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Der Große weiße Rabe

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Am Himmel türmten sich rote und gelbe Wolken, die blauen Äste des Baumes verwandelten sich in eine Schaukel, die Meister Goldauge sanft wiegte: vor und zurück, vor und zurück – bis er begann, sich um sich selbst zu drehen und dabei immer dasselbe Lied zu krächzen:

»Rabenkindlein, flieg hinauf,

Rabenkindlein, pass gut auf,

Rabenkindlein, spreiz die Federn,

Rabenkind flieg über Zedern,

Räblein, schwing dich über Eichen,

Räblein, Ulmen musst du weichen,

Tannen, Kiefern, Weidenbäumen,

Darfst den Gruß du nicht versäumen,

Weiche vor den Lärchen stets,

Dass du nicht...«

An der Stelle brach das Lied jedes Mal ab und begann erneut. Doch das machte Goldauge nichts aus. Er genoss es, sich um sich selbst zu drehen, und er genoss den süßen Geschmack von wilden Drachenbeeren auf der Zunge, er lauschte dem Rabenchor, der ganz in der Nähe krähte, auch dem Prickeln auf seiner Stirn lauschte er, das sich anfühlte wie weicher rieselnder Sand. Oder Schnee. Ja, Schnee musste das sein, denn er blitzte auch ganz weiß. Das sah wunderbar aus zwischen den bunten Wolken. Der Wind blähte sein Gefieder und die Schaukel schaukelte und schaukelte und schaukelte ...

Dass der Große weiße Rabe seit einer Weile neben ihm saß und ihn beobachtete, ängstigte Goldauge nicht. Bestimmt war das in Wirklichkeit ein schwarzer Rabe. Auch wenn er mit seinen silbernen Augen ganz genauso aussah wie der Todesbote der Rabenschaft. Goldauge musste lächeln. Er wollte dem Großen weißen Raben etwas zurufen. Aber leider klebte seine Zunge am Gaumen fest und so kam nur ein schwaches Lalala heraus. Wie in dem Lied, dachte Goldauge und lauschte der Melodie, die hier noch irgendwo zu hören sein musste. Doch da war nichts mehr. Das Lied war verklungen. Auch der Rabenchor hatte aufgehört zu krähen. Das war ärgerlich. Vor allem, weil jetzt nicht nur die Wolken, sondern alles weiß und kalt wurde. Dabei war doch eben noch alles so schön gewesen!

Goldauge versuchte, sich zu konzentrieren. Wenn er sich fest vornahm, den großen Raben schwarz zu sehen, dann würde es bestimmt klappen! Tat es aber nicht. Nein. Der Rabe blieb weiß – und er wurde sogar noch größer. Ja, er war beinahe so groß, dass Goldauge meinte, unter seine Schwinge zu passen, er, der königliche Rabe Goldauge! Unter eine dieser Schwingen! Aber dafür waren sie ja auch gemacht, die Schwingen des Großen weißen Raben – die schwarzen Raben unter seine Schwingen und mitzunehmen in das Rabenland auf der anderen Seite der Welt. Dorthin, wo alle Raben allezeit glücklich waren und ...

Goldauge spürte, wie ihm eine Träne aus dem Auge lief. Wenn der Große weiße Rabe ihn nun mitnähme, dann würde er Marius nie wiedersehen! Und Florine auch nicht! Sein wunderbares goldenes Auge wäre nutzlos, er würde auch kein königlicher Rabe mehr sein. Denn dort, wohin ihn der Große weiße Rabe bringen würde, gab es keine Könige und keine Diener mehr, keine Herren und keine Untertanen. Nein, dort auf der anderen Seite der Rabenwelt wäre er tot.

»Es steht nicht gut um Euch«, hörte er eine Stimme leise sagen. Es klang gar nicht schrecklich, vielmehr klang es freundlich, ja beinahe vertraut. »Wir werden diesen Ort verlassen müssen.«

Das Rabenorakel

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