch sei, denn die Männer achteten nicht mehr darauf, wohin sie gingen. Die Frau bemerkte von all dem, was sich hinter ihrem Rücken abspielte, gar nichts und bummelte gemächlich die Einkaufsstraße entlang in Richtung Zentrum. Hin und wieder stoppte sie bei dem einen oder anderen Geschäft, um die Dinge, die in der Auslage ausgestellt waren, in Augenschein zu nehmen.
Sie hatte anscheinend jede Menge Zeit und unterschied sich somit von den anderen, hektisch durcheinanderlaufenden Menschen, die ihre Kinderwägen maulend vor sich herschoben oder mit einer Unzahl von Plastiksackerl und Tragtaschen bepackt waren und sich mühsam einen Weg durch die Massen bahnten. Manche Paare unterhielten sich lautstark über eine soeben getätigte Fehlinvestition, oder stritten über irgendwelche belanglosen Dinge. Andere schwiegen einander an, bewahrten dabei ein ernstes Gesicht, aber man sah ihnen an, dass sie uneins über irgendein Thema waren. Julia viel auf, dass die Leute, die allein unterwegs waren, viel ruhiger und entspannter wirkten; Und so auch die Kettendame, der sie bis zur Station Wien-Mitte folgte. Dort tauchte diese in einem Kaufhaus unter und Julia verlor sie aus den Augen.
Sie durchquerte die Bahnhofshalle und fuhr mit der Rolltreppe zur U-Bahn hinunter. Ein Zug war ihr vor der Nase davongefahren und deshalb balancierte sie den Bahnsteig an der gelben Sicherheitslinie entlang bis zu dessen Ende. Dort blieb sie leicht vorgeneigt stehen, einen Fuß auf der Linie den anderen nach hinten gestreckt, und blickte in den finsteren Tunnel hinein. Sie wollte herausfinden, ob sie zuerst das Scheinwerferlicht des herannahenden Zuges sehen oder die Schienen singen hören würde.
Niemand nahm Notiz von dem kleinen Mädchen in den schwarzen Lackschuhen, das dort am Ende des Bahnsteiges waghalsige Gleichgewichtsübungen vollführte, obwohl die meisten in ihre Richtung blickten, denn beinahe jeder unterlag dem Phänomen, dass man seine Aufmerksamkeit unwillkürlich dorthin lenkt, woher man etwas - die U-Bahn in diesem Fall - erwartete. Vorausgesetzt man las nicht gerade eine Zeitung oder ein Buch, studierte den Fahrplan oder war mit sonst irgendwelchen wichtigen Dingen beschäftigt. Das Betrachten der schmutzigen Schuhe oder Reklametafeln etwa fiel in diese Kategorie.
Möglicherweise lag es auch daran, dass eine Dame in unmittelbarer Nähe stand, die in ein Taschenbuch vertieft war. Man konnte sie leicht für die Mutter des Kindes halten. Somit oblag es naturgemäß ihr dafür zu sorgen, dass dem Kind nichts zustieß. Nach dem Motto: „Das geht mich nichts an“, sah man einfach darüber hinweg. Man konnte sich heutzutage leicht die Finger verbrennen, wenn man es als Außenstehender wagte, sich in die Kindeserziehung einzumischen, denn manch einer nahm so etwas sehr persönlich. Da wurde man schnell als Nörgler oder Querulant bezeichnet. Ein Wort ergibt das andere, und eh man sich’s versieht, hängt man in einem Streit, der einem den ganzen Tag versaut oder zumindest Sodbrennen verursacht. Am besten war, sich rauszuhalten und zu hoffen, dass nichts passierte.
Ssss ... sss ... sss ... begannen die Schienen zu singen. Das Ohr hatte gewonnen! Doch jetzt warten wir noch auf das Licht!
Der Tunnel wurde heller und heller, doch die Pünktchen der Scheinwerfer konnte sie immer noch nicht sehen. Ein Windstoß von verdrängter Luft aus dem Tunnel erfasste Julias langes braunes Haar und wehte es spielerisch in alle Richtungen. Bei jeder anderen Gelegenheit wäre dies ein entzückender Anblick gewesen. Doch da war noch der...
Sie wischte sich mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht und spürte, wie der Kristall in ihrem anderen Ärmel zu rutschen begann. Erschrocken tastete sie nach der Wölbung unter dem dünnen Stoff, schob ihn wieder in Position und klemmte ihn fest. Die herannahende U-Bahn war vergessen. Inmitten der Aufregung war Julia einen halben Schritt nach vorne gestiegen und stand nur noch einen Kinderschuh breit von der Kante des Bahnsteiges entfernt. Plötzlich tauchte die Fahrerkabine des Zuges wie ein Geschoss aus dem Zwielicht auf.
... der Zug! „Mein Gott, ... das Kind!“, gellte ein Schrei über den Bahnsteig.
Im selben Augenblick spürte Julia, wie sich eine Hand wie ein Schraubstock um ihre magere Schulter schloss. Nägel gruben sich in ihre Haut, und sie wurde mit einem kräftigen Ruck nach hinten gerissen - keine Sekunde zu früh! Die graue, metallische Masse floss haarscharf an dem Mädchen vorbei, wurde langsamer und kam schließlich zum Stehen. Julia wurde umgedreht und die Frau mit dem Buch - sie mochte ungefähr dreißig Jahre alt sein - starrte ihr mit weit geöffneten Augen ins Gesicht. Sie kniete auf am Boden und hatte ihre rechte Hand noch immer auf Julias Schulter liegen, in der Linken, die heftig zitterte, hielt sie ihr zusammengerolltes Taschenbuch wie einen Knüppel. Eine alte Dame hatte sich von hinten an die beiden vor Schreck starren Gestalten herangepirscht und begann lautstark zu zetern.
„Das hätte auch ins Auge gehen können, junge Frau“, meckerte sie mit zittriger Stimme, „Da müssen Sie besser aufpassen. Sie können das Kind doch da nicht spielen lassen. Ein Bahnsteig ist kein Spielplatz.“
Die junge Frau wandte sich zu der alten Dame um. „Das ist nicht mein ...“, wollte sie protestieren, doch die Alte war schon längst im Wagon verschwunden und hatte sich auf den nächsten Sitzplatz gestürzt und Platz genommen. Die restlichen Fahrgäste waren ebenfalls schon eingestiegen. Manche blickten in ihre Richtung und schüttelten erbost die Köpfe.
„Zug fährt ab!“, verkündete eine blecherne Stimme aus den Lautsprechern. Die Türen schlossen sich und der Zug verließ die Station. Julia und die Frau sahen der U-Bahn nach, wie die roten Rücklichter vom Schlund am anderen Ende verschluckt wurden, dann war es wieder ruhig. Die letzten Fahrgäste, die ausgestiegen waren, fuhren gerade mit der Rolltreppe hoch. Die Frau stand auf und löste die Hand von Julias Schulter. Ihr Blick fiel auf die Hand, mit der Julia den Ellenbogen und den Bergkristall unter dem dünnen Stoff krampfhaft festhielt.
„Hast du dir weh getan?“, wollte sie wissen. Sie dachte, sie hätte zu fest zugepackt. Julia schüttelte den Kopf. „Komm, zeig mal her“, blieb die Lebensretterin hartnäckig.
Julia wich einen Schritt von der Frau zurück und schüttelte erneut den Kopf. „Nein, mir ist nichts passiert“, trotzte sie.
„Aber dein Ellenbogen,... was ist damit?“, versuchte es die Frau nochmals, die nicht wissen konnte, was das Mädchen tatsächlich beschäftigte.
Panik machte sich in Julia breit. Wenn die Frau den Stein entdecken sollte, dann würde sie sicher wissen wollen, woher sie ihn hatte. Man würde ihn ihr wegnehmen … ihren einzigen Besitz!
Die Frau fixierte Julia und bemerkte, dass irgendetwas mit diesem kleinen Mädchen nicht stimmte. „Wo sind denn deine Eltern?“, fragte sie.
Julia machte wortlos auf dem Absatz kehrt und begann in Richtung Rolltreppe zu laufen. Die Frau rief ihr nach: „Wenigstens bedanken hättest du dich können, wer weiß was geschehen wäre, wenn ich ...“
Den Rest hörte Julia nicht mehr. Sie wollte nur weg von hier, so schnell und weit sie ihre kleinen Füße trugen. Egal wohin, ... nur nicht ins Heim zurück.
3.
Etwa zum gleichen Zeitpunkt, als der Kristall in Julias Ärmel zu rutschen begann und sie dadurch in diese lebensgefährliche Situation manövriert hatte, bimmelte das Glöckchen über der Geschäftstüre von Arturs Laden zum wiederholten Male an diesem Tag.
Er blickte zum Eingang und beobachtete, wie ein junger, breitschultriger Mann hereinkam. Dieser sah eigentlich sehr gepflegt und wirklich gut aus, wenn man die dicke Narbe an seiner linken Wange ignorierte, doch irgendetwas an seinem Verhalten kam ihm merkwürdig vor. Seine Bewegungen wirkten äußerst kontrolliert und Artur bemerkte sofort, dass er sich verstellte.
Ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
Er hatte keine Ahnung, warum ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging. Während der Kunde auf ihn zukam, schweifte dessen Blick durchs Geschäftslokal, als wäre er auf der Suche nach etwas Bestimmten. Diese suchende Geste, die nicht länger dauerte als ein, zwei Sekunden, erinnerte Artur an eine Szene, die in amerikanischen Kriminalfilmen häufig vorkam, wenn ein Polizist einen Ort betrat, an dem ein Verdächtiger oder ein Zeuge befragt wurde. Derselbe Blick, die gleiche Körperhaltung, sogar der billige Konfektions-Anzug passte ins Bild. Nur der obligate Griff zur Polizeimarke fehlte noch.
„Grüß Gott, was kann ich für Sie tun?“, begrüßte Artur den merkwürdigen Kunden, der sich absolut nicht in die Reihen seiner sonstigen Kundschaft eingliedern ließ.
„Tag!“, erwiderte der Angesprochene einsilbig und musterte Artur von Kopf bis Gürtel. Mehr war von ihm nicht zu sehen. Der Rest verbarg sich hinter dem Verkaufstisch. Artur fühlte sich plötzlich unbehaglich. Seine Nase fing an zu jucken. Das tat sie immer, wenn er sich in seiner Haut nicht wohl fühlte, doch er unterdrückte das dringende Bedürfnis sich zu kratzen.
„Ich interessiere mich für einen ihrer Bergkristalle.“ Sein Blick war starr auf Arturs Augen gerichtet, während er sprach.
„Aber gerne, der Herr“, entgegnete Artur. „Wie hätten Sie ihn denn gern? Als Handstein, Pyramide oder vielleicht als Kette oder Anhänger, ich habe auch noch ...“
„Einen dieser Exemplare aus der Auslage“, unterbrach ihn der Fremde unfreundlich.
Ein Bulle, ich hab’s gewusst!
Das mit den Bergkristall-Rohspitzen war eine heikle Geschichte. Sollte es sich bei seinem Gegenüber wirklich um einen Polizisten handeln - und alle Indizien sprachen dafür -, dann war Artur geliefert.
Vor zwei Tagen, am Donnerstagnachmittag, war ein Geologie Student, Namens Georg Bäumler - den er allerdings nur flüchtig kannte -, zu ihm ins Geschäft gekommen und hatte ihm zwölf Bergkristall-Rohspitzen auf die Theke gelegt. Artur hatte sie untersucht und Georg gefragt, woher diese Kristalle stammten. Dieser erzählte eine abenteuerliche Geschichte von seiner letzten Expedition ins Salzkammergut, deren Wahrheitsgehalt Artur zwar bezweifelte, doch die Geschichte hatte wenigstens einen gewissen Unterhaltungswert gehabt. Immerhin handelte es sich um sehr schöne Exemplare von unglaublicher Reinheit, wie sie selten vorkam. Doch noch seltsamer erschien ihm die Tatsache, dass alle zwölf beinahe gleich groß waren. Er hatte sie abgemessen. Sie maßen zwischen neunzehn und einundzwanzig Zentimeter und hatten einen Durchmesser von etwa vier Zentimeter. Er konnte sich kaum vorstellen, dass ein einzelner so viel Glück haben konnte, einen einzigartigen Fund, wie diesen zu machen. Dennoch hatte Artur nach einigem Zögern dem Drängen des Jungen nachgegeben und ihm die Mineralsteine bis auf einen abgekauft. Den wollte der junge Mann selbst behalten.
An und für sich war gegen den Handel zwischen den beiden nichts einzuwenden, doch Artur hatte beschlossen die Rohspitzen unter der Hand weiterzuverkaufen. Schnelles Geld - keine Steuern. Die wunderschönen Bergkristalle hatten wie erwartet rasch Abnehmer gefunden. Am Freitag hatte er vier Stück verkauft, zwei davon an weibliche Kundschaft, zwei an Männer. Eine Kundin, eine Rentnerin Namens Hermine Stöger, war heute in der Früh wiedergekommen und hatte ihm erzählt, dass ihr die Handtasche gestohlen worden war, unmittelbar nachdem sie das Geschäft verlassen hatte. Sie käme soeben von der Polizeidienststelle, wo sie Anzeige erstattet hatte. Die Handtasche wurde in der Nähe in einem Müllcontainer gefunden und sie hatte die Tasche samt Inhalt zurückbekommen, jedoch ohne Bargeld. Das war verschwunden. Auch der Kristall war nicht mehr aufgetaucht. Artur drückte sein Bedauern über diesen Vorfall aus und gab ihr 20 % Rabatt auf den zweiten Kristall, den sie kaufte, denn sie wollte unbedingt einen haben, und es war ihm ein Bedürfnis gewesen, ihr nach dem ganzen Ärger eine kleine Freude zu bereiten.
Das war allerdings nicht der einzige, den er heute schon abgesetzt hatte. Zwei Teenager waren am Vormittag ins Geschäft gekommen und hatten ebenfalls einen mitgenommen. Er hatte sich noch gewundert, dass so junge Leute Geld für so etwas ausgaben. Schnelles Geld - keine Steuern, hatte er gedacht. Daher rührte auch das schlechte Gewissen, das er jetzt verspürte.
„Hallo, haben Sie mich nicht verstanden?“ Die knarrende Stimme des Polizisten schnitt seine Gedanken entzwei. „Ich sagte, dass ich eine der Spitzen aus der Auslage möchte!“
Artur verspürte plötzlich den Drang, das Geschäft zu verlassen und davonzulaufen. Die Richtung war ihm egal. Hauptsache raus aus dem Geschäft und weg von dem unheimlichen Kerl.
„Entschuldigen Sie, ... selbstverständlich, ... einen Moment bitte“, stammelte Artur, umrundete den Ladentisch und steuerte auf die Auslage zu, „Ich hole sie, dann können Sie einen auswählen.“
Ich mach’ einfach die Tür auf und renne los. Nach links oder rechts, wo wäre es wohl gescheiter? ... So ein Unsinn! Denk nach! Woher sollte die Polizei wissen, dass ich die Steine unversteuert verkaufe und mir so ein bisschen was nebenbei verdiene? Nur weil der alten Stöger die Tasche geklaut wurde, und der Kristall nicht mehr aufgetaucht war, heißt das noch lange nicht, dass sie einen Verdacht in dieser Richtung haben. Es weiß ja niemand davon. Nicht einmal Georg hat die geringste Ahnung, dass ich die Spitzen steuerfrei verscherble!
„Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, Opa“, ertönte es hinter seinem Rücken.
Artur war schweißgebadet. Seine Nase juckte wie verrückt. „Ich mach’ ja schon, immer langsam mit den jungen Pferden“, erwiderte er, griff nach dem mit violettem Samt überzogenen Kissen, auf der die Bergkristalle lagen. Er trug seine kostbare Fracht vorsichtig mit beiden Händen und kehrte zu seinem Platz hinter dem Ladentisch zurück. Es lagen noch vier Rohspitzen darauf.
Vier? Artur zählte sie nochmals, obwohl man auf einen Blick sehen konnte, dass es vier Stück waren.
Ich dachte, es wären noch fünf da, dachte er verwirrt.
„Hier bitte, der Herr“, sagte er und deponierte die Unterlage mit den vier Bergkristallen auf der Theke. Der unfreundliche Kunde griff nach dem ersten Stein und begutachtete ihn.
Ich hatte elf Stück, rechnete Artur, während er den Mann beobachtete. Gestern habe ich vier verkauft und heute waren es zwei. Das macht elf weniger sechs ... fünf! Es sollten noch fünf da sein, oder habe ich jemanden vergessen mitzuzählen?
Der seltsame Kunde legte die erste Spitze wieder hin und nahm die nächste in die Hand. Er drehte sich zu dem Schaufenster, hielt den Kristall in Augenhöhe und blickte hindurch.
Wahrscheinlich hat mich der Typ derartig durcheinandergebracht, dass ich mich glatt nicht mehr erinnern kann, an wen ich den fehlenden Stein verkauft habe.
Der Typ legte Stein Nummer zwei auf das Tablett zurück und begann Nummer drei zu inspizieren. Er wog ihn zuerst in seiner Hand und führte ihn danach in Augenhöhe, um die Klarheit zu prüfen, wie bei den beiden Vorgängern. Artur kam es so vor, als würde die Narbe an der Wange seines Gegenüber zu glühen beginnen.
Der Kerl hat eine Ausstrahlung wie ein Massenmörder. Was macht so einer mit einem Bergkristall. Was hat der Typ überhaupt mit Mineralien zu schaffen. Ich hoffe er verlässt bald mein Geschäft, sonst muss ich mich übergeben.
Der Mann war so sehr in die Begutachtung der Bergkristallspitzen vertieft, dass er nicht merkte, wie er von Artur unter die Lupe genommen wurde. Er griff nach dem letzten Stein und unterzog diesen der gleichen Prüfung.
Groß, kräftig, braungebrannt, ein richtiger Macho, der die Frauen mit seinen Muskeln beeindrucken möchte. Ein richtiger Fiesling. Grob, unfreundlich, äußerst unsympathisches Auftreten und eine Aura, die einem das Fürchten lehrt. Was veranlasst so einen Menschen einen Bergkristall zu kaufen?
„Den hier nehme ich“, riss der Fiesling Artur abermals unsanft aus den Gedanken. „Was habe ich zu bezahlen?“ Der Kunde zeigte auf den allerersten Stein, den er betrachtet hatte.
So ist es meistens! Artur hatte die Erfahrung gemacht, dass die Menschen instinktiv diejenigen Dinge zuerst in die Hand nahmen, für die sie sich schlussendlich entschieden. Artur nannte ihm den Preis, und der Mann zog, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Bündel mit Geldscheinen aus der Hosentasche, öffnete die Spange, die die Scheine zusammenhielt und knallte den abgezählten Betrag auf die Theke.
„Ihre Preise sind ganz schön gepfeffert“, bemerkte der Kunde.
Trotz des rhetorischen Protestes, was den Preis betraf, blieb die Stimme des unsympathischen Einkäufers ungewöhnlich sachlich, wodurch Artur zu der Überzeugung gelangte, dass durch den Erwerb des Kristalls der Druck, unter dem der Kunde gestanden hatte, offenbar nachgelassen hatte.
Ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch! Artur erinnerte sich wieder daran, was er gedacht hatte, als der Mann sein Geschäft betreten hatte.
„Auf Wiedersehen!“, verabschiedete sich dieser unerwartet höflich. „Und einen schönen Tag wünsch ich noch.“
„Gleichfalls“, erwiderte Artur verdutzt, „Auf Wiedersehen!“
Der Fiesling hatte tatsächlich gelächelt.
Er hat gegrinst. Das war kein Lächeln!
Das Glöckchen bimmelte. Der Mann zog von außen die Tür zu. Und Artur fiel ein Stein vom Herzen. Er war fort. Artur nahm das Geld von der Theke und verstaute es in der Kassa. Dann nahm er die Unterlage, auf der die verbliebenen drei Kristalle nebeneinander lagen wie neugeborene Drillinge und trug sie zum Schaufenster zurück. Er deponierte sie an der vorgesehenen Stelle und öffnete die Tür, um frische Luft herein zu lassen. Danach trat er hinaus auf den Gehweg, blieb vor der Eingangstüre stehen, schloss die Augen und spürte die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Zufrieden sog er die warme Sommerluft durch die Nase ein. Er versuchte die Erinnerung an den unangenehmen Käufer zu verdrängen. Auch an den verschollenen Stein verschwendete er keinen Gedanken mehr, wenngleich er noch am selben Tag einen weiteren verkaufte.
4.
Zu Mittag machte Artur seinen Laden dicht und startete ins Wochenende. Am Montagmorgen ließ er eine Stunde später als üblich, die rubinroten Rollläden zum allerletzten Mal in die Höhe gleiten. Der Tag gestaltete sich ziemlich ruhig, immerhin war Ferienzeit und der Montag immer einer der schwächsten Verkaufstage, dennoch setzte er noch einen der Bergkristall-Rohspitzen ab, sodass ihm nur noch eine letzte übrig blieb.
Nach der Ladenschlusszeit blieb er noch lange in seinem kleinen Büro, einer Kammer, die kaum größer als die Toilette nebenan war, sitzen und schlief erschöpft über der Monatsabrechnung ein, ohne zu bemerken, dass sich die Welt um ihn herum zu verändern begann. Eine Verwandlung, die wahrscheinlich auch seinem Leben eine neue Richtung gegeben hätte, wenn er am nächsten Morgen vor das Geschäft getreten wäre und den neu angebrochenen Tag erlebt hätte. Doch er bekam unerwarteten Besuch.