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Wenn man in meinem Alter ist, in dem das Ende unmissverständlich vor der Tür steht und die Erinnerung an die eigene Kindheit einem beinahe unwirklich vorkommt, beginnt man – so wie ich es gerade tue – über so vieles nachzudenken. Zum einen, weil man – so wie ich – viel Zeit hat und die Stunden sowohl tags- als auch nachtsüber gefüllt werden wollen und zum anderen, um das übrig gebliebene Gedächtnis bei Laune zu halten. Mein persönliches Gehirnjogging, wenn man es so nennen mag.

Aber vielleicht stelle ich mich erst einmal vor. Ich heiße Salomon, bin stolze 89 Jahre alt und lebe in einem Altenheim. Na ja, wobei sich das „stolze“ eher auf die Zahl an sich beziehen soll und nicht darauf, dass ich stolz bin, so alt geworden zu sein. Oder sollte man das sein? Klar, ich habe viel mitgemacht in meinem Leben … Krieg, bescheidene Kindheit, unzählige Umzüge, persönliche Krisen. Ehrlich gesagt habe ich nicht erwartet so alt zu werden. Zwar hofft man darauf, denn man hat die Hoffnung, dass im Alter alles besser wird und – und das ist der eigentliche Grund, wenn man jung ist – weil man Angst vor dem Tod oder vor dem Sterben an sich hat. Einfach nicht mehr zu sein! So etwas kann man sich nicht vorstellen, vor allem wenn man – wie ich – ums Überleben gekämpft hat.

Aber mit fast 90 Jahren, wenn nichts mehr sicher ist, nicht mal der nächste Atemzug, dann sieht man die Sache mit dem Sterben etwas gelassener. Mit – wie soll ich es sagen – ein wenig Abstand und nüchterner! Ja! Glaubt´s nur – kein Witz. Warum? Also ich denke, wenn man auf so viele Dinge zurückblicken kann, an vieles was nicht schön war – dann beruhigt es mich auch irgendwie, einen Schlussstrich ziehen zu können. Denn die Erinnerungen, in denen man schwelgt, sind mitnichten alle schön. So ganz alleine – meine Frau ist vor 20 Jahren verstorben, die restliche Familie wohnt weiter weg – fehlt jemand, der die Zweifel, die unweigerlich in mir hochsteigen, zerstreut.

Vor allem nachts, wenn ich wieder einmal ab vier Uhr wach und ausgeschlafen in meinem warmen Bett liege, dann schleichen sich die Zweifel an. War ich ein guter Mensch? Was hätte ich besser machen sollen? Würde ich mit dem heutigen Wissen rückblickend alles genau so machen wollen? Was bleibt, wenn ich nicht mehr da bin? Werde ich vergessen werden? Und lauter so Zeug! Diese Gedanken kommen immer wieder auf, auch wenn ich versuche, sie mit schönen Erinnerungen einzudämmen, aber letztlich ist es wie verhext. Ich werde wie von einem Nebel eingehüllt – wälze mich dann hin und her, wühle die Bettdecke auf, schwitze und wimmere vor mich hin, nur um dann einige Stunden später mit feuchten Wangen aus meinen wirren Träumen zu erwachen. Meine Erfahrung hat mich zu der Erkenntnis gebracht, dass ich all diese Fragen, die mein Gehirn für mich bereit hält, nicht beantworten kann. Niemand kann das, denke ich. Denn woher sollte ich das wissen?

Mittlerweile glaube ich, dass die Selbstreflexion nur Trug ist. Vielleicht unbewusst gesteuert, zu einem Zweck, der sich mir noch nicht erschlossen hat. Möglicherweise, weil Menschen ein schlechtes Gewissen kennen, gerne an sich zweifeln und nicht selbstbewusst genug sind. Und auch, weil wir hoffen, dass wir dann trotzdem etwas zurücklassen werden. Dass wir nicht zu einem von vielen werden, die nicht mehr da sind.

Gerne hätte ich nach diesen Nächten jemanden bei mir, der mich wortlos versteht und einfach nur meine Hand tätschelt und mir sagt, dass sich mir keine Sorgen zu machen brauchen, weil alles gut ist, so wie es ist. Stattdessen schlage ich langsam meine Bettdecke zur Seite, richte mich auf. Meine dünnen Unterschenkel mit dicken Wollsocken an den Füßen hängen am Bettrand herunter. Ich betrachte sie eine Weile, damit der leichte Schwindel in meinem Kopf sich legt. Keine Ahnung was das ist, aber seit einigen Wochen habe ich das schon – geht zum Glück schnell wieder weg – könnte aber gut und gerne darauf verzichten. Ich trinke einen Schluck Wasser, weil meine Kehle vom Mundatmen und Schnarchen total ausgetrocknet ist. Dann greife ich zu meinem Rollator, stecke die Bremsen fest und ziehe mich in die Höhe. Es kracht im Rücken und ich höre, wie es in meinen Knien knirscht. Ich ignoriere es. Noch so eine Eigenschaft, die sich mit fortschreitendem Alter perfektioniert. Ich schätze, das ist reiner Selbstschutz. Dass man selbst Tatsachen ignoriert, weil man sie einfach nicht ändern kann, obwohl man es so gerne täte – vor allem vor Dritten. Das hat zur Folge, dass man darauf nicht aufmerksam gemacht wird. Fast nach dem Motto Seh´ ich dich nicht – siehst du mich nicht. Und das hilft mir persönlich ungemein, mit Peinlichkeiten umzugehen.

Für Elise

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