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Intrada Dur oder Moll

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Ich bin jetzt!

Ich bin hier!

Ich bin Ich!

Das allein ist meine Schuld!

So lautet der Refrain des 2006 von dem Musikerduo Rosenstolz veröffentlichten Liedes »Ich bin ich«, das in der deutschsprachigen Welt sehr erfolgreich war. Der Titel gab einer Stimmung, einem Lebensgefühl Ausdruck, mit dem sich junge Menschen identifizieren konnten. Die etwas älteren konnten in ihnen eine Antwort auf die in ihrer Jugend, 1976, von der ikonischen Pop-Band The Who gestellte Frage »Who Are You?« erkennen – ebenfalls der Titel eines Liedes:

Who are you?

Who, who, who, who?

Who are you?

Who, who, who, who?

Who are you?

Who, who, who, who?

Who are you?

Who, who, who, who?

Natürlich war es nicht ein Geistesblitz, der den Songschreibern 2006 endlich die tautologische Antwort eingab. Vielmehr deuten die beiden Titel darauf hin, dass die von The Who gestellte Frage nach dem Ich die Menschen eine Generation später immer noch umtrieb. Sie beschäftigt uns auch heute, vielleicht mehr denn je, aber es wäre voreilig, sie als eine ewige Frage betrachten zu wollen.

Zwar ist das Streben nach Selbsterkenntnis seit der griechischen Antike ein Eckpfeiler westlichen Denkens, und immer wieder haben Philosophen sich damit beschäftigt, um eine tragfähige Erkenntnistheorie zu entwickeln, die erklärt, wie der Mensch wissen kann. Das hat jedoch in der Regel die meisten nicht weiter beunruhigt, geschweige denn dazu veranlasst, entschuldigend darauf hinzuweisen, dass sie eben sie (selbst) seien: »Das allein ist meine Schuld!«. Ohne einem Popsong zu viel Bedeutung beizumessen, können wir dennoch festhalten, dass dieser Vers ein Motiv der Thematik intoniert, mit der wir uns hier beschäftigen. Niemand ist schuld daran, so zu sein, wie er oder sie ist. Im Gegenteil, zum »Sich-selbst-sein« darf man nicht nur, sondern soll man sich bekennen, ohne Schuld oder Scham. Auf den folgenden Seiten wird sich zeigen, dass nur die westliche Moderne den geistigen Rahmen bietet, der eine solche Idee sinnvoll erscheinen lässt und dass die Ausfüllung dieses Rahmens bis in die Populärkultur gesickert ist. Um die konkrete Realisierung dieser Idee wird gerungen. Es geht um Identität, darum, was darunter zu verstehen ist und was sie für unser Leben bedeuten soll. Die Musik hilft uns dabei.

Wer feierte auf Demonstrationen in Wien im Mai 2019 den zwanzig Jahre alten Hit »We are going to Ibiza« der niederländischen Vengaboys? Wer liebt Anna Netrebko? Wer geht durch die Straßen mit aufgesetzten Kopfhörern, aus denen Gangsta Rap tönt? Was für eine Musik schlägt uns entgegen, wenn wir ein griechisches Restaurant betreten? Wie hoch war das Durchschnittsalter des Publikums beim letzten Konzert der Rolling Stones? Wer kann sich für Blasmusik begeistern? Und wer lässt freiwillig XYZ-Musik über sich ergehen? Hier mögen die geneigten Leserinnen und Leser für »XYZ« die von ihnen geschmähte Musikrichtung einsetzen. Ohne große Recherchen anzustellen, können wir diese und ähnliche Fragen beantworten, denn Musikgenres sind mit Gruppen, Subkulturen und Epochen verbunden, von denen wir bestimmte Vorstellungen haben. Wer Hip-Hop hört, trägt keinen geschniegelten Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Niemand verbietet es ihm, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich.

Sage mir, was du hörst, und ich sage dir, wer oder was du bist. Musik lässt uns an Charaktereigenschaften, Alterskohorten, Lebensstile, soziale Schichten, ethnische Gruppen und Nationen denken. Warum das so ist, soll uns weiter nicht beschäftigen, aber wir kommen darauf zurück und benutzen dieses Thema in diesem Buch als Leitmotiv. Denn wie keine andere Kunst appelliert Musik an unser Gefühl mehr als an unseren Verstand, und damit steht sie, wie sich auf den folgenden Seiten zeigen wird, Identität sehr nahe.

Ich, wir und die Anderen

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